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Herr Müller sieht die Welt

Leitplanken

Ernesto sagte mir irgendwann, als wir im Auto fuhren, dass Autofahren ja ein bisschen so sei wie mit der Carrera Bahn zu fahren. Ernesto dachte, dass die Leitplanken die Fahrzeugausrichtung beeinflussten und das Lenkrad nur Attrappe sei. Die Vermutung Ernestos, dass diese keinerlei Funktion für das Auto hätten bzw. als Kontaktschienen für die Versorgung des Autos mit Strom dienten, musste ich also korrigieren.

Meine Intervention, dass man als Fahrer die Fahrtrichtung mit dem Lenkrad selber bestimmen konnte, verblüffte ihn. Seine Verblüffung schien schier grenzenlos zu werden, als wir mit dem Auto auf der Autobahn fuhren und die Autos quer über alle Fahrbahnen kreuzten. Da war ihm endgültig klar, dass die Richtung der Fahrzeuge vom Fahrzeuglenker mithilfe des Lenkrads selbst bestimmt werden konnte. Die Bedeutung des Lenkrads ist zwar jedem Fahrzeugführer bekannt, aber Schildkröten musste diese erst klar gemacht werden. So musste ich Ernesto also erklären, dass zum Beispiel beim Rückwärtseinparken der Fahrer besonders gefordert ist, das war Ernesto gar nicht klar. Dass sich die komplette Fahrzeugausrichtung mit jedem kleinsten Lenkradeinschlag änderte, war ihm ebenfalls unbekannt, aber seine Vorstellung wurde schnell von der Realität korrigiert.

Die Aufgabe der Leitplanken wurde Ernesto also erst nach und nach klar, als er nämlich begriff, dass sie nicht zur Fahrzeugausrichtung da waren, sondern nur dafür, um Schlimmeres zu verhindern. Was Schlimmeres sein sollte, war mir zunächst unklar, aber als Ernesto dann ans Steuer wollte, wurde es mir schlagartig klar. Ich wollte die Belastbarkeit von Leitplanken ungerne austesten. Ernesto musste also bleiben, wo er war: auf dem Beifahrersitz. Schildkröten an Lenkrädern sind ja auch Gott sei Dank eher selten gesehen. Deswegen bekam Ernesto ein kleines Lenkrad, mit dem er auf dem Beifahrersitz vor sich hinlenken konnte. Dies hatte zwar keinerlei Einfluss auf die Ausrichtung des Fahrzeuges, aber das war in dem Fall egal. Er hatte trotzdem Spaß daran. Außerdem stand ihm ja nach wie vor sein ferngelenktes Auto für`s selbstständige Fahren zur Verfügung.

Der Sinn und Zweck von Leitplanken musste Ernesto also in der Theorie klar werden. Ernestos Idee, die Belastbarkeit von Leitplanken in der Praxis auszuprobieren, also dagegen zu fahren, erschien mir doch zu drastisch, zumal Ernesto nicht vernünftig bei einem Aufprall gesichert werden konnte. Gurte für Schildkröten wäre eine neuerliche Forderung für Aktivisten. Von denen gibt es ja viele.

Kowalski lebt

Nordpol – Südpol

Nach dem letzten Sommer, der uns glauben ließ, wir würden demnächst in einer Wüste leben, kamen endlich der Herbst und Winter mit kühleren Temperaturen.

In den Sommermonaten hätte ich mir beinahe die Zunge abgebissen bei dem Versuch, die Zunge zur Kühlung des Körpers, wie Hunde dies tun, einzusetzen, indem sie die Zunge heraushängen ließen. Wenn Waltraut das macht, kann das ja nicht so schlecht sein, so dachte ich. Für Menschen war diese Idee aber doof. Zum einen sah das bekloppt aus, zum anderen lief man Gefahr, sich eben auf selbige zu beißen, wie in meinem Fall geschehen. Da waren uns die Herbst- und Wintermonate schon lieber.

Gegen die Kälte konnte man sich angemessen schützen. Auch als Hund konnte man zum Beispiel Ohrenwärmer aufsetzen, um die Schlappohren zu wärmen und ein Mäntelchen umschnallen lassen, um den Körper zu wärmen. Waltraut trug einen aparten Mantel in rosa, der von mir um ihren Körper geschnallt wurde. Natürlich wurden ihre Schlappohren auch durch rosa Ohrenwärmer geschützt. Damit waren wir zumindest schonmal gegen die Kälte geschützt und außerdem völlig up-to-date.

