Herr Müller sieht die Welt

Feinripp 

Der letzte Schrei sollte auch Schildkröten nicht vorenthalten werden. Feinripp war jetzt wieder hochaktuell, so musste auch Ernesto unbedingt ein Feinripp-Leibchen tragen. Boxershorts in Feinripp standen ihm nicht so gut, von daher trug er schnell Feinripp-Unterhemden. Dass man von seiner Umwelt damit immer in eine bestimmte Schublade gesteckt wurde, kümmerte Ernesto nicht. Er war der Ansicht, dass man erstmal den Träger kennenlernen sollte, bevor man sich seine Meinung bildet. 

Im Feinripp-Unterhemd ging er dann zu seinen Kumpels am Kiosk unseres Kiezes und philosophierte mit ihnen über das Leben als Schildkröte. Manchmal brachte er strittige Fragen vom Kiosk mit nach Hause. Beispielsweise waren sich neulich die beteiligten Diskustanten uneins darüber, ob das Sein im Ist begründet oder ob das nur eine semantische Verschiebung sei. Da wir am Küchentisch die Frage auch nicht erschöpfend ausdiskutieren konnten, beschloss Ernesto, die Fragestellung wieder mit an den Kiosk zu nehmen. Die Frage wurde am Kiosk eher basal behandelt anhand von Flachmännern und Dosenbier. Das theoretische Sein, also der Flachmann, ist dem praktischen Ist, also dem Dosenbier, dann doch hochprozentiger, also übergeordnet. Was man dann mit dieser Erkenntnis anstellt, ist jedem selbst überlassen. 

Zurück zum Feinripp: Ausgehend von der Erkenntnis, dass Hochprozentiges doch geistreicher sei als Dosenbier, könnte man sich zu der Bemerkung hinreißen lassen, dass je kleiner die Verpackung desto höher die Umdrehung ODER je feiner die Rippe desto ästhetischer der Leib des Trägers ist. Dosenbier wäre dann also die häufig unterschätzte Alternative. Dosenbier wird erst in Palettenform so richtig interessant, weil 24 Kumpane mehr bewirken können als ein Einzelner. Das stellt man auch in jeder Art von Mannschaftssportart fest. Teamsport macht ja nicht nur bei Dosenbier mehr Spaß. Eine einzelne Dose bringt ja kurzzeitig Erquickung, eine ganze Palette hingegen wird dann eher zu einer abendfüllenden Veranstaltung. 

Jetzt aber zurück zum Feinripp: Man lässt sich oft genug von dem Erscheinungsbild der Feinripp-Träger täuschen. Aber wie man sieht, lohnt sich ein zweiter Blick oder eine Nachfrage. Die Engländer haben den Spruch geprägt: „Never judge a book by its cover“, und damit haben sie völlig recht! 

Ich aus meiner Warte war überrascht, mit welch tiefschürfenden Themen sich die Umstehenden am Kiosk so beschäftigten. Da kann man mal sehen, dass ein zweiter Blick immer lohnt. 

Herr Müller sieht die Welt

Brückentage 

Brückentage sind die schäumende Krönung von Feiertagen, die ja an sich schon Grund zur Freude genug sind. Frau Meier und ich machten vor solchen Tagen ein bis zwei Stunden früher Feierabend und gönnten uns ein Piccolöchen zur Feier der kommenden Tage. Brückentage auf dem Amt sind schon was Feines! 

Der frühe Feierabend auf dem Amt sorgte für viel Unmut bei den Kunden. Aber nach Erklärungen der Faktenlage war dann schnell Ruhe. Es war gar nicht so einfach, den Kunden glaubhaft zu erklären, warum die Kundenbetreuung an diesen Tagen telefonisch nicht mehr zu erreichen war. Praktisch gab es ja einen Schlüssel mit dessen Hilfe die Kunden warten mussten bis zum Anbruch der neuen Woche. Sie standen also vor verschlossenen Türen. 

