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Herr Müller sieht die Welt

Gummibaum 

Um meine Wohnung etwas behaglicher für Ernesto zu gestalten, beschloss ich, einen Gummibaum aufzustellen. Ernesto sollte sich schließlich auch von bekannter Flora umgeben sehen. Denn Gummibäume, so glaubte ich, wuchsen dort, wo Ernestos Art herkam, in Südamerika. Also machte es ja durchaus Sinn, dass die Pflanzen in unserer Wohnung seinem heimischen Habitat entsprachen. 

Gar nicht auf dem Zettel hatte ich, dass Ernesto eigentlich gar keine Pflanzen mochte und auch Gummibäume ihm relativ egal waren. Sie sahen aus wie aus Kunststoff, so fand er. Da mir aber Ziegelsteinpflanzen unbekannt waren, musste ich auf das allseits verfügbare Angebot des örtlichen Gartencenters zurückgreifen. Da standen nunmal Gummibäume – passender Weise – ganz hoch im Kurs. Ernestos Abneigung musste da halt mal kurzzeitig von mir ignoriert werden. Auf meine Nachfrage nach Ziegelsteinpflanzen reagierte der Zuständige im Gartencenter relativ irritiert, war ihm doch Ernestos Abneigung unbekannt, aber von den von mir gesuchten Ziegelsteinbäumen hatte er noch nie gehört. Ich auch nicht, aber das musste ich ihm ja nicht erzählen. Der Spruch „Wissen ist Macht“ verleiht einem in diesem Zusammenhang fast Flügel, weil es doch nichts Schöneres gibt, als jemanden mit Fragezeichen über dem Kopf zurückzulassen. 

Schnell wurde die Erweiterung des Spruches „Wissen ist Macht“ durch „Nichts wissen macht nichts“ ergänzt. Die Ergänzung nahm dann der Gartencenter-Mitarbeiter selbst vor, so konnten er und ich gesichtswahrend aus der Situation entkommen. 

Gummibäume waren also – laut meinen Unterlagen – die passendste Art des Bewuchses für Ernestos Art. Da in nächster Zukunft nicht abzusehen war, dass Pflanzen kreiert wurden, die Ernestos Zuspruch fanden, war ich weiter auf der Suche nach Pflanzen, die er mögen könnte. Ich wurde alsbald fündig bei Kakteen. Diese waren zwar auf den ersten Blick stachelig, aber dann doch bei genauer Kenntnis ihrer Stacheligkeit für den Betrachter hübsch anzuschauen. Ähnlich wie Ernesto waren sie die Schildkröte unter den Pflanzen, weil sie in ihren Auswüchsen sehr überschaubar blieben. 

Da es Ernesto aber relativ egal war, welches Grünzeug unsere Wohnung verschönerte, blieb es an mir, hier und da Kakteen aufzustellen, die als grüner Blickfang das Interieur der Zimmer auflockerte. Der von mir gekaufte Gummibaum war ja letztlich auch nur ein Kaktus, wenn auch stachellos. 

Es bleibt einem nur festzustellen, dass Gummibäume und Schildkröten keine Samba tanzen wollen trotz ihrer gemeinsamen Herkunft. 

Herr Müller sieht die Welt

Fernsehen 

Mit dem neuen Flachbildfernseher wirkte es fast ein bisschen gespenstisch, so einen großen Bildschirm mit einer Schildkröte davor zu sehen. Ernesto fühlte sich auch ein wenig von den Bildern erschlagen. Das lag weniger an den Bildinhalten, sondern mehr an ihrer schieren Größe. Nachrichten wurden so zum flackernden Bildschirmerlebnis und Ernesto musste einige Meter weiter vom Monitor wegrücken, um nicht von der Bilderflut erschlagen zu werden. 

Häufig genug fühlte er sich unmittelbar in Kriegshandlungen verwickelt, da die Bilder so vereinnahmend waren. Oft fiel es ihm schwer, dann zwischen Realität und Fernsehen zu unterscheiden. Daher mussten wir dann häufig erst eine Runde Tetris spielen, damit ihm der Unterschied zwischen Realität und Fiktion wieder klar wurde. 