In rosa gehüllt ging Waltraut vor die Tür und sorgte für lautstarke Freudenrufe. Neben freudigen Pfiffen der Fans sorgten ihre Ohrenwärmer und ihr Mäntelchen für Gefühlsausbrüche jeglicher Art. Der Begriff Wurst in Pelle bekam jetzt konkrete Anschaulichkeit. Ich konnte mich nur nicht entscheiden, ob Waltraut eine Leberwurst, eine Teewurst oder Anderweitiges sein sollte. Letztlich war es ja auch wurst, welche Art der Wurst sie war. Weder am Nordpol noch am Südpol wurden Würste gegessen. Auch Dackel waren dort eher selten gesehen. Dass die Kälte nun so drastisch in unser Leben trat, war nun auch nicht unser Wunsch, aber egal. Lieber zu kalt als zu warm. Die warmen Gedanken, die wir uns machten, ließ die Kälte vergessen.

Waltraut machte mit den rosa Ohrenwärmern und dem rosa Mäntelchen vor, dass es leichter war, sich gegen Kälte zu schützen als gegen Hitze. Denn wie man sich vor Hitze schützt, ist mir nach wie vor ein Rätsel. Kreuzworträtsel waren ja die von mir bevorzugten Rätsel. Was das mit Eiswüsten zu tun hat, weiß ich auch noch nicht so genau. Aber bloß weil ich verwirrt bin, muss das ja nicht für alle gelten.

Ach wären doch alle Menschen wie Waltraut!

Herr Müller sieht die Welt

April, April

Geraume Zeit dachte ich darüber nach, wie ich Ernesto mal angemessen in den April schicken konnte in Angedenken an seine Art und Weise, wie er mich letztes Jahr in den April schickte.

Lange fiel mir nichts ein, aber dann: Seine Drohne übertrug doch die Bilddaten auf den Monitor der Fernbedienung, sodass Ernesto die Bilder am Boden sehen konnte, die die Drohne in der Luft machte. Mit Hilfe eines Nachbarn, der in Sachen Bildbearbeitung und EDV sehr viel weiter war als ich, überlegte ich, ob ich nicht die Bilder aus dem Film „Planet der Affen“ für meine Zwecke gebrauchen konnte. Da gibt es nämlich eine Filmszene, in der eine Wüste überflogen wird und plötzlich sich die Hand mit der Fackel der Freiheitsstatue erhebt. So spielte ich also diese Bilddaten auf Ernestos Monitor ein, fragen Sie mich bitte nicht wie, aber es ging. Ernesto hatte jetzt die Bilder des Films auf dem Monitor seiner Fernbedienung.

Am 1. April stand er schweißgebadet vor mir und erzählte mir, die Welt würde untergehen, weil sich nämlich überall Wüsten ausbreiten würden. Sehr interessiert hörte ich mir seine Geschichte an, musste über die ungeahnte Wirkung der Bilder auf ihn grinsen und beichtete ihm dann meinen Scherz. Zunächst wollte er mir partout nicht glauben, weil er sagte, ich hätte doch gar keine Ahnung von EDV und solchem Zeug. Als ich ihm dann aber erklärte, dass ich ihm mit Hilfe eines Nachbarn die Bilder auf den Monitor spielen konnte, verstand er und musste lachen.

Seine Drohne blieb dann häufiger mal im Schrank und er beschloss, dass die Erlebnisse bei Herrn Yilmaz oder am Kiosk sehr viel abenteuerlicher waren. Er sah ein, dass die Bilder in der Realität sehr viel spannender und glaubwürdiger waren als nur auf einen Monitor zu starren. Die Bemühung um authentische Erlebnisse sollte viel häufiger Teil unseres Handelns sein. Erst die Authentizität lässt uns doch glaubhaft handeln. Die Authentizität muss natürlich bezogen auf den Aprilscherz gegeben sein, er darf nicht unrealistisch sein. Auch wenn mein Aprilscherz zunächst unrealistisch klingt, so war es doch glaubhaft für Ernesto. Ein Aprilscherz wird also scheinbar um so glaubhafter, je mehr er in die Wirklichkeit der Person passt.