Natürlich sind Brückentage für jeden Arbeitnehmer herzlich Willkommen, für mich waren sie Anlass, mit Ernesto ausgiebig zu frühstücken. Wenn die Sonne schien, nahmen wir unser Frühstück halb auf dem Balkon (Ernesto), halb in der Küche (ich) ein aufgrund meiner Höhenangst. Das machte die Kommunikation zwar etwas schwierig, aber mit Megaphon ging es. Erst die Beschwerden der angrenzenden Nachbarn ließ uns unser gemeinsames Frühstück doch vollständig in die Küche verlegen. Das Frühstück in der Küche war sowieso viel heimeliger an unserem Küchentisch. An solchen Tagen mochten wir beide das englische „full breakfast“ am liebsten, mit gebackenen Bohnen, Spiegelei mit Speck, gebratener Tomate und natürlich gebuttertem Toast. Das kleine Piccolöchen, das ich mir vorher mit Frau Meier auf dem Amt gegönnt hatte, bekam jetzt eine angemessene Grundlage. 

Ernesto genoss die Tage meiner frühen Heimkehr vom Amt. Die Tatsache, dass dann immer ein schönes Frühstück anstand, war für ihn umso erquicklicher, da er gebratene Tomate über alles liebte. Er genoss die Tatsache, dass ich ganz viel Zeit für ihn und unsere Unternehmungen hatte. Diese wurden schon Tage im Voraus von uns geplant. In der Stadt sollte es ein neues Café geben mit Waffeln im Angebot. Dieses wollte Ernesto am letzten Himmelfahrts-Wochenende unbedingt ausprobieren und auch ich war neugierig. Wir wurden beide nicht enttäuscht. Die angebotenen Waffeln mit Fruchtsalat, Eis und Topping waren sehr lecker und die Teller zusätzlich mit unseren Namen aus Schokoladensoße verziert. So wurde unser Ausflug ein voller Erfolg und wir zogen überglücklich von dannen. 

Die Tatsache, dass Brückentage überhaupt nichts mit Brücken zu tun haben, konnten wir gut verwinden. 

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Türklinken 

Türklinken sollen einem ja beim Öffnen der Tür behilflich sein. Ernesto versuchte 5-15 Mal erfolglos die Türen mit Hilfe der Türklinken in unserer Wohnung zu öffnen, stellte dann aber schnell fest, dass die Türklinken in einer für ihn unpassenden Höhe angebracht waren. 

Da kam mir die Idee, dass doch elektrische Schiebetüren, betrieben vom Solarmodul an seinem Fenster, in Verbindung mit einem Bewegungsmelder die Türen für Ernesto öffnen konnten. Ich hatte bei meinen Überlegungen jedoch vergessen, dass die besagten Schiebetüren sich auch wieder automatisch schlossen, was für Ernesto eine Gefahr bedeutete. Also musste das Schließen der Türen so langsam wie möglich bzw. in Intervallen gestaltet werden. Leider konnte trotzdem nicht verhindert werden, dass Ernesto mehrfach von den Schiebetüren eingeklemmt wurde. Dies bot schon ein lustiges Bild – eine Schildkröte so hochkant zwischen zwei Schiebetüren eingeklemmt zu sehen. Gott sei Dank war er ja durch seinen Panzer vor größeren Verletzungen geschützt. 

Der Abbau der Türklinken und der Einbau der Schiebetüren setzte natürlich einen kompletten Umbau der Türzargen voraus. Bald sah unsere gesamte Wohnung aus wie eine Bankfiliale. Es fehlten nur Schalter mit den freundlichen Damen dahinter. Gott sei Dank kam nicht zufällig jemand vorbei und wollte ein Konto eröffnen. Ernestos Problem mit den Türklinken in unserer Wohnung war somit nun erledigt. Allerdings bestand noch die Haustür als letzte Hürde auf dem Weg zur größtmöglichen Selbstständigkeit für Ernesto. 