Ernesto war also gerade aus Beirut wieder heim gekehrt und entspannte bei einer Runde Tetris, da klingelte es plötzlich an der Tür. Es war eine dringende Nachricht für Ernesto, so erfuhr er an der Gegensprechanlage. In Erwartung gewichtiger Themen – wie dem Ende der Welt, die zunehmende Umweltverschmutzung oder die Auferstehung – war der Mensch, der dann vor unserer Tür stand, nur daran interessiert, möglichst viele Kabelanschlüsse zu verkaufen. Da Ernesto schon geraume Zeit davon genervt war, dass unser Fernsehempfang von der Wetterlage abhing, war er natürlich hoch erfreut, für ein flimmerfreies Fernsehbild sorgen zu können. Also ließ er sich das Angebot des Kabelvertreters in aller Ausführlichkeit erklären und schloss dann einen solchen Vertrag ab. Doof war nur, dass sich Ernesto einen Vier-Jahres-Vertrag aufquatschen ließ. Bei so viel Gebundenheit musste Ernesto erstmal eine Runde in den Park, um frische Luft zu schnappen und den Wind zu spüren. Nachdem Ernesto mir den Vier-Jahres-Vertrag beichtete, war ich natürlich darum bemüht, aus dem Vier-Jahres-Vertrag einen Ein-Jahres-Vertrag zu machen, denn Ernesto hatte übersehen, dass die Kosten im zweiten Jahr um beinahe das doppelte steigen sollten. Das war zunächst gar nicht so einfach. Erst nachdem ich dem zuständigen Sachbearbeiter klar machen konnte, dass sein Vertreter einen Vertrag mit einer Schildkröte abgeschlossen hatte, konnten wir relativ problemlos einen Ein-Jahres-Vertrag abschließen. 

Zurück zu übergroßen Fernsehbildschirmen und kleinen Schildkröten: Manchmal kommt einem die Realität zu übergroß und mächtig für die eigene Seele vor. In solchen Fällen macht es durchaus Sinn, alles abzuschalten und sich einen Punkt in der Landschaft oder auf dem Meer zu suchen, um sich wieder neu zu skalieren. 

Kowalski lebt

Blumenkasten 

Nachdem Waltraut beschlossen hatte, ihr kleines Geschäft doch nur noch im Stehen zu verrichten, erschien mir ihr Wunsch nachvollziehbar, die Blumenkästen auf die Innenseite des Balkons zu verlegen, der Fall nach unten war dann nicht ganz so hoch wie außerhalb der Brüstung. Das Verrichten der Notdurft in den Blumenkästen geschah nur im Notfall, wenn der Weg nach unten zu weit und zu beschwerlich erschien. 

Die von mir in den Blumenkästen gepflanzten Bonsai-Bäumchen mussten zwar gelegentlich durch Wasser gefüttert werden, damit sie nicht an Nitrat zugrunde gingen, aber mit genügender Zugabe von klarem Wasser überlebten sie doch problemlos. Dann wirkte sogar Waltrauts Pipi eher wie Dünger, aber eben nur mit ausreichender Verdünnung. 

Doof war jetzt nur, dass Waltraut dabei ihrem Hobby nicht mehr frönen konnte, nämlich andere zu beobachten. Der Ausblick von der Innenseite der Brüstung war nicht ganz so spannend. Von daher beschränkte sich Waltraut alsbald darauf, doch ihr kleines Geschäft meistens wieder vor der Haustür zu verrichten. Das Sehen und Gesehenwerden spielte schon für Hunde und insbesondere für Waltraut eine große Rolle. 

Was so spannend daran sein sollte, andere während des kleinen Geschäfts zu beobachten, wurde mir kürzlich auf spektakuläre Art und Weise vor Augen geführt: Eine Mama kam mit ihrem Kinderwagen vom Bordstein ab, blieb im Rinnstein stecken und der Kinderwagen überschlug sich. Das Kind konnte Gott sei Dank in letzter Sekunde von einem zufällig vorbei laufenden Rentner aufgefangen werden. Auch wenn dieser schon bald unter der Last des Kindes zusammenzubrechen drohte, so blieben Mutter und Kind doch unverletzt und die ganze Aktion ging für alle glimpflich aus. Rentner, Mutter und Kind blieben unversehrt. 