Der von mir beabsichtigte Zweck – nämlich wieder weniger auf den Monitor zu starren, um im Hier und Jetzt zu leben – wurde durch meinen Aprilscherz erreicht, was wollte ich mehr.

Kopfwürmer

Was wäre, wenn

So manches Mal, wenn ich so vor mich hindenke, kommt mir schon die Frage hoch: Was wäre, wenn es gegen meine Form der MS ein Medikament gäbe, das mich aus dem Rollstuhl aufstehen lassen würde. Es wär schon komisch, weil dann mein ganzes momentanes Leben schon wieder – zum zweiten Mal – komplett umgeschmissen werden würde. Ich habe mich gerade so in meinem Zustand eingerichtet, mich daran gewöhnt, dass ich im Rolli sitze. Daran zu rütteln, erscheint mir schwer, wenn es jetzt hieße, nächste Woche um 3 kommt dagegen ein Medikament. Das wäre schon komisch.

Das erste Mal mein Leben zu verändern, war schon schwer genug, ein zweites Mal sicherlich wünschenswert, aber schon sehr anstrengend, mal von den wegfallenden Ausreden abgesehen. Nächste Woche um 4 würde es mir besser passen, falls das Schicksal nichts vor hat. Nein, aber mal im Ernst: Meine Ungeduld ist in Verbindung mit der Erkrankung wirklich sehr anstrengend. Das Gefühl, eine Belastung für seine Umwelt zu werden, muss immer wieder von mir selbst geäußert, dann aber auch relativiert werden.

Auf dem Gipfel des „hätte, wennte, könnte“-, also des „was wäre, wenn“- Gedankens, fällt mir auf, dass es sicherlich schwieriger ist 1 Million im Lotto zu gewinnen, als endlich ein Medikament für meine Form der MS zu finden. Dabei wird deutlich, dass es recht schnell ging, ein Mittel gegen Corona zu finden. Auch entgegen der Aussagen meiner damaligen Ärzte (2008) dauert es eben nicht nur 10 Jahre bis die Form meiner MS Geschichte ist. Physio, Ergo und Logo sollten dann eher eine Beschäftigungstherapie sein, bis DAS Medikament auf den Markt kommt. Das scheint sich aber leider noch etwas zu verzögern – the wind knows how long.

Angeblich ist das Leben kein Wunschkonzert. Und ich darf nicht vergessen, dass mit der Diagnose auch die Geburt meines Sohnes einherging und das war sicherlich um Lichtjahre schöner und wichtiger als diese doofe Diagnose. Damit will ich die Erkrankung nicht klein reden, aber im Gesamtzusammenhang meines Lebens relativieren. Mit anderen Worten: Wenn das Leben dir Zitronen anbietet, mach Limonade draus! Leicht gesagt und doch ernst gemeint. Oder mit anderen Worten: Jeder ist seines Glückes Schmied, aber nicht jeder Schmied hat Glück. Und ich hatte bisher eine Menge Glück mit einem tollen Sohn und einer tollen Frau. Manchmal hilft es mir, das alltägliche Sein so in größeren Kontexten zu sehen. Das lenkt von der täglichen Beschwerlichkeit ab.

ASo lässt sich der „was wäre, wenn“-Gedanke ertragen.

Kopfwürmer

Ja vs. Nein

Manchmal – an guten Tagen oder auch innerhalb eines Tages – können alle 26 Buchstaben, sogar die Umlaute, von mir verbal verständlich geäußert werden. An schlechten oder auch Scheißtagen beschränkt sich meine Kommunikation auf Ja (Kopfnicken) und Nein (Kopfschütteln). Dieser binäre Code macht mein Verhalten so manchem Rechner ebenbürtig. Nicht dass ich mich mit irgendwelchen Rechnern vergleichen möchte, aber die Auswahl ist doch sehr beschränkt, das heißt der Computer kann zwischen 0 und 1 wählen und ich zwischen ja und nein. In dieser Beschränktheit der Wahlmöglichkeiten liegt aber auch zugleich ihre größte Freiheit. Philosophen dürfte das Problem bekannt vorkommen. Für mich wird es aber manifest, weil deutlich.