Mittels einer Chipkarte wie in Hotels, war die Tür nur von Befugten zu öffnen. Die mangelnde Höhe von Ernesto musste leider jedes Mal von mir überwunden werden, sprich ich musste jedes Mal mit der passenden Karte die Tür für ihn öffnen. Der Versuch, Ernesto mit der Karte und unserem Trampolin auf die geeignete Höhe zu bringen, wurde nach kurzer Zeit wieder eingestellt, weil Ernesto zwar auf diesem Wege sämtliche Blumentöpfe im Treppenhaus kennenlernen durfte, aber die Tür leider trotzdem zu blieb, da er es im Flug nicht schaffte, die Karte in den entsprechenden Schlitz einzustecken. 

Wir mussten also feststellen, dass es leider nur die Alternative für ihn gab, mit dem Handy Bescheid zu geben, wenn er ins Haus wollte oder heraus. So leid es mir tat, aber wir fanden keine andere Lösung. 

So harmlos Türklinken für uns auch erscheinen mögen, können sie doch für manch einen eine unüberbrückbare Barriere darstellen. Auch hier kommt es auf die Perspektive an. 

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Modelleisenbahn 

Meine Modelleisenbahn fristete im Keller ein einsames Leben. Hoch erfreut war Ernesto, als er diese zufällig entdeckte. Ein bisschen sah es aus wie bei Godzilla, als er sich zwischen den Figuren und den Häusern auf der Modelleisenbahn bewegte. Völlig gefesselt von seiner neuen Perspektive betrachtete er die Welt nun aus dieser für ihn ungewohnten Warte. Aber Godzilla war seine Sache nicht, nach einem Tag in der neuen Perspektive entschloss er sich doch, wieder die Steuerung vom Trafo aus zu übernehmen und die Modelleisenbahn aus dieser Position zu betrachten. 

Eigentlich könnte die Geschichte hier zu Ende sein. Aber nein, nein, es wäre ja nicht Ernesto, wenn es so einfach wäre. Die Dunkelheit in den Tunneln hatte es ihm angetan. Nicht dass er jetzt in der Dunkelheit Zugunglücke veranstalten wollte, aber er nutzte die Dunkelheit in den Tunneln, um sich und anderes darin zu verstecken. Zur großen Überraschung der Umstehenden kamen Züge verkleidet aus den Tunneln gefahren. Ein schlichtes Abendkleid war da nicht genug. Passend zum Alpenpanorama der Bahn wurde der Zug zum Beispiel in Lederhose mit Gamsbart verkleidet. 

Die Dunkelheit der Tunnel veranlasste Ernesto zu immer waghalsigeren Unternehmungen. Der Überraschungseffekt, wenn sie aus dem Tunnel kamen, sorgte am Bahnübergang regelmäßig für Kollisionen von die Gleise überquerenden Fahrzeugen und Zügen. Ernesto hatte große Freude an diesen Zugunglücken, diese war aber nicht von langer Dauer. Ihn holte doch recht schnell das schlechte Gewissen bzw. das Mitgefühl ein von all den Opfern der Zugunglücke. Von daher blieb seine Begeisterung noch im Rahmen. Aber trotzdem ließ er es sich nicht nehmen, hin und wieder einen Zug kollidieren zu lassen. Es sah zugegebener Maßen auch recht lustig aus, wenn ein verkleideter Zug mit einem PKW kollidierte. 

Auch nutzte Ernesto die Dunkelheit der Tunnel als Verstecke für illegale Substanzen. Aber die Beschränktheit der Eisenbahn auf die Plattengröße begrenzte einen Handel im großen Stil. Bei den illegalen Substanzen beschränkte er sich irgendwann dann auf deren Einnahme, anstatt mit ihnen zu handeln, da die Dealerei ihm dann auch überflüssig erschien, weil die Substanzen ja im Zuge einer Offensive der Bundesregierung jetzt legal wurden. Er beschränkte sich jetzt darauf, während des Eisenbahnspiels ordentlich einen durchzuziehen, statt sie in Eisenbahntunneln zu verstecken. Ich nahm diese Einsicht wohlwollend zur Kenntnis. Man konnte auch high Eisenbahnfahren, wer wollte da schon fliegen. 

