Herr Müller sieht die Welt

Kowalski ihm sein Anglizismus 

Ernesto und ich waren wieder mal mit der Treppenhaus-Reinigung unseres Mietshauses dran. Natürlich ließ es sich Kowalski nicht nehmen, unsere Arbeit zu prüfen und fragte mich bei dieser Gelegenheit, ob es einen Unterschied gäbe zwischen me, myself und I. Eher verblüfft über den Sender der Botschaft, antwortete ich ihm, das würde davon abhängen, wie der semantische oder lexikalische Bezug wäre, in dem sie gebraucht werden würden. Man dürfe sie jedenfalls nicht mit Homonymen oder Homophonen verwechseln, die zwar in ihrer Bedeutung gleich wären, aber in ihrem Klang oder Schriftbild unterschiedlich wären. Befriedigt mit dem Gehörten zog Kowalski von dannen und ging in seine Wohnung. 

Völlig überraschend drehte er sich noch einmal in seiner Wohnungstür um und lud Ernesto und mich zu Kaffee und Kuchen zu sich am Nachmittag ein. Gegen 15 Uhr klingelten wir daher bei Kowalski und wurden von lauter Musik empfangen. Kowalski hatte zum Nachmittagskaffee auch seine Tanzkapelle eingeladen, mit der er gelegentlich zu Hochzeiten und anderen Feiereien zum Tanz lud. Erwartungsschwanger sah Kowalski uns an und erwartete wohl, dass wir uns zum Gehörten äußerten. Als das dann ausblieb, verfinsterte sich seine Miene. Um schnell zum eigentlichen Anlass des Besuchs – zu Kaffee und Kuchen – überzugehen, äußerte ich mich sehr positiv über die Gestaltung seiner Wohnung und Kowalskis Laune war etwas besänftigter. Ganz nebenbei: Die Musik war scheiße, fand ich, aber das ist ja meine persönliche Meinung. 

Das Problem mit Herrn Kowalskis Anglizismen stellte sich erneut, weil er mir jetzt ein Gerät präsentierte, was die Aufschrift (Achtung: Deutsch ausgesprochen!) „Made in Japan“ trug. Er wusste beim besten Willen nicht, was Made hier zu bedeuten hatte, gab sich dann aber mit meiner Erklärung überzeugt zufrieden. Damit war das Problem mit Kowalskis Anglizismen zufriedenstellend gelöst und wir konnten uns jetzt endlich Kaffee und Kuchen widmen. 

Die Verwendung englischsprachiger Begriffe in unserer Sprache klingt zwar neudeutsch oder cool, ist aber für die Kowalskis oder älteren Menschen unserer Gesellschaft irreführend oder missverständlich. Man spricht ja in diesem Zusammenhang gerne von der McDonaldisierung der deutschen Sprache. Stellt sich dann nur die Frage, was für den Benutzer der Big Mac und was der Royal ist. Die Individualisierung der Sprache sollte einem Jeden bewusst sein, auch wenn jede Generation einen bestimmten Duktus in der Sprache hat und bestimmte Begriffe benutzt, um Positives oder Negatives auszudrücken. Aber Anglizismen sollten meiner Meinung nach da bleiben, wo sie hingehören: in den englischsprachigen Ländern dieser Welt. 

Herr Müller sieht die Welt

Händy 

Die Zahl der Telefonzellen nahm rapide ab in den letzten Jahren. Das fiel auch Ernesto auf und er fragte, wie das denn zu erklären sei. Er vermutete, dass entweder alle jetzt eigene Telefonzellen hätten oder – was wahrscheinlicher war – alle jetzt vor allem mit ihren Handys telefonierten. Wie zur Bestätigung zeigte er mir sein Handy, das ein besonderes Foto auf der Oberfläche hatte. Es zeigte nämlich Ernie und ihn im Hinterhof beim gemeinsamen Kaffee und Kuchenessen auf dem Straßenfest. 

Seitdem Ernesto ein eigenes Handy hatte, hing er ständig an selbigem und war für Kommunikation mit mir überhaupt nicht mehr greifbar. Das nervte mich ganz gewaltig! Als dann eines Tages sein Handy ins Klo fiel, war er auf direkte Kommunikation mit mir zurückgeworfen. Ich nutzte die Gelegenheit, um mit ihm mal ein paar Dinge zu vereinbaren. Zum einen nervte mich sehr, dass jegliche Kommunikation nicht mehr stattfand und zum anderen, dass er sich stattdessen mit Ernie am Handy über etwaige Unbill unterhielt. Probleme sind doch aber dazu da, um sie in einem Gespräch direkt mit der betreffenden Person zu lösen und nicht mit Dritten über die betreffende Person in digitalen Medien abzuwettern. 