Ein beherztes Jein wäre eine dritte Möglichkeit. Der Psychologe Freud hat mit Ich, Es und Überich ja auch drei Versionen des Ichs geschaffen. Die Nähe zur heiligen Dreifaltigkeit ist da schonmal verdächtig. Religiöse Gemüter können sich aber schnell auf den Schlips getreten fühlen. Dieses ist natürlich ausdrücklich nicht das Ziel, aber ein gelegentliches Überdenken der Handlungsweisen lohnt schon.

Das beherzte Jein wird von mir manchmal praktiziert. Es äußert sich in missmutiger Stimmung und einer unglaublichen Unzufriedenheit mit mir selber. Ich muss mit mir echt geduldiger werden. Vor allem darf diese Ungeduld mir gegenüber und nicht gegenüber Frau, Kind und etc. zum Tragen kommen. Eigenes Verhalten zu reflektieren hat dazu geführt, dass ich die Idee hatte, mir Fahrradreflektoren umzuhängen in der Hoffnung, dass dies auf mein Verhalten Auswirkung hätte. Als ich dann aber aussah wie ein geschmückter Weihnachtsbaum, ließ ich doch davon ab. So als lebendiger, geschmückter Weihnachtsbaum durch die Gegend zu rollern, ist nicht jedermanns Sache, meine war es zumindest nicht.

Das Reflektieren, so musste ich einsehen, hat auch seine Grenzen. Dennoch bringt es gelegentlich mal Licht ins Dunkel. Reflektion muss ja nicht nur gewollt, sondern auch gekonnt sein. Wie eine gekonnte Reflektion aussieht, wäre dann wohl gegeben, wenn eigene Verhaltensänderungen zu einer Lösung führen würden. Dies ist aber in näherer Zukunft noch nicht abzusehen. Vielleicht liegt die Lösung vieler Probleme darin, mit mir selber auf lange Sicht genügsamer zu sein. Zeiten mangelnder Reflektion schlagen dann immer voll auf das eigene Gemüt durch.

Ja und Nein sind in ihrer Aussage so absolut, ein Jein wäre da versöhnlicher. Vielleicht muss ich die Akzeptanz des Jeins noch lernen.

Herr Müller sieht die Welt

Alltag auf dem Amt

Wider Erwarten ist der Alltag auf dem Amt von Monotonie geprägt. Die Beschwerden einzelner Bürger bilden eher die Ausnahme in unserem Alltag. Nun darf man auch nicht denken, dass wir eine Karnevalshochburg wären, aber ein guter Witz oder eine nett erzählte Zote finden doch dankbare Abnehmer. Man merkt immer dann, ob ein Witz gut angekommen ist, wenn er Tage später in unserer Teeküche noch in Fragmenten oder Rudimenten erzählt wird.

Gelegentlich brachte ich Ernesto wieder mit auf`s Amt. Weiterhin war es mir untersagt, Ernesto regelmäßig mit auf`s Amt mitzubringen, aber gelegentlich war es geduldet. Dies führte dann zu gewohnten Reaktionen. Die Kolleginnen reagierten mit pubertärem Gekreische („Och ist der süüüüüß!“), die Männer reagierten mit dem Aufräumen ihres Schreibtisches. Das Aufräumen der Dreifaltigkeit des Amtes, also Locher, Tacker und Schere war zumeist eine Verlegenheitsgeste, wenn sie nicht wussten, was sie sonst noch tun sollten. Alternative Beschäftigungsmöglichkeiten bestanden ja auf dem Amt zu Hauf, wenn diese auch häufig wegignoriert wurden.

Aber kaum ein Kollege ging noch mit Maßband vor die Tür, besonders in den kalten Wintermonaten nicht. Die Sommermonate schieden dank des Klimawandels jetzt auch zunehmend aus, weil es in ihnen zu heiß war. Herbst und Frühling boten die ideale Temperatur für unsere Arbeit. Und da noch keine Gefahrenzulage in Aussicht stand, mussten wir unsere Arbeit im Außendienst auf diese Monate beschränken.