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Photosynthese 

Eines Tages sprach mich Ernesto an, wie denn bitte schön Pflanzen wachsen würden. Von Tieren kannte er das ja – sie benötigten Futter und Wasser – aber wie Pflanzen wuchsen, war ihm relativ neu. Auch dass sie Sonnenlicht und Kohlenmonoxid brauchten und dabei Sauerstoff produzierten, war ihm unbekannt. Seine Schlussfolgerung, dass es also demzufolge sehr gut sei, wenn immer mehr Kohlenmonoxid in der Erdatmosphäre vorhanden sei, war leider ein Trugschluss, wie ich ihm erklärte. Dieses führte dazu, dass bestimmte atmosphärische Zyklen ihre Kraft und Bedeutung verloren, erklärte ich ihm weiter. Er verstand nix. Erwartungsschwanger sah er mich an, aber besser konnte ich es ihm auch nicht erklären. 

Also beschloss Ernesto, einen Brief an die UNO zu schreiben, in dem er Klarheit forderte. Klimaschutzabkommen wurden alle Jubeljahre neu gemacht, aber kein Mensch und keine Schildkröte verstanden mehr warum. Genau das wollte er aber wieder verstehen. Sich vor eine Botschaft zu setzen, war ihm dann doch zu zugig. Ihm waren geschlossene Räume behaglicher. „Photosynthese sollte wieder für alle Pflanzen uneingeschränkt möglich sein“, so weiter seine Forderung in seinem Schreiben an die UNO. Die Gefahren von Photosynthese waren ja relativ überschaubar und so musste die UNO ihm doch zustimmen, zumal seine Forderung doch sehr basal war. Zumindest fand er dies. Ich bereitete mich darauf vor, Ernesto gegebenenfalls bei nicht passender oder gar keiner Antwort wieder aufzubauen. 

Täglich wartete Ernesto nun auf Antwort von der UNO. Als nach Tagen und Wochen nichts kam, musste er doch von mir aufgebaut werden. So gingen wir in sein Lieblingsrestaurant. Als wir beim Essen den Kellnern von Ernestos Schreiben erzählten und berichteten, dass keinerlei Antwort kam, sagten sie zu unserem Erstaunen, dass António Guterres (Generalsekretär der UNO) gerade an unserem Nachbartisch gesessen habe und sie ihm das nächste Mal von Ernestos Anliegen berichten würden. Sie waren sehr zuversichtlich, dass sich zukünftig einiges ändern würde. 

Erfüllt von dem Ausblick auf Erfüllung seiner Wünsche begaben wir uns auf den Heimweg. António Guterres hat sich leider nie gemeldet, aber so wurde auch Ernesto die häufig unterschätzte Bedeutung von Photosynthese klar und er beschloss, wieder häufiger Tomate, Gurke und Salat zu essen. Nie hätte er gedacht, dass Tomate, Gurke und Salat für das Weltklima von so entscheidender Bedeutung sind. 

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Oben 

Neulich wollte Ernesto im Supermarkt – ohne darüber nachzudenken – in das oberste Regal greifen. Dabei lernte Ernesto gleich das Gegenteil von „oben“ kennen, indem er nach „unten“ fiel. Oben ist das genaue Gegenteil von unten, was uns durch die Schwerkraft vorgegeben ist, denn Dinge fallen immer nach unten. Dieser räumliche, binäre Code lässt uns glauben, dass wir nur in zwei Dimensionen lebten. Aber nein, nein, es sind tatsächlich mehr. Es sind tatsächlich vier oder so, auf jeden Fall mehr. 

Oben lässt sich ja leicht mit dem Besten assoziieren, andererseits schwimmt Scheiße ja aber auch immer oben. Was nun davon gerade von Bedeutung ist, sollte jeder für sich selbst entscheiden. Dies sei hier nur mal angemerkt. 

Eine Orientierung nach oben ist vermeintlich erstmal die beste Wahl. Erst im Laufe der Zeit merkt man, dass die wahre Größe im Mittelmaß liegt, denn die Mitte wird oft unterschätzt. 