Der eigentliche Sinn von Telefonen wird durch die neue Art der Kommunikation mit den Handys ad absurdum geführt. Die Kommunikation, um deretwegen man ja eigentlich telefoniert, steht nicht mehr im Mittelpunkt des Telefonierens, also der Benutzung des Telefons. Vielmehr sind die anderen Funktionen des Telefons in den Mittelpunkt der Benutzung gerutscht. Das Telefon wird zum Statussymbol, weil es im besten kantschen Sinne nicht mehr Mittel zum Zweck ist, sondern Selbstzweck. 

Ernesto benutzte sein Handy vor allem als Fotoalbum und eine Vielzahl von Fotos zeigten ihn und Ernie in diversen Lebenssituationen, wobei er größten Wert darauf legte, stets gut getroffen zu sein. Wie Ernie aussah, war ihm relativ egal. 

Wir vereinbarten daraufhin, dass Ernesto jetzt wieder für eine direkte Kommunikation mit mir zur Verfügung stand. Ernesto musste sich an diesen Gedanken erst einmal wieder gewöhnen, fand das aber letztlich doch besser als über ein Medium mit mir zu sprechen. 

Die direkte Kommunikation zwischen zwei Menschen eröffnet beiden ungeahnte Möglichkeiten! Probieren Sie es mal aus, es lohnt sich meistens! Wenn nicht, sagen Sie mir bitte Bescheid. 

Herr Müller sieht die Welt

Weihnachten bei Ernesto 

Genau wie ich liebte Ernesto Weihnachts-Knabbereien, aber im Gegensatz zu mir genoss er diese auch ohne Kaffee. Hauptsache, er konnte Lebkuchen essen. Ernesto hatte beschlossen, dass anstelle eines Adventskranzes auf seinem Panzer jeden Sonntag eine neue Adventskerze angezündet werden sollte, natürlich nur für den jeweiligen Tag. Das Bild von einer Schildkröte mit vier brennenden Kerzen auf dem Panzer stellte ich mir lustig vor, aber noch war es ja auch Zeit bis zum 4. Advent. 

Als es dann so weit war, stellte sich vor allem das Schmücken des Baumes als Problem heraus. Ernesto und ich hatten völlig gegensätzliche Ansichten über das ausgewogene Schmücken eines Baumes. Ernesto wollte Lametta und Elektrokerzen, ich wollte dagegen möglichst viele Strohsterne, Holzanhänger und echte Kerzen. Auch bei der Auswahl des Stollens waren wir geteilter Meinung. Ich mochte Rosinen, er nicht. Einig waren wir in der Abneigung von Dominosteinen, diese fanden wir beide eklig. 

Wir beschlossen, den Tannenbaum zu teilen. Für die eine Hälfte des Schmückens war Ernesto zuständig, für die andere Hälfte ich. Die innerdeutsche Staatsgrenze war nichts gegen den geteilten Weihnachtsbaum von Ernesto und mir. Bis auf die Tatsache, dass er über keinerlei Selbstschussanlagen verfügte, war die Teilung schon sehr offensichtlich. Selbst ein Blinder konnte sehen, dass in diesem Haushalt wohl zwei gegensätzliche Lebewesen lebten. Nie hätte ich gedacht, dass Weihnachten zu solchen Zwistigkeiten führen könnte. Aber wie ich schon von so manchem hörte, ist gerade das Fest der Stille Anlass für so manchen Streit. 

Der nächste Punkt, über den wir uns einig werden mussten, war das Weihnachtsessen. Ernesto wollte Würstchen und Kartoffelsalat, mir war das zu profan. Mir stand mehr der Sinn nach Braten, Rotkohl und Klößen. Unser ortsansässiger Bio-Bauer hatte noch zwei Gänsebraten zur Verfügung. Wir mussten uns also beeilen, um noch einen zu erhaschen. Nachdem wir einen der Braten noch ergattern konnten, konnte ich Ernesto von der Schmackhaftigkeit dieses Festmahls mit Rotkohl und Klößen überzeugen. 