Der Alltag auf dem Amt war ansonsten bestimmt von Kaffeetrinken und Papierkram. Die Qualität des Kaffees ließ in letzter Zeit zu wünschen übrig. Erst durch die Übernahme des Kaffeekochens durch Frau Müller hatte sie sich spürbar verbessert. Auch der Geruch des verwendeten Reinigungsmittels hatte deutlich zur Auffrischung des Arbeitsklimas beigetragen. Das jetzt verwendete Mittel sorgte durch die Verwendung von einem Hauch von Patchouli für die nötige Frische in den Amtsstuben. Viele Kolleginnen gingen jetzt dazu über, sich die Haare wieder schwarz zu färben, weite wallende Kleidung zu tragen und Gothic-Musik zu hören, so zog doch eine merklich jugendliche Frische in unser Amt ein. Ich fand`s gut, die Kunden leider nur bedingt. Ihre Anträge waren von Konservativismus geprägt, sie konnten mit der neuen jugendlichen Art der Amtsführung nichts anfangen. Schade eigentlich.

Für mich bedeutete die neuerliche Art der Amtsführung einen zweiten Frühling und plötzlich sah ich auch Frau Müller mit ganz anderen Augen.

Herr Müller sieht die Welt

Überraschungseier

Ernesto kannte ja die Geburt nur als Eibewohner. Lebend auf die Welt kommen war nicht seins. Das war ja eher bei uns Säugetieren der Fall. Deswegen fühlte sich Ernesto beim Essen jedes Überraschungseis stets an seine Kindheit erinnert. Das geht wohl auch jedem Menschen so, aber im Falle von Ernesto war das noch tiefschürfender. Ernestos Kindheit war von langen Reisen und großer Einsamkeit geprägt, bevor wir uns trafen. Der lange Weg von Südamerika nach Europa schien manchmal noch in seiner geistigen Verwirrtheit durchzubrechen. Seine Ankunft in Europa war eher unfreiwillig, weil das Schiff, auf das er von einer Brücke gefallen war im Hafen von Puerto Rico, nunmal bis Kiel fuhr. Da irrte er dann noch einige Tage durch die Straßen Kiels, bevor ich ihn fand. Meine Befürchtung, dass Ü-Eier ihn aufgrund von Heimweh in schlechte Stimmung versetzten, war allerdings unbegründet. Ernesto fühlte sich in meiner Gegenwart sehr wohl und war schon sehr zu Hause in unserer Wohnung, wie er mir mehrfach versicherte.

Der Inhalt der Ü-Eier musste für Ernesto passend sein. Dinge zum Zusammenbauen waren nicht so seins, fertige Figuren waren dagegen gern genommen. Von den Happy Hippos bis zu den Schlümpfen fand sich schon alles in Ernestos Setzkasten. Die Anschaffung des Setzkastens war wohl die beste Idee von mir seit Jahren, weil alle Kleinigkeiten dort von Ernesto deponiert werden konnten. Mehrfach musste der erste Setzkasten von mir erweitert werden, sodass inzwischen eine ganze Wand voll war mit Setzkästen.

Auch unser letzter Ausflug ans Meer sorgte wieder für reichlich Setzkastenfüllung: Von kleinen Muscheln über unbewohnte Schneckenhäuser bis zu hübschen Steinchen wurde alles in seinem Setzkasten untergebracht. Als er dann anfing, in seinen Setzkasten verschiedene Formen von Sand zu stellen, hatte ich für ihn die Idee, diesen in kleinen Fläschchen zu sammeln. Insbesondere mit anderen Fundstücken vom Strand machten sich diese kleinen Fläschchen sehr gut zur Deko des Zimmers. Auch Treibholz und Reste von Fischernetzen waren als Deko für Ernestos Zimmer ideal. Beinahe hatte man das Gefühl, man befände sich an Bord eines Schiffes auf großer Fahrt oder an einem Strand. Die von Ernesto aufgestellten Liegestühle und der Strandkorb unterstrichen das von Ernesto angestrebte Flair.

Zurück zu den Ü-Eiern: Schildkröten-Eier unterschieden sich vor allem dadurch von Ü-Eiern, dass der Inhalt von der Temperatur des umgebenden Sandes abhängt. Im warmen Sand würden Ü-Eier ja immer schmelzen unabhängig vom Inhalt. Ernesto war mir Inhalt genug.