Das Mittelmaß war für Ernesto von besonderer Bedeutung und besonderem Interesse. Seine Leistungen waren in vielen Dingen auch nur mittelmäßig, zum Beispiel konnte er ja nur bedingt schnell rennen. Auch schweres Heben war nicht unbedingt seins. Deswegen ging Ernesto gerne zur Rennbahn, weil er es faszinierend fand, wie dort die Pferde so schnell laufen konnten, ohne doch ein vermeintliches Ziel zu haben. Für ihn wäre das Laufen in hoher Geschwindigkeit über so weite Strecken schon eine enorme Leistung. Pferde waren nunmal viel größer. Wäre eine Schildkröte dieselbe Strecke genauso schnell wie die Trabrennpferde gelaufen, könnte man problemlos von einem Wunder sprechen. Da dies aber nicht der Fall war, blieb Ernesto nichts anderes übrig als Geld auf die Pferde zu setzen, anstatt selbst mitzulaufen. Außerdem war es kaum vorstellbar, dass es jemals Trabrennhelme für Schildkröten geben würde. Oben war für Ernesto demnach in vielen Dingen schwer zu erreichen. 

Die Relativität von dem, das oben ist, wird hier hoffentlich jedem deutlich. Ein Streben nach oben oder dem Besten macht ja nur begrenzt Sinn, da mit dem Streben nach dem Besten auch immer die Einsicht verbunden sein sollte, was auch immer für das Individuum das Beste ist. Das bloße Streben nach dem vermeintlich Besten oder gar dem materiellen Wert macht eigentlich keinen Sinn, weil es immer jemanden gibt, der mehr hat, mehr ist, mehr kann. Das Individuum ist also der Maßstab für alles Handeln. 

In Bezug auf Ernesto: Ernesto war zufrieden mit dem, was er hatte und konnte. Ein „Höher, Schneller, Weiter“ war für ihn nicht von Bedeutung. Da sollten wir uns alle eine „Scheibe von abschneiden“. 

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Hochbett 

Tage-, wochen- und monatelang lag Ernesto mir in den Ohren: Er wollte jetzt unbedingt ein Hochbett haben, weil das sei nun der heißeste Scheiß, den man unbedingt haben müsse. 

Ich tat wie mir geheißen und versuchte, für Ernesto ein Hochbett zu bauen. Schnell stellte ich dabei fest, dass Schildkröten ja keine Leiter hochgehen können, was sie aber müssten, um ins Bett zu kommen. Also überlegte ich mir, dass doch ein Lift, angetrieben durch Solarzellen, die draußen am Fenster angebracht werden, das Problem lösen könnte. So konnte Ernesto ganz entspannt ins Bett „marschieren“. Ein bisschen verleitete es Ernesto dazu, Harakiri zu machen, weil er auf der bettabgewandten Seite aus dem Fahrstuhl sprang, um auf den Matratzen und Kissen weich zu landen, welche er vorher daruntergelegt hatte. Die Benutzung des Fahrstuhls schien ihm große Freude zu bereiten. Oft drückte er die Notklingel, weil er häufiger stecken blieb. 

Seine Idee, die Nachbarschildkröten zur gemeinsamen Fahrstuhlfahrt einzuladen, fand großen Anklang bei ihm und Ernie und Bert. Auch das Springen aus dem Fahrstuhl war von Ernie und Bert hochgeschätzt. Und so vergnügten sich die Schildkröten mit dem neuen Hochbett. Der Sprung aus dem Lift war für alle 3 eine große Überwindung, weil ihnen der natürliche Schutz, von dem sie sonst ja permanent umgeben waren, gar nicht mehr helfen konnte (ihr Panzer). So kam der Sprung einem Extremsport gleich, der jedes Mal wieder große Überwindung kostete. Ich für meinen Teil machte mir eine Menge Sorgen, aber nachdem ich sah, wieviel Spaß sie hatten bei dem Sturz aus dem Fahrstuhl, ließ ich sie gewähren. Ich beschloss für mich, Extremsportarten wären meine Sache nicht. Zum einen bin ich zu alt dafür und zum anderen musste ich auch niemandem mehr noch irgendetwas beweisen, meine Jugend schon mal gar nicht. 