Ernie und Bert waren hoch erfreut, gemeinsam mit ihrem Anhang zu unserem Weihnachtsessen zu kommen. Nachdem alle gesättigt waren, mehr oder weniger glücklich über ihre Geschenke – Ernie bekam von Ernesto ein Terraband, um sich körperlich ertüchtigen zu können – sang Ernesto zu unser aller Begeisterung Weihnachtslieder begleitet mit seiner Spezialgitarre. Den Abschluss des Abends bildeten Glühwein und Punsch, der von uns in vollen Zügen genossen wurde. 

Fröhliche und besinnliche Weihnachtstage wünschen euch Herr Müller und Ernesto! 

Herr Müller sieht die Welt

Schnecken 

Völlig außer Atem vor Aufregung erzählte Ernesto mir eines Tages begeistert davon, dass er nicht das langsamste Tier im Tierreich sei. Er habe jetzt Schnecken entdeckt und die seien viiieeel langsamer als Schildkröten. Außerdem berichtete er, dass sie immer so eine Schleimspur hinterlassen würden, die fand Ernesto ziemlich eklig. Sein Versuch, mal eine Schnecke zu einem Wettrennen herauszufordern, blieb bisher unbeantwortet, aber vielleicht findet sich ja noch ein Gegner. 

Den Witz mit der Schnecke auf der Schildkröte, die sich zum Ausruf „Hui!“ hinreißen lässt, fand Ernest gar nicht witzig, wo wir bei der Relativität von Geschwindigkeit wären. Was für Schnecken normale Geschwindigkeit ist, ist für Schildkröten wirklich langsam. Also fragt sich dann, wie schnell die Geschwindigkeit von Menschen für Schildkröten und Schnecken wirken musste. 

Das Sprichwort In der Ruhe liegt die Kraft konnte Ernesto nur bedingt unterschreiben, da er schon ein eher langsamer Zeitgenosse war. Das Sprichwort macht ja nur dann Sinn, wenn man die Wahl hat, ob etwas schnell oder langsam geht. Und das mit dem Schleim: Darauf konnte er getrost verzichten. Das wurde ja auch im Sprichwort nicht erwähnt. 

Trotzdem ließ es mich als Angehörigen der schnelleren Spezies mal darüber nachdenken, dass Schnelligkeit nicht das Gebot der Stunde sein kann und auch gar nicht sein sollte. Was mir gar nicht bewusst war: Mit Schnelligkeit schließt man von der Beteiligung einige Menschen aus. Zum einen wird Schnelligkeit häufig als Hektik interpretiert, zum anderen können eben viele Menschen nicht mehr so schnell reagieren wie gefordert. Das heißt aber nicht, dass sie nicht mental teilnehmen oder den Gedanken nicht nachvollziehen können. Ernesto war ja der Ansicht, es sei besser, Dinge mit Bedacht anzugehen. Das hieß nicht, sie langsamer zu erledigen, sondern stets über das zu Tuende nachzudenken, um dann zu einer wohl durchdachten Tat zu schreiten. 

Mir fiel zu dem Wettrennen zwischen Schildkröte und Schnecke noch die berühmte Parabel vom Wettrennen zwischen Hase und Igel ein. Um Ernesto ein ähnliches Schicksal zu ersparen wie dem Hasen in der Parabel, schlug ich ihm vor, sich niemals auf ein Rennen mit einer Schnecke einzulassen, da diese in unseren Breiten im Zweifelsfall über mehr Artgenossen verfügte als Schildkröten. Natürlich hörte Ernesto nicht auf mich und nahm ein Rennen mit einer Schnecke an. Mit Stirnband bewaffnet erwartete er den Tag des großen Rennens. Meine Aufgabe war es, ihn während des Rennens mit ausreichend Flüssigkeit zu versorgen. Als Rennstrecke war unser Hinterhof ausgewählt worden. Entgegen meiner Befürchtung gewann Ernesto das Rennen, wenn auch nur knapp. Zur Belohnung gab es von mir dann diesmal ein Siegeressen. 

Auch wenn Ernesto gewann, Schnelligkeit ist dennoch oft nicht das anzustrebende Ziel, sondern die Qualität und die Absicht der Handlung sind entscheidend. 