Herr Müller sieht die Welt

Die Waschstraße

Zur Verdeutlichung meiner Stellung im Amt hatte ich mir vor Jahren einen goldfarbenen VW Jetta zugelegt. Alle 3-4 Wochen fuhr ich mit diesem durch die Waschanlage. Aber eigentlich fuhr ich nur in die Waschanlage, weil Ernesto so gerne durch die Waschanlage fuhr. Er liebte es, den Bürsten bei der Arbeit zuzuschauen und er war jedes Mal begeistert, wie toll das Auto hinterher blitzte und blinkte.

Außerdem dachte er dann immer an seine Kumpels: die Wasserschildkröten. Genau wie sie frei und unbeschwert glitten die Bürsten über das Blech, verteilten ihre nasse Pracht. Er fühlte sich den Wasserschildkröten halt einfach sehr nahe, auch wenn die Waschstraße und der Ozean auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben.

Die Nähe von Waschstraßen und dem Leben im Ozean wurde mir aber auf dramatische Art und Weise klar. Und zwar in dem Moment, als ich mitbekam, dass das Wasser aus der Waschanlage wieder gereinigt und aufbereitet wurde. Da wurde mir bewusst, dass die Verantwortung für sauberes Wasser bei uns allen liegt. Wer also Wert auf ein sauberes Auto legt, dem muss auch klar sein, dass sauberes Wasser nicht vom Himmel fällt, sondern man sich nach der Nutzung um die Aufbereitung des Schmutzwassers kümmern muss.

So, moralischer Zeigefinger wieder eingeklappt. Das Leben in der Waschstraße und auf`m Amt hatte durchaus Parallelen. Nur in Waschstraßen wurde man permanent mit Wasser gebürstet, in Ämtern nicht immer. Gebürstet meint in letzterem Fall „einen Anschiss kriegen“. Wie ein trockener Anschiss aussah, merkte ich, als ich einmal zum Amtsleiter zitiert wurde. Ich hatte mich bei der Vermessung eines Grundstücks um mehrere Quadratmeter vertan. Aber die ganze Sache war dann relativ schnell geklärt. Wir konnten wieder jeder seiner Wege ziehen.

Mir wurde durch die Waschstraße wenigstens klar, wie die Bewohner des Festlandes mit den Ressourcen von Wasser umgehen und dass der Umgang mit Wasser Auswirkungen auf das Leben im Meer hat. Die Abhängigkeit braucht kein Mensch und die Bewohner der Meere schon gar nicht. Leider muss man einsehen, dass die Abhängigkeit im Kreislauf der Natur begründet ist, ein Zahnrad greift in das andere

Wer hätte gedacht, dass einen Waschstraßen zu solch tiefgründigen Gedanken hinreißen.

Herr Müller sieht die Welt

Tütensuppen

Entgegen aller Empfehlungen ging Ernesto dazu über, Tütensuppen mit Zutaten aufzupimpen. Eine schnöde Buchstabensuppe wurde so um die fehlenden Buchstaben ergänzt. Er benutzte die aufgepimpten Tütensuppen dazu, sein Vokabular zu vergrößern, die einfache Tütensuppe wurde so zum Lexikon der Eloquenz. Also wurde jetzt jede Buchstaben-Tütensuppe eingehend untersucht und auf fehlende Buchstaben hin ergänzt. Das setzte natürlich voraus, dass wir über ein reichhaltiges Angebot von Buchstabennudeln verfügten. Also mussten wir erstmal Buchstabennudeln kaufen, um ein Grundstock an Buchstaben zu haben. Genauso mussten wir uns einen Fundus an Suppengrün und sonstigen Zutaten zulegen, um die Tütensuppe aufpimpen zu können. Die Folge davon war, dass kein Kreuzworträtsel mehr vor ihm sicher war.

Ein Mittagessen mit Ernesto und Tütensuppe war für mich eher unspannend, weil Ernesto jetzt dabei Kreuzworträtsel lösen musste. Von mir darauf hingewiesen war dem ganzen spätestens dann ein Ende gesetzt, als sich Ernesto bei mir über die zu kalte Suppe beschweren wollte. Ich konnte aber nichts dafür, dass Ernesto über die Lösung der Kreuzworträtsel das Essen der warmen Suppe vergaß. Andererseits freute es mich, dass Ernesto sich seiner Aufgabe so gewissenhaft zuwandte.