Also blieb ich bei meinem Hobby: Briefmarken sammeln. Da konnte höchstens eine Windböe bei geöffnetem Fenster meine Arbeit von Stunden dahinraffen. Das war mir Risiko genug. Während Ernesto und Ernie und Bert sich an immer waghalsigeren Sprüngen versuchten, vom einfachen Salto bis zur eingedrehten Schraube, war ich nur froh, wenn alle 3 danach wieder heile am Küchentisch saßen. Die Idee, die Sprünge mit Haltungsnoten zu bewerten, kam von den Dreien und so bewerteten sie sich und ihre Sprünge. Ein Versicherungsmakler hätte seine helle Freude gehabt. 

Schlafen im Hochbett birgt immer ein gewissen Risiko. 

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Die Sandburg 

Nach den Erfahrungen am Steinhuder Meer fuhren wir dann – wie schon gesagt – an die Ostsee. Die Auswahl der ortsansässigen Beach Bars war hier tatsächlich größer als am Steinhuder Meer. Unser Ostsee-Urlaub bot eine Vielzahl von Möglichkeiten, sich zu beschäftigen. Nachdem wir unser Können im Minigolfen unter Beweis gestellt hatten, wollten wir jetzt unsere Fähigkeiten und Fertigkeiten im Bauen von Sandburgen verbessern. 

Unsere Sandburg sollte ohne weiteres Equipment wie Gitter und Gatter auskommen. Falltüren und Zugbrücken sollten in unserer Sandburg noch nicht vorkommen. Sie sollte mehr der basale Typ der Sandburg werden. Wir brauchten erstmal die Grundform und übergossen diese dann zum besseren Aushärten mit Meereswasser. Weil unsere Stile ja bekanntlich sehr verschieden waren, beschlossen wir, zunächst eine Grundform herzustellen und diese dann gegebenenfalls weiter auszubauen. Es würde also zwei Sandburgen geben, eine im Stile von Ernesto und eine im Stile von mir. 

Wir trennten die beiden Burgen durch einen tiefen Graben voneinander. Da uns eine Mauer oder ein Wall doch zu sehr an die innerdeutsche Staatsgrenze erinnerte, schien uns ein tiefer Graben doch passender als Trennungszeichen der beiden Burgen. 

Wie schon die Einrichtung der Zimmer von Ernesto in unserer Wohnung zu befürchten ließ, verlor sich Ernesto allzu sehr in der Verspieltheit der Dinge. Die gerade Kante war dann eher meine Sache. Klare Strukturen und Formen kennzeichneten meine Burg. Schließlich konnte ich Ernesto am Ende noch dazu überreden, beide Burgen mit einer Brücke zu verbinden, um dem Betrachter wenigstens ein kleines Signal der Verbundenheit zu senden. 

Das Kleinklein von Ernesto zeigte sich bereits in der Ausformung der Burgzinnen. Diese waren bei Ernestos Burg kleinen Statuetten ähnlich, somit auch eher zeitaufwändig in ihrer Herstellung. Der von Ernesto gewünschte Effekt stellte sich dennoch bei ihm nicht ein, sodass Ernesto dazu überging, diese doch in herkömmlicher Art und Weise zu gestalten. Die herkömmliche Art der Burgzinnen war dann auch die von Ernesto präferierte Art der Gestaltung. 

Abschließend schossen wir noch eine Reihe von Selfies mit unseren Burgen, um dann dabei zuzusehen, wie die Burgen vom ansteigenden Wasser eingenommen wurden. Wenn auch die Gezeiten an der Ostsee eher schwach waren, so reichte es dennoch für das Dahinraffen unserer harten Arbeit. 

Es zeigte sich wieder einmal die Vergänglichkeit alles Irdischen. 

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1. April 

Nachdem wir den Februar in diesem Jahr mit dem 29. erleben durften, in der Hoffnung, dass kein Mensch da Geburtstag hat, kam nun der 1. April. Ernesto und ich erwarteten Flachwitze zur Belustigung anderer. Völlig überraschend kamen die Witze nicht von anderen, sondern von Ernesto. Er schickte mich nämlich in den April. 

