Herr Müller sieht die Welt

Ernesto und die KI 

Ernesto hatte von KI gehört und wollte von mir wissen, ob es auch für ihn infrage käme. Ähnlich wie Computer verlange die KI vom Benutzer, neudeutsch User, eine gewisse Grundintelligenz, weil ohne diese gehe auch hier gar nichts, erklärte ich ihm. 

Ernesto war grundmotiviert für die Benutzung der KI, war er doch davon überzeugt, dass die KI ihm dann erst recht eine große Hilfe sein konnte, bei was auch immer. Er hatte aber nicht bedacht, dass KI nicht für Schildkröten gemacht ist. Der Panzer und die doch recht kurzen Extremitäten machten seine Anfragen relativ unbrauchbar für Schildkröten, da die KI mit Schildkröten als User nicht rechnete. KI und Schildkröten passten einfach nicht zusammen, um es mi den Worten eines großen deutschen Humoristen auszudrücken. Ernestos Verlangen nach KI gipfelte in dem Wunsch, dass die KI alle Wünsche einer Schildkröte berücksichtigen können sollte. 

So kam es, dass Ernesto einen geharnischten Brief an Microsoft schrieb, in dem er verlangte, dass endlich auch mal Schildkröten als User in deren Software Berücksichtigung fanden. Außerdem schlug Ernesto vor, als Kontrapunkt zu Apple das Firmenlogo der Tomate zu wählen, weil er diese ja für sein Leben gerne aß und er fand, dass Tomaten viel zu wenig Beachtung fanden in dieser Welt. Dabei müsse ein Bewusstsein, welche Rolle Tomaten in dieser Welt spielten, geschaffen werden. Microsoft sei – ähnlich wie die Tomate – ein unentbehrlicher Bestandteil des Lebens, so sein Argument. Außerdem verwies er darauf, dass gerade Schildkröten als User für ein Unternehmen wie Microsoft von Bedeutung seien, da sie viele neue Techniken benutzten und somit für sie ein interessanter Absatzmarkt wären. 

Wider meines Erwartens antwortete Microsoft umgehend und verwies darauf, dass Schildkröten als User ihre Software bisher doch eher seltener nutzen wollten, sodass Ernesto mit seinen Ideen doch eher zu einer Randgruppe gehören würde. Seine Ideen fanden sie trotzdem bedenkenswert und versprachen daher, diese zukünftig in ihre Überlegungen mit einzubeziehen. Das Tomaten-Logo war ihnen jedoch zu nah am Apfel, sodass Ernestos Vorschlag hier kein Gehör fand. 

Das Antwortschreiben von Microsoft führte dazu, dass Ernesto zunächst einige Tage über dem Erdboden zu schweben schien, aber nachdem er dann von mir auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt wurde und eine Ausbildung im Silicon Valley nicht mehr als das anzustrebende Ziel sah, lebte er wieder zufrieden und glücklich im Hier und Jetzt. Nicht zuletzt half dabei ein Abendbrot mit Tomate und Salat an unserem Küchentisch. 

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Rucksack 

Ernesto wollte zukünftig auf unseren Wanderungen gerne die Brotzeiten selber transportieren. Leider war ein Rucksack bisher für ihn schwer zu tragen, da dieser ihm immer auf den Kopf rutschte. Nach mehreren Versuchen mit Geldgürteln, die um seinen Panzer gespannt waren, stellten wir schnell fest, dass alleine das Volumen des Rucksacks nur vom selbigen erreicht werden konnte. Jetzt musste also das Problem der Befestigung des Rucksacks am Panzer gelöst werden, ohne dass ihm selbiger ständig auf den Kopf rutschte. 

Spanngurte konnten eine Lösung sein, zumindest halfen sie bei der Befestigung des Rucksacks, wenn auch nicht direkt am Panzer, sondern indirekt an den Spanngurten. Die Spanngurte wurden um den Panzer gewickelt, festgezurrt und dann der Rucksack an ihnen befestigt, aber eben am hinteren Teil des Panzers, sodass Ernesto der Rucksack dann eben nicht mehr auf den Kopf rutschen konnte. Trotzdem blieb die Füllmenge des Rucksacks relativ begrenzt. Da dieses Problem nicht behoben werden konnte, blieb das meiste zu Transportierende dann doch an mir hängen. 