Nur als er Ravioli aus der Dose aufpimpen wollte, intervenierte ich dann doch. Ich fragte ihn nach dem Sinn und Zweck von Ravioli und überhaupt Tütensuppen. Sinn und Zweck von ihnen war doch, eine kleine, schnelle Mahlzeit anzubieten. Durch das Verlängern der Dosen- und Tüten-Mahlzeiten von Ernesto wurden diese jedoch zu Abend füllenden Veranstaltungen. Der eigentliche Sinn und Zweck dieser Dosen und Tüten war jedoch damit nicht mehr gegeben. Diese Zeitersparnis beim Essen ist wohl eher ungesund. Wenn man also schon selber kocht, kann man auch gleich alles richtig kochen. Fastfood machte für uns eigentlich nur noch unterwegs Sinn. Gleiches gilt für Tütensuppen und Dosen.

Ernesto war ja von seinem Naturell der Vertreter von SLOW, von daher machte Fastfood für ihn wenig Sinn. Slowfood als Ausdruck von bewusstem Essen war genau Ernestos Überzeugung, es konnte ihm gar nicht SLOW genug sein. SLOW als Geisteshaltung sollten wir gerade in hektischen Zeiten wie diesen vielleicht wieder mehr beachten.

Als Konsequenz verzichteten wir fortan auf Tütensuppen, die Kreuzworträtsel aber blieben uns.

Herr Müller sieht die Welt

Fußball

Es war einer der belanglosen Montagnachmittage. Ernesto galoppierte unvermittelt los, kam vor unserer weißen Raufasertapete im Flur zum Stehen. Schlagartig drehte er sich zu mir um und sagte, er wolle jetzt Fußballfan werden, um wieder Farbe in sein Leben zu bringen. Die Farbe des Clubs sei ihm relativ egal, nur wie eine Biene Maja oder grün wie ein Frosch wollte er nicht aussehen und auch der Club eines großen Würstchenproduzenten aus dem Süden Deutschlands sollte es nicht sein. Da es sonst im Norden nicht viel Erstklassiges gab, blieb für ihn nur ein Verein: der FC St. Pauli.

Ernesto machte sich zunächst im Internet über den Verein und seine Fans schlau. Meine Meinung: Die Zeiten, in denen der Torwart aus der damals besetzten Hafenstraße mit dem Fahrrad zum Training und zu Spielen angeradelt kam, sind wohl endgültig vorbei. Wenn man sich den Fanshop des FC St. Pauli auf der Reeperbahn anguckt, muss man wohl sagen, die Revolution hat ihre Kinder gefressen. Vom einstigen Revoluzzer-Image des Vereins ist nicht mehr so viel geblieben, aber immer noch besser als der HSV. Trotzdem wollen die Fans des FC St. Pauli mit ihrer Unterstützung eine gewisse Geisteshaltung zeigen. Zu Zeiten eines Kevin Keegan war der HSV mal cool, aber inzwischen ist er in der Zweitklassigkeit angekommen und macht keinerlei Anstalten, den Arsch hoch zu kriegen. Das angepasste Image des HSV geht vielen über. Mal gucken, wie es in ein paar Jahren aussieht.

Dass Kiel erstklassig wurde, war zu diesem Zeitpunkt noch nicht absehbar, außerdem war Ernesto St. Pauli sowieso eher zugeneigt. Ernesto war überzeugt von der Piratenflagge des FC St. Pauli und alsbald lief er mit dieser und einem Kopftuch durch die Straßen von Kiel, wenn St. Pauli spielte. Ernestos Leidenschaft für den Fußball war sicher auch in der Wahl des Vereins begründet. Fan sein und Geradlinigkeit sind nicht immer ein Paar Schuhe. Auch hier gilt: Der Spaß steht im Vordergrund. Das Braun von St. Pauli war sicherlich kein Farbtupfer, aber ein Statement (jetzt bitte nicht falsch verstehen!). Aber es zeigt sich, dass die Liebe zu einem Verein über die Farbe des Vereins hinausgeht. Manchmal bedarf es eben eines spielerischen Umgangs mit der Materie.

Fußball ist und sollte immer nur zum Spaß betrieben werden. Genau so sollten es auch Fans und Management sehen und nicht die Verbissenheit und das Geldverdienen vor den Spaß stellen.