Der von mir abschließend angebotene Kaffee für alle zur Beruhigung fand reißenden Absatz. Im Gegensatz zu den übrigen Umstehenden und Vorbeilaufenden beschränkte sich meine Aktion nicht nur auf das Glotzen und Zücken des Smartphones, sondern durch mein Handeln wurde ich zum aktiven Teil der ganzen Aktion. Waltraut tat ihr bestes, das Kind nach dem Schrecken abzulenken und so auch zum Ersthelfer zu werden. Somit bewies auch Waltraut, dass jeder – ob Mensch, ob Hund – helfen kann. 

Ach wären doch alle Menschen wie Waltraut! 

Herr Müller sieht die Welt

Waschbecken

Jugendliche Amerikaner benutzen ja oft leere Pools für ihre neue Rollbrettartistik.
Da kam Ernesto eine Idee: Er wollte jetzt im Waschbecken artistische
Darbietungen auf seinem Rollbrett vollführen. Nur der Abfluss musste garantiert
versenkt werden, sonst konnte es zu unerwarteten, bösen Überschlägen kommen.
Ernestos Idee, im Waschbecken Tricks mit seinem Fingerboard zu vollführen,
endete oft genug in der Seifenschale. Daher mein Tipp: Handseife. Die ist für
Schildkröten auch weniger gefährlich, weil die Gefahr auf den „Drücker“ der
Handseife zu fallen, ja kaum vorhanden ist.

Die Ähnlichkeit von Pools und Waschbecken ist ja erstmal gering, erst wenn man
die vollführten Kunststückchen sieht, fällt einem die Ähnlichkeit auf. Für Ernestos
Körpergröße waren die Abmessungen des Waschbeckens schon ideal für die
anfängliche Erprobung. Nachdem er zwei- bis dreimal ins offene Klo gefallen war,
hatte er sich dann doch an die Beschränktheit des Waschbeckens gewöhnt. Schnell
wurde ihm aber bewusst, dass die Badewanne doch besser für sein Vorhaben
geeignet war. Auch hier musste natürlich der Abfluss sicher verschlossen werden,
was kein Problem bedeutete. Die Badewanne bot dann doch unermesslich mehr
Raum für Kunststücke aller Art.

Ernesto musste natürlich erstmal Ernie und Bert seine neuesten Tricks zeigen. So
kam es, dass unsere Garage jetzt auch noch um unser Badezimmer erweitert
wurde. Der Durchgansverkehr und die hohe Frequenz der Badezimmer-Besucher
störte mich dann aber irgendwann doch. Es kam zu unschönen Situationen als ich
dringend auf`s Klo musste, aber nicht konnte, weil in unserem Badezimmer gerade
die tollsten Kunststücke vollführt wurden. Ein anderes Mal hatte ich mich gerade
zu einem gemütlichen Regenerationsbad in die Wanne gelegt, als ich plötzlich
Stimmen hörte vor der Tür. Daher war mein Entschluss, dass das Badezimmer für
Ernestos Rollbrett-Aktivitäten nicht mehr zur Verfügung stand. Ernesto reagierte
erst sauer, dann aber doch verständnisvoll.

In diesem Zuge beschränkte er somit seine Rollbrettfahrerei wieder auf unsere
Garage. Trotzdem benutzte er die aus dem Badezimmer gewonnenen Erkenntnisse
für seine Rollbrettartistik. Meine Erkenntnisse: Badewanne und Waschbecken
dienten nicht nur der Reinigung, sondern konnten auch Grundlage mannigfaltiger
Rollbrettaktivitäten sein.

ABER: Die Bedeutung der Privatsphäre in meinem Badezimmer wurde mir so
schlagartig klar. Badewanne und Waschbecken sollten doch eher zur Reinigung
dienen denn Spielplatz für Schildkröten sein.

Herr Müller sieht die Welt

Midlife Crisis

Es mag daran gelegen haben, dass es bereits gegen Nachmittag war als wir
unser Frühstück am Wochenende beendet hatten. Ernesto stieg die Zornesröte
ins Gesicht, die – sofern das von mir überhaupt zu beurteilen war – durch
meine Frage ausgelöst wurde. Meine mangelnde Urteilsfähigkeit war wohl in
Ernestos Grundfarbe angelegt, die es mir nahezu unmöglich machte, eine
Veränderung in der Hautfarbe zu erkennen. Ich wollte doch einfach nur von ihm
wissen, ob auch Schildkröten so etwas wie eine Midlife Crisis hatten.