Bei unserem nächsten Ausflug trug Ernesto dann kleine Getränkeflaschen. Schnell merkten wir, dass große Flaschen doch von mir getragen werden mussten. Getränke nur in Flachmanngröße waren nicht immer hilfreich bzw. wollten wir durch Betrunkensein nicht zu sehr auffallen. Brotzeiten und ganze Würste passten nicht in Ernestos Rucksack, von daher war die ganze Aktion relativ für die Tonne, auch wenn Ernesto selber darum bemüht war, mich zu entlasten, war es ihm so nur bedingt möglich. 

Meine abschließende Idee zu dem Thema war noch, Ernesto einen Bollerwagen ziehen zu lassen, in dem unsere Brotzeit-Utensilien verstaut werden konnten. Aber auch diese Möglichkeit erwies sich bei genauem Ausprobieren als nicht wirklich praktikabel, weil der Wagen Ernesto an Steigungen an der Deichsel hochhob. Da Ernesto an der Deichsel befestigt war, hatte er dann keinen Kontakt mehr zum Boden. Ich konnte zwar über dieses Bild lachen, aber Ernesto nicht so. Von daher blieb alles beim Alten, die Getränke und unser Brotzeit-Equipment wurden wieder von mir befördert. 

Es zeigte sich wieder einmal, dass ein Rucksack zwar gut gedacht ist, aber eben nicht für jedes Lebewesen geeignet ist. Erst der Versuch macht klug: Schildkröten und Rucksäcke passen einfach nicht zusammen. 

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Fußleisten 

Bei seinen Dauerläufen durch sein Zimmer und den Flur kam Ernesto auf die Idee zwecks besserer Kurvenlage, dass doch Fußleisten die Spurtreue für ihn erheblich verbessern würden. Ähnlich wie durch Leitplanken auf der Autobahn war Ernestos Weg so vorgegeben. Mehrere Male waren diese auch durchaus hilfreich. Aber dann hing Ernesto in einer Kurve plötzlich über der Leitplanke bzw. Fußleiste. Mit so einer Fußleiste unter dem Panzer kreisten aber seine Extremitäten in der Luft. 

Wach gerüttelt durch diesen Vorfall war Ernesto jetzt umso vorsichtiger bei seinen Dauerläufen durch die Wohnung. Trotzdem wollte er sich den Spaß an den Kurven nicht nehmen lassen und ging diese umso waghalsiger an. Ähnlich einem Testgelände wurden die Kurven zu Steilkurven, wie man es von so manchem Rennkurs kennt. Wieder flog er aus der Kurve, überschlug sich diesmal sogar. Meinen Rat, die Kurven im Auslauf mit Schaumstoff auszukleiden, nahm er dankbar auf. Das Problem, das sich ergab, war, dass die Türen nicht mehr geschlossen werden konnten, da auch die Türzargen mit Schaumstoff ausgestattet werden mussten. Wir mussten also einen Kompromiss finden zwischen Türen schließen und Sicherheit für den Läufer gewährleisten. Dieser bestand dann darin, dass wir uns darauf einigten, dass Ernesto bei seinen Läufen durch die Wohnung einen Helm trug. Wie schon beim Gokart-Fahren bestand sein Helm aus einer ausgepolsterten halben Walnussschale. So war sein Kopf immer ausreichend geschützt und die Türen konnten geschlossen bleiben. Außerdem sah Ernesto so sehr viel sportlicher aus als ohne, besonders da Ernestos Helm über Streifen verfügte, die wir mit Tipp-Ex selber aufgemalt hatten, und somit die Sportlichkeit des Träger unterstrichen wurde. 

Letztlich machten die Fußleisten die Fußböden nicht generell sicherer für die Besucher unserer Wohnung, außer sie trugen einen Helm, aber das konnte ich ja auch nicht von allen Gästen verlangen, zumal sich das Problem vor allem für bodennahe Tiere ergab. Waltraut verweigerte sich dem Helm total entgegen unserer Empfehlung. Sie sagte, in solchen Geschwindigkeiten bewege sie sich gar nicht mehr. Das sei vor allem für die jungen Hüpfer unter uns von Bedeutung, so meinte sie weiter. Letztlich rutschte sie auf dem glatten Parkett unseres Flures aus und fiel unglücklich auf die Fußleisten. Es sei dahingestellt, ob der Sturz mit einem Helm glimpflicher abgelaufen wäre, aber sie wurde ja von uns gewarnt. Fußleisten sind eben doch keine Leitplanken. 