Herr Müller sieht die Welt

150 % 

Ein volles Glas entspräche 100%, so erklärte ich Ernesto, was 100% sind. Mehr als 100% könne es eigentlich nicht geben. Ernesto stutzte und fragte mich, wie es dann käme, dass viele Menschen 150% von ihrer Leistung geben wollten. Seiner Anmerkung, „Das geht ja gar nicht“, konnte ich schwerlich widersprechen. Meine Erklärung, dass diese Menschen ihre Leistung übererfüllen wollen, diente zur Erklärung für ihn und mich. 150% würde aber am Beispiel des Glases immer ein Fußbad einschließen. Um bei den Menschen zu bleiben, wollen diese damit anzeigen, dass sie bereit sind, vollen Einsatz zu zeigen. Wenn sie aber mehr geben als sie dazu in der Lage sind über einen längeren Zeitraum, fragt sich die Fachwelt, wie lange das für den betreffenden Menschen gut gehen kann. Die Subjektivität der Aussage wird offenkundig, weil nicht klar ist, was genau 100% sind. Somit ist auch die Aussage, 150% geben zu wollen, subjektiv. 

Am Beispiel des Glases wären 100% für Ernesto schon die Fähigkeit, das Glas mit Wasser zu füllen. Wie soll denn eine Schildkröte das Glas befüllen? Ernesto versuchte daraufhin natürlich, ein Glas zu befüllen. Er stellte aber fest, dass es für ihn unmöglich war. Es zeigte sich, dass die 100% für den einen selbstverständlich, für den anderen unmöglich waren. Es lässt sich also keine allgemein gültige Aussage treffen, was bereits 100% waren. Die 100% müssen also demnach intra-individuell bestimmt werden (so viel zum Thema Lernzielkontrollen – eine Anmerkung des Autors – Es macht demnach wenig Sinn, zwischen den Individuen zu vergleichen, sondern innerhalb eines Individuums zu schauen, wo der Lernfortschritt liegt.). 

Ernesto musste nach so vielen Gesprächen über Flüssigkeiten erstmal dringend auf`s Klo. Ernesto kam völlig zufrieden vom Klo zurück und sagte, er habe 100% gegeben. Die Füllmenge der Blase ist individuell verschieden. Die 100%, die Ernesto gab, waren also seine individuelle Blasen-Füllmenge, mehr ging nicht. 

Wieder bezogen auf die Füllmenge des Glases, würde es also wenig Sinn machen, diese zu erhöhen genauso wie die Blasengröße, da sie für jedes Lebewesen festgelegt ist. 

Es wird also deutlich, dass 150% zwar nett gemeint sind, aber in der Realität nicht gehen. 100% ist bereits das Maximum der Leistung eines Lebewesens. Die sollten angestrebt werden, sie jedes Mal zu erreichen wäre aber auch übermenschlich und auf lange Sicht auch gar nicht erstrebenswert. 

Herr Müller sieht die Welt

Banane 

Südfrüchte sind ja lecker. Gerade Bananen, obwohl sie zur Trennlinie zwischen West und Ost wurden. In Westdeutschland gehörten sie zum generellen Obstangebot im Supermarkt, in Ostdeutschland eher nicht. Von der CO2-Bilanz von Südfrüchten reden wir jetzt mal nicht. 

Dass Südfrüchte die Trennung der deutschen Staatsgrenze manifestierten, hätten sich die Oberen damals auch nicht träumen lassen. Ananas und Melonen waren ja auch eher staatstragend, da sich an ihnen die innerdeutsche Staatsgrenze weniger manifestierte als an Bananen. Trotzdem schmecken sie heute Ernesto sehr gut, auch wenn ihm die Historie von Bananen im innerdeutschen Zusammenleben völlig wurscht war. 

Ernesto liebte Bananen und konnte nicht genug von ihnen bekommen. Auch wenn es für ihn schwierig war, sie zu schälen, freute er sich doch, wenn er von mir ein Stück Banane bekam. Ich kam mir dann immer ein wenig vor wie im Zoo bei der Fütterung. 

Endgültig salonfähig wurden Bananen durch das Bild von Andy Warhol, das dann The Velvet Underground als Platten-Cover nutzte. Die Banane war nicht mehr nur ein herkömmliches Obst, sondern zur Kunstfrucht geadelt worden. Josephine Bakers Rock zu Ehren der Banane – wenn auch ein paar Jahre vorher – war endgültig vom Zeitgeist eingeholt worden. Bananen durften nicht nur schmecken, sondern waren auch Kunst und Gegenstand, um Gegenwertigkeit auszudrücken, mit der sich die Menschen auseinandersetzten. Die Vergänglichkeit des Gegenwärtigen wird einem angesichts der Bananen deutlich: Kaum ist sie da, ist sie dann auch schon gegessen. Nur Obacht mit der Schale! Diese sollte in den dafür vorgesehenen Behältern entsorgt werden. Schade eigentlich, dass sich Bananen-Pflanzen so schlecht als Christbaum eignen. Ihr Wachstum in Stauden macht ein Behängen mit Schmuck nahezu unmöglich. 