Bei Menschen war es ja sehr bekannt, dass dies häufiger passieren konnte.
Ernesto reagierte sauer auf meine Frage. Bloß weil ich einen Vertreter der
Gattung Schildkröte kannte, ließ das ja keinen Rückschluss auf alle übrigen
Vertreter zu, so seine Argumentation.

Schildkröten neigten weniger dazu, sich Sportwagen zuzulegen, um ihre
Jugendlichkeit zu unterstreichen oder mit jungen Gespielinnen
herumzuhängen, die außer gut auszusehen, wenig konnten. Ich stellte an mir
selber in letzter Zeit fest, dass ich zunehmend dazu neigte, immer jüngere
Frauen gut zu finden, ein Sportwagen war mir eh zu teuer. Es lag also der
Verdacht nahe, dass ich in der Midlife Crisis angekommen war. Deswegen war
meine Frage an Ernesto eigentlich auf mich bezogen. Als ich ihm das erklärte,
reagierte er einsichtig und verständnisvoll.

Die Midlife Crisis gestaltet sich für den normalen Mitteleuropäer gar nicht so
leicht und wird oft unterschätzt, nur erkennen muss sie halt jeder. Da mir für
Sportwagen das nötige Kleingeld fehlte, entschied ich mich dazu, mir ein neues
Liegerad zu kaufen. Davon hatte auch Ernesto etwas, so meine Überlegung.
Ausflüge machen auch erst mit Mehreren Spaß. Ernesto bekam für mein neues
Liegerad einen neuen Fahrradkorb mit einer warmen Decke, auf der er
herumlaufen konnte.

Im Zuge meiner Midlife Crisis ließ ich mir außerdem Ohrringe stechen. Ernesto
verfügte ja schonmal über eine Vielzahl von Ringen, die er aber im Zuge
extremer Unpraktikabilität auf einen Ring reduzierte.

Man kann also feststellen, die Midlife Crisis betrifft alle Lebewesen. Nur der
Mensch macht sich wie immer darüber Gedanken. Liegt wohl in seiner Natur
begründet, weil Midlife Crisis ja auch immer ein Bewusstsein erfordert.

Schildkröten dagegen werden einfach so alt.

Kopfwürmer

Motti

Um meinem Ruf als Schlaumeier gerecht zu werden, sei hier mal gesagt, dass ein
Motto in der Mehrzahl Motti heißt . Auf jeden Fall hat sich mein Lebensmotto
„Wenn der Wahnsinn dich anlacht, lach zurück“ erweitert um das Motto: „Ich bin
behindert, aber nicht doof!“ (wie ich hoffe). Also behandelt mich bitte auch nicht so.

Das erste Motto ist in meinem Berufsleben begründet. Mein Berufsleben als Lehrer
war oft genug von Chaos und Hektik gekennzeichnet. Vielfach hatte man das Gefühl,
in einem Irrenhaus zu sein. Erst der Rückzug mit einer Tasse Kaffee in den
Klassenraum ließ mich wieder herunterkommen. Das Verrückte waren dann aber
nicht die Schüler, sondern die ganzen anderen Umstände des Berufes. Von Eltern, die
glauben, man hätte ja sonst nix zu tun (ernsthaft) als Kaffeetassen durch die Gegend
zu tragen bis zu Kollegen, die ihren Status wohl etwas überbewerten. Im Laufe der
Jahre habe ich aber gemerkt, dass es gar nichts bringt, sich über diese Widrigkeiten
aufzuregen, sondern dass mit einem Lachen alles besser zu ertragen ist. Auch die
Angriffslust des Gegenübers wird dann geringer. Vielleicht sind aber auch die
Erinnerungen von damals eher im Geiste von mir romantisiert worden, dennoch
kann ich nur sagen, dass meine Erfahrungen mit Schülern jeder Art durchweg positiv
waren. (Hiermit seien meine ehemaligen Schüler gegrüßt).

Das zweite Motto ist meinen Erfahrungen als Rollstuhlfahrer und Gehandicapter
geschuldet. Es wäre ein Traum, wenn das körperliche Unvermögen nicht auf die
geistigen Fähigkeiten übertragen werden würde, was leider allzu oft passiert. Aber
auch geistig Gehandicapte sollten einen nicht dazu veranlassen, das Gegenüber wie
einen Doofen zu behandeln. Also falls ihr unsicher sein solltet, wie ihr euer
Gegenüber behandeln sollt, mein Tipp: Einfach normal!