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Rollbrett 

Die vor Jahren mal sehr angesagten Fingerboards eignen sich wunderbar als Untersatz für die mobile Schildkröte. Mit ihrer Hilfe kann sich die Schildkröte von heute selbstständig von A nach B bewegen und das mit atemberaubender Geschwindigkeit! 

Waltraut war sichtlich eingeschüchtert von der Geschwindigkeit, die Ernesto jetzt so an den Tag legte, da kam sie kaum hinterher. Aber der Weg musste eben sein, durfte keine Schwellen enthalten. Ernesto selbst war schwer beeindruckt von sich und der neuen Geschwindigkeit, die er jetzt erreichen konnte. Die Unmittelbarkeit der Bodennähe war nun größer und von daher nicht vergleichbar mit seinen ferngesteuerten Autos. Wie gesagt, der Boden musste eben sein, daher waren Turnhallen oder Ähnliches, zum Beispiel unsere Garage, ideal zum Skaten. Unsere Garage wurde jetzt zum Skatepark. Immer mehr Rampen aller Art fanden Einzug und bald war unsere Garage ein Hotspot für alle inline-skatenden und rollbrettfahrenden Tiere dieser Stadt. Es war neu, dass Kleintiere jetzt in einem Skatepark ein Zuhause fanden. 

Viele Kleintiere bzw. deren Besitzer baten um Einlass. Aufgrund des Ansturms mussten wir also eine Auswahl treffen. Wir nutzten das englische „first come, first serve“ als Auswahlkriterium, was aber bald dazu führte, dass viele Kleintiere bereits morgens um 7 Uhr vor unserer Garage standen. Daher verkauften wir bald Stundentickets, damit jeder mal über unseren Garagenboden gleiten konnte. 

Nach einiger Zeit entschieden wir uns dazu, Wettkämpfe zu veranstalten. Teilnehmen konnte eigentlich jeder, der sich für geeignet hielt. Die Jury bestand aus Ernesto und mir, Waltraut und Herrn Kowalski und weiteren Bewohnern des Hauses. Waltraut und Herr Kowalski strichen schnell die Segel, weil ihnen das Ganze zu schnell und zu wuselig war. Sie wurden durch Ernie und Bert ersetzt, die sehr dankbar für das in sie gesetzte Vertrauen waren. Der von uns angesetzte Wettbewerb aller Kleintierskater war der Beginn eines neuen Trends, im darauffolgenden Jahr formierte sich eine Weltmeisterschaft für Kleintiere im Skaten. Nie hätten Ernesto und ich gedacht, dass wir damit einen solchen Trend lostreten würden. Die Vorentscheidungen für die anstehende WM fand bei uns, den Vätern des Skatens für Kleintiere, statt. Natürlich war das eine große Ehre für uns, aber die Vorbereitungen darauf bedeuteten für uns auch eine Menge Arbeit. 

Man hat es nicht leicht als Trendsetter… 

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Feinripp 

Der letzte Schrei sollte auch Schildkröten nicht vorenthalten werden. Feinripp war jetzt wieder hochaktuell, so musste auch Ernesto unbedingt ein Feinripp-Leibchen tragen. Boxershorts in Feinripp standen ihm nicht so gut, von daher trug er schnell Feinripp-Unterhemden. Dass man von seiner Umwelt damit immer in eine bestimmte Schublade gesteckt wurde, kümmerte Ernesto nicht. Er war der Ansicht, dass man erstmal den Träger kennenlernen sollte, bevor man sich seine Meinung bildet. 