Zurück zum Anfang der Geschichte: Die oft verkannte CO2-Bilanz von Südfrüchten sollte einem Anlass zum Innehalten geben. Genau wie bei Fleisch ist auch hier die Umweltbelastung durch den Transport ziemlich hoch und sollte einen wieder zurück zum Genuss von einheimischem Obst führen. Trotz dem Bananen eine schlechte CO2-Bilanz aufweisen, konnte Ernesto nicht ganz darauf verzichten, nur die Menge reduzierten wir. 

In diesem Sinne: Alles Banane! 

Herr Müller sieht die Welt

Achterbahn 

Am letzten Wochenende waren wir in einem Freizeitpark bei uns in der Nähe. Nachdem wir geklärt hatten, wo es hingehen sollte – die Auswahl an Freizeitparks ist ja recht umfangreich – konnte unsere Reise starten. Zum Glück mussten wir nicht allzu weit fahren. 

Ernesto fuhr im Gegensatz zu mir gerne Achterbahn. Ich merkte bereits nach der ersten Fahrt, dass das nichts für mich war. Je schlechter ich mich fühlte, desto besser gefiel es Ernesto. Da er in meiner Brusttasche mitfuhr, musste also ein passender Ersatz gefunden werden mit Hemd oder entsprechendem Pulli mit Brusttasche. Wir konnten ja nicht erwarten, dass die Achterbahn extra für Ernesto umgebaut wurde. Gott sei Dank stand in der Schlange der Freizeitpark-Besucher ein freundlicher, junger Mann, der bereit war, Ernesto in seiner Brusttasche mitzunehmen. Damit Ernesto auch in Loopings einen sicheren Platz hatte, musste die Brusttasche mit einem Knopf oder Reißverschluss gesichert werden. Nachdem die sichere Verwahrung von Ernesto geklärt war, konnte es also losgehen. 

Die beiden – Ernesto und sein Mitfahrer – stellten sich in der Schlange der Achterbahnwilligen an und erwarteten ihr Glück. Leider raste genau in diesem Moment ein Zuckerwatte Verkäufer mit seinem Lastenrad genau in die Schlange der Achterbahnerwartenden, sodass Ernesto und sein Mitfahrer noch einmal auf ihr Glück warten mussten. Nach immerhin zwei Stunden, in denen die Verletzten beiseite geräumt wurden, ging es dann endlich mit dem Achterbahnbetrieb für die beiden los. 

Wider Erwarten hatte Ernesto schon nach drei Runden genug. Das lag zum einen am Achselgeruch seines Mitfahrers, zum anderen daran, dass ihm dann drei Runden pures Adrenalin doch genug waren. Er beschloss daraufhin, dass er dann lieber mit mir eine Runde Autoscooter fahren wollte. Er merkte, dass das dann doch eher Seins war. Er setzte seine Sonnenbrille auf, lehnte sich mit einer Pfote cool aus dem Auto und zog seine Sonnenbrille ins Gesicht. Los ging die wilde Fahrt! 

Kein anderes Auto war vor Ernesto und seiner mutwilligen Kollisionsfreude mehr sicher. Mit der Sonnenbrille ähnelte er stark den Blues Brothers. Von mir darauf angesprochen, leugnete er aber jegliche Absichten. Auch hier war die Bodennähe das entscheidende Kriterium der Fahrgeschäfte. Für Höhe muss man halt gemacht sein und das Leben als solches ist ja schon Achterbahnfahrt genug. 

Herr Müller sieht die Welt

Zeitung 

Jeden Morgen saßen wir am Frühstückstisch mit der Zeitung und informierten uns über die Geschehnisse in der Welt. 