Zurück zu den Motti: Wie immer ist die Normalität das Maximum in jeglicher
Hinsicht. Alles andere wäre eher Wunschdenken. Wenn man keinen Plan hat, hilft es
manchmal, sich von der Situation tragen zu lassen. Wir wollen natürlich nicht, dass
sich die Situation an uns einen Bruch hebt, deshalb ist es empfehlenswerter gar nicht
erst Pläne zu machen, da diese häufig genug über den Haufen geworfen werden
müssen, gerade in meinem Alltag. Mein Alltag ist oft genug von Gedanken über die
Erkrankung getragen. Das doofe an der Erkrankung ist, dass sie viel Spielraum zur
Interpretation gibt. Beispiel: Wenn man ein Bein ab hat, weiß man, dass es zukünftig
mit Laufen schwer wird. Ich aber weiß nicht, welche Überraschungen die Erkrankung
zukünftig bereit hält.

Deswegen gilt auch hier mein erstes Motto: „Wenn der Wahnsinn dich anlacht, lach zurück“!

Herr Müller sieht die Welt

Hitze

Im Gegensatz zu mir blühte Ernesto bei warmen Temperaturen erst richtig auf.
Es konnte ihm gar nicht heiß genug sein. Je höher die Temperatur desto
enthusiastischer wurde Ernesto und umso langsamer ich. Richtig doof war für
mein Wohlbefinden die Kombination aus Wärme und schwüler Luft. Während
Ernesto es völlig egal war, wie hoch die Luftfeuchtigkeit war, machte sie mich
platt. So platt war ich natürlich für Ernesto auch keine große Hilfe.

Unser Leben im Dachgeschoss unseres Hauses war in den Sommermonaten
mehr von der Bemühung meinerseits um Kühle dominiert. Oft war ich mit
nassen Handtüchern um Kopf und Nacken gewickelt zu sehen. Ernesto hatte
sich schnell an dieses Bild gewöhnt. Es konnte nur peinlich werden, wenn der
Paketbote oder Nachbarn klingelten und ich so die Tür öffnen musste. Das Bild
von Menschen mit Handtüchern um die Extremitäten gewickelt bot vielen doch
Anlass, sich erstmal an das ungewohnte Bild gewöhnen zu müssen.

Auch ein nasses Handtuch auf dem Kopf war auf Dauer aber keine Lösung, weil
es doch arg die Sicht beeinträchtigte, wenn es herabhing. Gut halfen mir
letztlich nur Kühlmanschetten um Arme und Beine. Aber eigentlich konnte ich
nur auf milderes Wetter warten, um meine Bewegungs- und Denkfähigkeit
wieder koordiniert zu bekommen.

Mein Streben nach Kühle wurde eben von Ernesto nicht geteilt, weil Kühle bei
ihm zur Verlangsamung der Bewegungen führte und ihn in den Modus des
Winterschlafes versetzen konnte. Dem stand natürlich mein Streben nach Kühle
entgegen, sodass ich mir für unser Leben unterm Dach etwas einfallen lassen
musste.

Da Ernesto heißes Wetter mochte, überlegte ich schon, ob ich ihn in der
örtlichen Sauna abgebe, aber ohne Aufsicht durften Schildkröten nicht alleine in
die Sauna. Somit blieb Ernesto nichts anderes übrig, als die Hitze, die er so
erleben konnte, so gut als möglich zu nutzen. Ernesto verbrachte jetzt die Tage
immer häufiger vor unserer eigens für ihn angeschafften Höhensonne, die in
einem seiner Zimmer stand, sodass ich von der abgestrahlten Wärme
unbehelligt war. Was mir bisher völlig rätselhaft blieb, war immer noch, wie
man sich bei so viel Hitze wohlfühlen konnte.

Nicht umsonst heißt es ja bei uns Menschen: einen kühlen Kopf bewahren! Das
gilt aber nicht für Schildkröten, das musste ich erst lernen.

Kopfwürmer

Der Finne

Wer einmal in Finnland war, wird meine Begeisterung für Land und Leute teilen.
Aber liebe Finnen, sind diese Fußgänger-Überwege euer ernst? Wie bitte soll
man die bezwingen können, wenn man im Rolli sitzt und noch keine Hornhaut
am Arsch hat? Schnellkurs bei Reinhold Messner, oder was?