Im Feinripp-Unterhemd ging er dann zu seinen Kumpels am Kiosk unseres Kiezes und philosophierte mit ihnen über das Leben als Schildkröte. Manchmal brachte er strittige Fragen vom Kiosk mit nach Hause. Beispielsweise waren sich neulich die beteiligten Diskustanten uneins darüber, ob das Sein im Ist begründet oder ob das nur eine semantische Verschiebung sei. Da wir am Küchentisch die Frage auch nicht erschöpfend ausdiskutieren konnten, beschloss Ernesto, die Fragestellung wieder mit an den Kiosk zu nehmen. Die Frage wurde am Kiosk eher basal behandelt anhand von Flachmännern und Dosenbier. Das theoretische Sein, also der Flachmann, ist dem praktischen Ist, also dem Dosenbier, dann doch hochprozentiger, also übergeordnet. Was man dann mit dieser Erkenntnis anstellt, ist jedem selbst überlassen. 

Zurück zum Feinripp: Ausgehend von der Erkenntnis, dass Hochprozentiges doch geistreicher sei als Dosenbier, könnte man sich zu der Bemerkung hinreißen lassen, dass je kleiner die Verpackung desto höher die Umdrehung ODER je feiner die Rippe desto ästhetischer der Leib des Trägers ist. Dosenbier wäre dann also die häufig unterschätzte Alternative. Dosenbier wird erst in Palettenform so richtig interessant, weil 24 Kumpane mehr bewirken können als ein Einzelner. Das stellt man auch in jeder Art von Mannschaftssportart fest. Teamsport macht ja nicht nur bei Dosenbier mehr Spaß. Eine einzelne Dose bringt ja kurzzeitig Erquickung, eine ganze Palette hingegen wird dann eher zu einer abendfüllenden Veranstaltung. 

Jetzt aber zurück zum Feinripp: Man lässt sich oft genug von dem Erscheinungsbild der Feinripp-Träger täuschen. Aber wie man sieht, lohnt sich ein zweiter Blick oder eine Nachfrage. Die Engländer haben den Spruch geprägt: „Never judge a book by its cover“, und damit haben sie völlig recht! 

Ich aus meiner Warte war überrascht, mit welch tiefschürfenden Themen sich die Umstehenden am Kiosk so beschäftigten. Da kann man mal sehen, dass ein zweiter Blick immer lohnt. 

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Brückentage 

Brückentage sind die schäumende Krönung von Feiertagen, die ja an sich schon Grund zur Freude genug sind. Frau Meier und ich machten vor solchen Tagen ein bis zwei Stunden früher Feierabend und gönnten uns ein Piccolöchen zur Feier der kommenden Tage. Brückentage auf dem Amt sind schon was Feines! 

Der frühe Feierabend auf dem Amt sorgte für viel Unmut bei den Kunden. Aber nach Erklärungen der Faktenlage war dann schnell Ruhe. Es war gar nicht so einfach, den Kunden glaubhaft zu erklären, warum die Kundenbetreuung an diesen Tagen telefonisch nicht mehr zu erreichen war. Praktisch gab es ja einen Schlüssel mit dessen Hilfe die Kunden warten mussten bis zum Anbruch der neuen Woche. Sie standen also vor verschlossenen Türen. 

Natürlich sind Brückentage für jeden Arbeitnehmer herzlich Willkommen, für mich waren sie Anlass, mit Ernesto ausgiebig zu frühstücken. Wenn die Sonne schien, nahmen wir unser Frühstück halb auf dem Balkon (Ernesto), halb in der Küche (ich) ein aufgrund meiner Höhenangst. Das machte die Kommunikation zwar etwas schwierig, aber mit Megaphon ging es. Erst die Beschwerden der angrenzenden Nachbarn ließ uns unser gemeinsames Frühstück doch vollständig in die Küche verlegen. Das Frühstück in der Küche war sowieso viel heimeliger an unserem Küchentisch. An solchen Tagen mochten wir beide das englische „full breakfast“ am liebsten, mit gebackenen Bohnen, Spiegelei mit Speck, gebratener Tomate und natürlich gebuttertem Toast. Das kleine Piccolöchen, das ich mir vorher mit Frau Meier auf dem Amt gegönnt hatte, bekam jetzt eine angemessene Grundlage. 