Dabei hatten wir ein Problem: Immer genau das, was ich lesen wollte, wollte Ernesto auch lesen. Unser Streit kulminierte in dem Wunsch nach dem Sportteil. Erst mit der Umstellung auf ein E-Paper konnte das Problem gelöst werden. Jeder von uns konnte so jederzeit das lesen, was er wollte. Anstrengend war nur, dass Ernesto mir permanent erzählen wollte, was er gerade gelesen hatte, sodass ich in meinem Lesen immer gestört wurde. Aber im Laufe der Zeit hatten wir das Problem dahingehend gelöst, dass wir zunächst beide die Zeitung lasen und uns anschließend über das Gelesene unterhielten. Die Todes- und Kleinanzeigen waren für uns beide von Interesse, wobei Ernesto eher die Kleinanzeigen interessierten und mich die Todesanzeigen, um zu wissen, wer gestorben war. 

Verwundert über die Geschehnisse auf der Welt unterhielten wir uns also über das Gelesene. Verwundert deswegen, weil es immer wieder erstaunlich war, wie wenig die Menschheit in der Lage ist, ihre Umwelt schön zu gestalten. Kriege an jeder Ecke und die Menschheit wird nicht schlauer daraus, dass Krieg eben keine Lösung für Konflikte ist. Ernesto war über das Verhalten von Menschen immer wieder sehr verwundert, da Schildkröten ihre Konflikte zwar langsamer, aber auch friedlicher lösten. Das Menschsein erfordert oft das Innehalten, von daher sollten sich viele Menschen mal bewusst machen, dass gerade in der Ruhe die Kraft liegt, also sie erst denken, dann handeln sollten, auch wenn Geduld nicht Jedermanns Stärke ist. Ich spreche da aus eigener, leidvoller Erfahrung. 

Um das Bild des Menschen zu verbessern – nicht, dass ihr denkt, dass ich nur Negatives denke – sei hier angemerkt, dass es in der Zeitung natürlich auch positive Meldungen gibt. So zum Beispiel auch von Menschen, die anderen uneigennützig helfen. Besonders erwähnenswert sind an dieser Stelle Feuerwehr, Polizei und Rettungskräfte, deren Einsatz leider viel zu selten eine Notiz findet. Gerade Schildkröten können oft ein Lied davon singen, da sie oft genug auf Hilfe anderer angewiesen sind. Zum Beispiel, wenn sie auf dem Rücken liegen oder Türklinken benutzen müssen. Das Problem mit den Türklinken hatten wir in unserer Wohnung fast nicht mehr, da wir sämtliche Türen (bis auf Wohnungs- und Toilettentür) ausgebaut hatten. 

Zeitunglesen ist für Menschen und Schildkröten nach wie vor das ideale Medium und die soziale Funktion von Zeitung wird durch die Bereicherung an unserem Frühstückstisch deutlich. 

Herr Müller sieht die Welt

Der Zoobesuch 

Es war mal wieder Sonntag und Ernesto und ich überlegten, was wir mal anstellen konnten. Ernesto schlug vor, seine Verwandten im Zoo zu besuchen. 

Gesagt, getan. Wir fuhren mit der Straßenbahn zum Zoo. Ernesto fuhr wie immer in der Brusttasche meines Hemdes mit. Im Zoo angekommen, gingen wir gleich zum Reptilienhaus, um den Verwandtschaftsbesuch zu starten. Ernesto fand allerdings das bloße Anschauen der Verwandtschaft im Zoo langweilig. Er attestierte, dass diese wohl durch das Leben im Zoo hinter Glas relativ degeneriert waren. Daraufhin gingen wir weiter zum Raubtiergehege, das Ernesto schon spannender fand, auch wenn ihm auch hier die Authentizität fehlte. Die Raubtiere reagierten überhaupt nicht auf Ernesto, seine Existenz wurde von ihnen überhaupt nicht wahrgenommen. Das frustrierte ihn sehr. 

Auch der anschließende Besuch im Zoorestaurant war dann kaum noch ein Stimmungsaufheller für Ernesto. Nur die dort gekauften Gummibärchen erhellten seine Laune. Seine Überlegung, ein eigenes Gehege mit Gummibärchen zu gestalten, wurde von ihm selbst schnell wieder verworfen, weil er zu großen Schwund befürchtete, da diese zu schnell von Mitarbeitern und Besuchern aufgegessen werden würden. Dennoch war seine Idee, Gummibärchen in verschiedenen Lebenssituationen zu zeigen, doch sehr interessant. Das Problem, dass Gummibärchen bei Wind ständig umfielen, musste von ihm allerdings noch gelöst werden, bevor sein Projekt in die Realität umgesetzt werden konnte. 