Nehmt euch doch bitte mal ein Beispiel an den englischen FußgängerÜberwegen.
Da lernt man, was ein sanfter Übergang von Fußweg auf Straße
heißt. Nur dass hier keine falschen Eindrücke entstehen: Auch deutsche
Überwege und Fußweg-Absenkungen können deutlich optimiert werden. Man
fragt sich als Betroffener, womit die für den behindertengerechten Umbau
angeblich hinzugezogenen Rollstuhlfahrer geschlagen sind, scheinbar mit
Blindheit. Apropos, die Signale für Sehbehinderte an Fußwegen sind –
zumindest in den größeren Städten Finnlands – optimal. Das gleiche würde ich
mir für die Rollifreundlichkeit der Fußgänger-Überwege wünschen.

Der Finne an sich ist aufgeschlossen und freundlich. In der bunten Hauptstadt
wird hauptsächlich Englisch gesprochen, genau wie in Teilen Berlins.
Gelegentlich hat man den Eindruck in einer Freak-Show zu sein. Ich sah zum
Beispiel Barbie und Ken, ein anderes Mal begegneten mir Frauen in Lack und
Leder aus einem quietschgelben Audi TT steigend. Auffällig war die
Hilfsbereitschaft der Menschen, sei es beim Türaufhalten im Café oder im
allgemeinen Miteinander.

Cool und ungewohnt für deutsche Autofahrer sind sicherlich die
Bundesstraßen, die jäh unterbrochen werden und deren Fortführung durch
eine Fähre unternommen wird, wenn man die Schärenlandschaft besucht.
Natürlich ist die Benutzung der Fähren kostenlos. Wenn man in Finnland essen
geht, sei hier empfohlen, Rentier zu probieren. Auch wenn man sich zunächst
scheut, schmeckt es dann doch sehr gut. Nur die Vorstellung an den
Weihnachtsmann und seine Helfer muss man aus dem Kopf kriegen.

Als sehr angenehm fand ich die Zurückhaltung und Rücksichtnahme auf Leute
im Rolli. Das allgemeine Gefühl der Menschen, ständig erster sein zu müssen,
ist in Finnland scheinbar sehr gering, so habe ich es jedenfalls empfunden.

Alles in allem kann ich Finnland nur empfehlen, sowohl Land als auch Leute,
weil die Entspanntheit der Leute sich relativ schnell auf uns als Touristen
überträgt. Ich für meinen Teil kann nur sagen: Vielen Dank, ich habe mich bei
euch sehr wohlgefühlt, liebe Finnen!

Herr Müller sieht die Welt

Magnetismus

Ernestos Fingerboard hatte ich ja schon zur Genüge beschrieben und welche Erleichterung es für Ernesto bei der Fortbewegung spielte. Ein weiteres Tuning erfuhr das Fingerboard von mir durch die Anbringung eines starken Magneten an der Unterseite. Das Gegenstück konnte ich zunächst in meiner Hosentasche tragen und so Ernesto wie an einer unsichtbaren Leine durch die Straßen führen. Später ließ ich das Gegenstück von einem Schneider in unserem Kiez auf Fußhöhe in mein Hosenbein einnähen. Auf diesem Wege konnte ich ihm auch Magnetismus verständlich machen, weil sämtliche Fragen von ihm anhand des Beispiels aus der Praxis von mir erklärt werden konnten. 

Dass sämtliche andere mobile Datenträger davon gestört wurden, spielte ja für unsere Unternehmung keine Rolle. Dabei wollten viele Handybesitzer Fotos davon machen, wie eine Schildkröte einen Menschen rasant verfolgte. Aber leider, leider kamen die ganzen versendeten Fotos von Ernesto und mir erst gar nicht bei ihren Empfängern an. Diese konnten erst im Nachhinein verschickt werden, da waren wir ja aber schon weg. 

Damit wären wir auch bei der Auffassung von mir, dass die Menschen viel zu wenig den Moment leben, weil eben die Fotos nicht unmittelbar geschickt werden konnten. Der Genuss des momentanen Erlebens sollte meiner Meinung nach wieder mehr im Mittelpunkt stehen statt das Bannen von schönen Momenten in Form von Fotos oder sonstigen digitalen Medien. Das direkte Erleben wirkt mehr auf die menschliche Festplatte und wird dort gespickt mit Emotionen nicht nur gespeichert, sondern auch tiefgehend verarbeitet. Na gut, aber das ist ja nur meine Meinung. Das kann ja jeder halten, wie er will oder wie Pfarrer Nolte, der hielt, wie er es wollte. 