Ernesto genoss die Tage meiner frühen Heimkehr vom Amt. Die Tatsache, dass dann immer ein schönes Frühstück anstand, war für ihn umso erquicklicher, da er gebratene Tomate über alles liebte. Er genoss die Tatsache, dass ich ganz viel Zeit für ihn und unsere Unternehmungen hatte. Diese wurden schon Tage im Voraus von uns geplant. In der Stadt sollte es ein neues Café geben mit Waffeln im Angebot. Dieses wollte Ernesto am letzten Himmelfahrts-Wochenende unbedingt ausprobieren und auch ich war neugierig. Wir wurden beide nicht enttäuscht. Die angebotenen Waffeln mit Fruchtsalat, Eis und Topping waren sehr lecker und die Teller zusätzlich mit unseren Namen aus Schokoladensoße verziert. So wurde unser Ausflug ein voller Erfolg und wir zogen überglücklich von dannen. 

Die Tatsache, dass Brückentage überhaupt nichts mit Brücken zu tun haben, konnten wir gut verwinden. 

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Türklinken 

Türklinken sollen einem ja beim Öffnen der Tür behilflich sein. Ernesto versuchte 5-15 Mal erfolglos die Türen mit Hilfe der Türklinken in unserer Wohnung zu öffnen, stellte dann aber schnell fest, dass die Türklinken in einer für ihn unpassenden Höhe angebracht waren. 

Da kam mir die Idee, dass doch elektrische Schiebetüren, betrieben vom Solarmodul an seinem Fenster, in Verbindung mit einem Bewegungsmelder die Türen für Ernesto öffnen konnten. Ich hatte bei meinen Überlegungen jedoch vergessen, dass die besagten Schiebetüren sich auch wieder automatisch schlossen, was für Ernesto eine Gefahr bedeutete. Also musste das Schließen der Türen so langsam wie möglich bzw. in Intervallen gestaltet werden. Leider konnte trotzdem nicht verhindert werden, dass Ernesto mehrfach von den Schiebetüren eingeklemmt wurde. Dies bot schon ein lustiges Bild – eine Schildkröte so hochkant zwischen zwei Schiebetüren eingeklemmt zu sehen. Gott sei Dank war er ja durch seinen Panzer vor größeren Verletzungen geschützt. 

Der Abbau der Türklinken und der Einbau der Schiebetüren setzte natürlich einen kompletten Umbau der Türzargen voraus. Bald sah unsere gesamte Wohnung aus wie eine Bankfiliale. Es fehlten nur Schalter mit den freundlichen Damen dahinter. Gott sei Dank kam nicht zufällig jemand vorbei und wollte ein Konto eröffnen. Ernestos Problem mit den Türklinken in unserer Wohnung war somit nun erledigt. Allerdings bestand noch die Haustür als letzte Hürde auf dem Weg zur größtmöglichen Selbstständigkeit für Ernesto. 

Mittels einer Chipkarte wie in Hotels, war die Tür nur von Befugten zu öffnen. Die mangelnde Höhe von Ernesto musste leider jedes Mal von mir überwunden werden, sprich ich musste jedes Mal mit der passenden Karte die Tür für ihn öffnen. Der Versuch, Ernesto mit der Karte und unserem Trampolin auf die geeignete Höhe zu bringen, wurde nach kurzer Zeit wieder eingestellt, weil Ernesto zwar auf diesem Wege sämtliche Blumentöpfe im Treppenhaus kennenlernen durfte, aber die Tür leider trotzdem zu blieb, da er es im Flug nicht schaffte, die Karte in den entsprechenden Schlitz einzustecken. 

Wir mussten also feststellen, dass es leider nur die Alternative für ihn gab, mit dem Handy Bescheid zu geben, wenn er ins Haus wollte oder heraus. So leid es mir tat, aber wir fanden keine andere Lösung. 

So harmlos Türklinken für uns auch erscheinen mögen, können sie doch für manch einen eine unüberbrückbare Barriere darstellen. Auch hier kommt es auf die Perspektive an. 

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Modelleisenbahn 

Meine Modelleisenbahn fristete im Keller ein einsames Leben. Hoch erfreut war Ernesto, als er diese zufällig entdeckte. Ein bisschen sah es aus wie bei Godzilla, als er sich zwischen den Figuren und den Häusern auf der Modelleisenbahn bewegte. Völlig gefesselt von seiner neuen Perspektive betrachtete er die Welt nun aus dieser für ihn ungewohnten Warte. Aber Godzilla war seine Sache nicht, nach einem Tag in der neuen Perspektive entschloss er sich doch, wieder die Steuerung vom Trafo aus zu übernehmen und die Modelleisenbahn aus dieser Position zu betrachten. 