Die Tatsache, dass lebendige Tiere im Zoo gehalten wurden, fand er relativ doof. Er überlegte spontan, eine Demo zu organisieren, die dies anprangerte. Wir fuhren zunächst nach Hause, um Plakate für die Demo zu malen. Mit Plakaten und Trillerpfeife wollte er auf sich aufmerksam machen. Das Mietshaus inklusive Ernie und Bert waren schnell als Mitdemonstranten aktiviert. Die Polizei guckte relativ belustigt, als sie hörte, dass ein kleiner Demonstrationszug vor dem Zoo aufmarschieren wollte. Dennoch wurde auch diese Demo von einigen Beamten abgesichert. Sie hätten in der Zeit auch Kaffee trinken gehen können, da es keinerlei Unruhen gab und auch nicht zu erwarten waren. Die Idee von Ernesto, sich zu vermummen, wurde ihm dann von mir ausgeredet, da im Zusammenhang mit seiner Bepanzerung sein Outfit dann doch zu martialisch war. 

Beseelt von der Zusage des Fotografen, das Foto in der Zeitung abzudrucken, gingen wir dann nach Hause. Die Reaktionen auf den Zeitungsartikel ließ Ernesto mit seinem Kampf fortfahren für größere Freiräume der Tiere. 

Herr Müller sieht die Welt

Sitzheizung 

Unser neues Auto verfügte jetzt über eine Sitzheizung. Mein zu anfangs bestehendes Problem mit dem Gefühl der permanenten Inkontinenz hatte sich schnell wieder gelegt, aber ungewohnt war es schon. So ein vorgewärmter Sitz ist für den Popo schon was Feines. Auch Ernesto gefiel es gut, auf dem vorgewärmten Sitz Platz zu nehmen. Nur zu große Hitze brauchte er nicht, aber das ließ sich ja Gott sei Dank durch Herunterregeln der Sitzheizung verhindern. Gerade bei Minustemperaturen wurde sie von uns hochgeschätzt. Aus der Eiseskälte sich in einen warmen Sitz fallen zu lassen, war für uns beide sehr angenehm. 

Ernesto war es ja gewohnt, weil er oft in meiner Brusttasche umhergetragen wurde, dass seine Umwelt angenehm warm war. Aber genau deswegen war eine zu große Hitze auch für ihn unangenehm. 

Das Leben so in Körpernähe brachte aber auch den Nachteil, dass kühle Winde ihn selten erreichten und anpusten meinerseits half teilweise, aber angesichts meines manchmal vorhandenen Mundgeruchs nur unter größtem Protest von Ernesto. Am wohlsten fühlte sich Ernesto im kühlenden Wind am besten eines Meeres, ob Nord- oder Ostsee war ihm egal, da war er nicht so wählerisch. 

Da ein kühler Wind nicht so schnell von mir herbeigezaubert werden konnte, musste sich Ernesto durch Herunterlassen der Scheiben vom Fahrtwind abkühlen lassen. Doch bei Regenwetter weigerte ich mich, die Fenster zu öffnen. Da unsere Polster nicht wasserabweisend waren, mussten wir schnell eine Lösung für Ernesto finden. Diese wurde von mir gefunden, indem Ernesto auf dem von mir installierten Dachgepäckträger platznahm. Da konnte er auch seine Sturmhaube aus dem 1. Weltkrieg und seine Taucherbrille aufsetzen, um gegen entgegenkommende Insekten geschützt zu sein. Um gegen die Gefahr des Wegfliegens gesichert zu sein, wurde er von mir festgebunden. Er genoss die Möglichkeit, von der frischen Luft umweht zu werden. 

So eine Schildkröte auf dem Dach war schon ein ganz besonderes Extra. Viele Leute grüßten freundlich, wenn sie Ernesto kommen sahen. Die Ausflüge mit dem Auto waren im Sommer eine hochgeschätzte Möglichkeit, mal wieder rauszukommen und die Sommerluft zu genießen. Wir besuchten viele Freunde und Bekannte und gelegentlich auch mal unseren Lieblings-Badesee, damit Ernestos Gefühl von Freiheit größtmöglich wurde, schwammen wir dann ein, zwei Runden durch den See und kehrten dann nach Hause zurück. 

Die Sitzheizung war dennoch in den Wintermonaten ein gerne benutztes Extra von uns beiden.