Zurück zu Ernestos Skateboard und meinem Hosenbein. Ich wurde also nun, sowie wir gemeinsam das Haus verließen, von einer Schildkröte verfolgt. Das Geschrei von umstehenden Passanten wich nach einiger Zeit der Gewöhnung an unseren Anblick. Schnell wurden Ernesto und ich zur Attraktion und wurden sogar vom ortsansässigen Stadtmagazin interviewt. Aber Ernesto war so viel Trubel um seine Person dann doch zu viel. Der Bekanntheit über die Kiezgrenzen hinweg zog er dann doch das Leben innerhalb seines Kiezes vor und weitere Interviews wurden von uns abgesagt. Ernesto blieb nur der kurze Moment des Ruhmes, das war ihm aber auch genug. 

Dass das Phänomen Magnetismus solche weitgehenden Folgen hat, hätten wir nicht gedacht. 

Herr Müller sieht die Welt

Kittelschürze 

Das große Plakat von Frau Tilly, das bei uns in der Küche hing, wurde von Ernesto dahingehend mit Leben gefüllt, als dass nun zwar kein Starschnitt aus der handelsüblichen Jugendpresse angefertigt wurde, aber Tilly und ihre Kittelschürze zum Nacheifern einluden. Kittelschürzen waren jetzt also der heißeste Scheiß, sozusagen ein Must-have. 

Aus dem Starschnitt wurde also ein Schnittmuster, weil Kittelschürzen gab es ja für Tiere wie Ernesto nicht. Die Kittelschürze musste von mir handgenäht werden. Da ich aber sonst keine Ahnung gehabt hätte, wie diese aussehen sollte, kam mir das Schnittmuster ganz recht. Kittelschürzen im Allgemeinen sollen ja vor allem praktisch für den Träger sein und haben an der Bauchseite kleine Taschen für Taschentücher oder Ähnliches. Im Falle von Ernesto war das relativ doof, da er auf der Bauchseite ja gar keinen Platz für Unterzubringendes gehabt hätte. Deswegen müssten die kleinen Taschen auf das Rückenteil der Kittelschürze wandern, erklärte ich Ernesto. Trotzdem wollte er unbedingt eine solche Kittelschürze tragen. 

Also machte ich mich ans Werk und nähte ihm eine solche. Ernesto war voller Stolz und ging mit seiner neuen Kittelschürze nach einer Ehrenrunde durch unseren Kiez dann zu seinen Kumpel an den Kiosk. Dort stellte er schnell fest, wie praktisch die kleinen Täschchen der Kittelschürze für den Transport von Flachmännern waren. Trotzdem stieg Ernestos Konsum der hochprozentigen Flachmänner wider Erwarten nicht. Ernestos sonstiger Lebensstil war zu sehr auf gesundes Essen und inzwischen auch Sport ausgerichtet. 

Die Kumpel am Kiosk reagierten auf Ernestos Erscheinen in Kittelschürze zunächst eher skeptisch, waren aber dann durchaus von ihrem praktischen Nutzen überzeugt. Die Frage der Kumpel nach der Traglast einer solchen Kittelschürze konnte Ernesto nicht beantworten, auch ich konnte diese Frage nur dahingehend beantworten, dass ich wusste, welche Elastizität der Stoff der Kittelschürze ungefähr hatte. Besänftigt von meinen Angaben lief Ernesto weiter durch unseren Kiez und zeigte so auch Gemüsehändler Yilmaz seine Schürze. Herr Yilmaz machte ihm das Angebot, wieder für ihn zu arbeiten, weil eine solche Kittelschürze doch sehr verkaufsfördernd sei. Ernesto erbat sich eine gewisse Zeit zum Überlegen, war dann aber ungefähr nach einer Woche überzeugt davon, dass ihm ein gelegentlicher Einsatz als Verkäufer doch wieder gut täte. Abschließend ließ Herr Yilmaz noch sein Firmenlogo auf die Kittelschürze drucken. 

Damit war Ernestos Kittelschürze vollkommen und Ernesto jetzt überglücklich!