Eigentlich könnte die Geschichte hier zu Ende sein. Aber nein, nein, es wäre ja nicht Ernesto, wenn es so einfach wäre. Die Dunkelheit in den Tunneln hatte es ihm angetan. Nicht dass er jetzt in der Dunkelheit Zugunglücke veranstalten wollte, aber er nutzte die Dunkelheit in den Tunneln, um sich und anderes darin zu verstecken. Zur großen Überraschung der Umstehenden kamen Züge verkleidet aus den Tunneln gefahren. Ein schlichtes Abendkleid war da nicht genug. Passend zum Alpenpanorama der Bahn wurde der Zug zum Beispiel in Lederhose mit Gamsbart verkleidet. 

Die Dunkelheit der Tunnel veranlasste Ernesto zu immer waghalsigeren Unternehmungen. Der Überraschungseffekt, wenn sie aus dem Tunnel kamen, sorgte am Bahnübergang regelmäßig für Kollisionen von die Gleise überquerenden Fahrzeugen und Zügen. Ernesto hatte große Freude an diesen Zugunglücken, diese war aber nicht von langer Dauer. Ihn holte doch recht schnell das schlechte Gewissen bzw. das Mitgefühl ein von all den Opfern der Zugunglücke. Von daher blieb seine Begeisterung noch im Rahmen. Aber trotzdem ließ er es sich nicht nehmen, hin und wieder einen Zug kollidieren zu lassen. Es sah zugegebener Maßen auch recht lustig aus, wenn ein verkleideter Zug mit einem PKW kollidierte. 

Auch nutzte Ernesto die Dunkelheit der Tunnel als Verstecke für illegale Substanzen. Aber die Beschränktheit der Eisenbahn auf die Plattengröße begrenzte einen Handel im großen Stil. Bei den illegalen Substanzen beschränkte er sich irgendwann dann auf deren Einnahme, anstatt mit ihnen zu handeln, da die Dealerei ihm dann auch überflüssig erschien, weil die Substanzen ja im Zuge einer Offensive der Bundesregierung jetzt legal wurden. Er beschränkte sich jetzt darauf, während des Eisenbahnspiels ordentlich einen durchzuziehen, statt sie in Eisenbahntunneln zu verstecken. Ich nahm diese Einsicht wohlwollend zur Kenntnis. Man konnte auch high Eisenbahnfahren, wer wollte da schon fliegen. 

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Photosynthese 

Eines Tages sprach mich Ernesto an, wie denn bitte schön Pflanzen wachsen würden. Von Tieren kannte er das ja – sie benötigten Futter und Wasser – aber wie Pflanzen wuchsen, war ihm relativ neu. Auch dass sie Sonnenlicht und Kohlenmonoxid brauchten und dabei Sauerstoff produzierten, war ihm unbekannt. Seine Schlussfolgerung, dass es also demzufolge sehr gut sei, wenn immer mehr Kohlenmonoxid in der Erdatmosphäre vorhanden sei, war leider ein Trugschluss, wie ich ihm erklärte. Dieses führte dazu, dass bestimmte atmosphärische Zyklen ihre Kraft und Bedeutung verloren, erklärte ich ihm weiter. Er verstand nix. Erwartungsschwanger sah er mich an, aber besser konnte ich es ihm auch nicht erklären. 

Also beschloss Ernesto, einen Brief an die UNO zu schreiben, in dem er Klarheit forderte. Klimaschutzabkommen wurden alle Jubeljahre neu gemacht, aber kein Mensch und keine Schildkröte verstanden mehr warum. Genau das wollte er aber wieder verstehen. Sich vor eine Botschaft zu setzen, war ihm dann doch zu zugig. Ihm waren geschlossene Räume behaglicher. „Photosynthese sollte wieder für alle Pflanzen uneingeschränkt möglich sein“, so weiter seine Forderung in seinem Schreiben an die UNO. Die Gefahren von Photosynthese waren ja relativ überschaubar und so musste die UNO ihm doch zustimmen, zumal seine Forderung doch sehr basal war. Zumindest fand er dies. Ich bereitete mich darauf vor, Ernesto gegebenenfalls bei nicht passender oder gar keiner Antwort wieder aufzubauen. 

Täglich wartete Ernesto nun auf Antwort von der UNO. Als nach Tagen und Wochen nichts kam, musste er doch von mir aufgebaut werden. So gingen wir in sein Lieblingsrestaurant. Als wir beim Essen den Kellnern von Ernestos Schreiben erzählten und berichteten, dass keinerlei Antwort kam, sagten sie zu unserem Erstaunen, dass António Guterres (Generalsekretär der UNO) gerade an unserem Nachbartisch gesessen habe und sie ihm das nächste Mal von Ernestos Anliegen berichten würden. Sie waren sehr zuversichtlich, dass sich zukünftig einiges ändern würde. 

Erfüllt von dem Ausblick auf Erfüllung seiner Wünsche begaben wir uns auf den Heimweg. António Guterres hat sich leider nie gemeldet, aber so wurde auch Ernesto die häufig unterschätzte Bedeutung von Photosynthese klar und er beschloss, wieder häufiger Tomate, Gurke und Salat zu essen. Nie hätte er gedacht, dass Tomate, Gurke und Salat für das Weltklima von so entscheidender Bedeutung sind. 

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Oben 

Neulich wollte Ernesto im Supermarkt – ohne darüber nachzudenken – in das oberste Regal greifen. Dabei lernte Ernesto gleich das Gegenteil von „oben“ kennen, indem er nach „unten“ fiel. Oben ist das genaue Gegenteil von unten, was uns durch die Schwerkraft vorgegeben ist, denn Dinge fallen immer nach unten. Dieser räumliche, binäre Code lässt uns glauben, dass wir nur in zwei Dimensionen lebten. Aber nein, nein, es sind tatsächlich mehr. Es sind tatsächlich vier oder so, auf jeden Fall mehr. 

Oben lässt sich ja leicht mit dem Besten assoziieren, andererseits schwimmt Scheiße ja aber auch immer oben. Was nun davon gerade von Bedeutung ist, sollte jeder für sich selbst entscheiden. Dies sei hier nur mal angemerkt. 

Eine Orientierung nach oben ist vermeintlich erstmal die beste Wahl. Erst im Laufe der Zeit merkt man, dass die wahre Größe im Mittelmaß liegt, denn die Mitte wird oft unterschätzt. 

Das Mittelmaß war für Ernesto von besonderer Bedeutung und besonderem Interesse. Seine Leistungen waren in vielen Dingen auch nur mittelmäßig, zum Beispiel konnte er ja nur bedingt schnell rennen. Auch schweres Heben war nicht unbedingt seins. Deswegen ging Ernesto gerne zur Rennbahn, weil er es faszinierend fand, wie dort die Pferde so schnell laufen konnten, ohne doch ein vermeintliches Ziel zu haben. Für ihn wäre das Laufen in hoher Geschwindigkeit über so weite Strecken schon eine enorme Leistung. Pferde waren nunmal viel größer. Wäre eine Schildkröte dieselbe Strecke genauso schnell wie die Trabrennpferde gelaufen, könnte man problemlos von einem Wunder sprechen. Da dies aber nicht der Fall war, blieb Ernesto nichts anderes übrig als Geld auf die Pferde zu setzen, anstatt selbst mitzulaufen. Außerdem war es kaum vorstellbar, dass es jemals Trabrennhelme für Schildkröten geben würde. Oben war für Ernesto demnach in vielen Dingen schwer zu erreichen. 

Die Relativität von dem, das oben ist, wird hier hoffentlich jedem deutlich. Ein Streben nach oben oder dem Besten macht ja nur begrenzt Sinn, da mit dem Streben nach dem Besten auch immer die Einsicht verbunden sein sollte, was auch immer für das Individuum das Beste ist. Das bloße Streben nach dem vermeintlich Besten oder gar dem materiellen Wert macht eigentlich keinen Sinn, weil es immer jemanden gibt, der mehr hat, mehr ist, mehr kann. Das Individuum ist also der Maßstab für alles Handeln. 

In Bezug auf Ernesto: Ernesto war zufrieden mit dem, was er hatte und konnte. Ein „Höher, Schneller, Weiter“ war für ihn nicht von Bedeutung. Da sollten wir uns alle eine „Scheibe von abschneiden“.