Gleich morgens ging es los. Ernesto sagte mir, dass Brötchen heute bei unserem Bäcker nur 15 Cent kosten sollten. Als ich daraufhin beim Bäcker stand mit dem passenden Kleingeld in der Hand, blickte ich in fragende Augen. Da hat mich wohl jemand veräppelt. 

Der Tag nahm seinen weiteren Verlauf als ich in der Mensa, in der ich immer mein Mittagessen einzunehmen pflegte, mit meinem Studentenausweis, der mich auf schmeichelhafte 35 Jahre herunterdatierte, stand. Nicht mehr nur, dass ich auf dem Studentenausweis jünger war, ich war jetzt auch eine Schildkröte, denn Ernesto grinste mich freundlich von dem Ausweis an. 

Nachdem ich aus dem Dilemma aus der Mensa Gott sei Dank unbeschadet herauskam, da dort verständnisvolle Mitarbeiter arbeiteten, wartete in unserem Stammcafé eine weitere Überraschung. Zur Feier des Tages durften heute die Gäste die Kellner bedienen. Zunächst hielt ich dies auch für einen Aprilscherz, stellte dann aber fest, dass es ernst gemeint war. Dieser Perspektivwechsel tat allen gut, da man so mal die Sichtweise eines anderen kennen lernte. Als Dank für die Teilnahme am Experiment bekamen alle Gäste einen Cappuccino auf`s Haus. 

Unbekümmert kam ich zu Hause an und dachte mir nichts Böses, als plötzlich ein Schwall Wasser auf mich herniederging, als ich in die Küche trat. Ernesto hatte oberhalb der Küchentür einen Eimer mit Wasser platziert, der sich nun über mich ergoss. Ernesto lachte sich scheckig! 

Nachdem ich meine Haare getrocknet hatte, fragte ich mich, wie ich mich rächen könnte, aber auf die Schnelle fiel mir nichts ein. Außerdem war es bereits kurz vor unserem Abendbrot, also nahm ich mir vor, meine Rache auf das nächste Jahr zu vertagen, zumal er auf der Hut gewesen wäre, da er mit Racheattacken von mir rechnete. 

Na, warte, im nächsten Jahr bist du fällig! 

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Güterverkehr 

Nachdem ich mehrere Wochen den Verkehr auf unseren Straßen beobachtet hatte, kam ich zum Schluss, dass viel zu viele Waren über die Straße befördert wurden. Der Reifenabrieb war nicht unerheblich und die Beschwerden über Mikroplastik nahmen ja zu. Aber auch die Belastung durch Abgase soll hier nicht verborgen bleiben. Kurzum Güterverkehr musste von der Straße wieder mehr auf die Schiene gebracht werden. 

Paketboten fuhren allerdings nur selten mit der Tram. Wie sollten also die Pakete zu den Kunden kommen? Lastenräder sind von der Post schon entdeckt, daher mainstream. Musste also etwas Neues her für die Auslieferung der Pakete. 

Jetzt kam Ernesto zugute, dass seine Drohne vor sich hin schlief. Die Auslieferung von Paketen mithilfe der Drohne wurde nun auch von Paketriesen wie Amazon entdeckt. Auch Ernesto half unserem Paketboten gelegentlich bei der Auslieferung ihrer Paketsendungen. Drohnen hatten den großen Vorteil, dass sie direkt zum Kunden geliefert werden konnten, vorausgesetzt dieser konnte gut fangen. Die Kunden mussten somit zu einer vereinbarten Zeit auf dem Balkon oder draußen vor der Tür warten, sofern sie ein Paket erwarteten. Daher hatten Paketsendungen auch stets eine soziale Komponente, weil sich die Menschen draußen trafen, um ihre Pakete in Empfang zu nehmen bzw. sie zu fangen. Von der sportlichen Komponente reden wir jetzt mal nicht, aber natürlich tat diese Art der Postzustellung auch etwas für die Gesundheit der Empfänger. Die soziale Komponente konnte so in vielen Fällen noch vertieft werden, es entstanden auch manchmal Beziehungen durch Paketempfang, sozusagen das Paarship von Amazon. 

Ernesto und ich bekamen so Kontakt zu anderen Menschen mit Schildkröten, die ebenfalls Sportartikel für Schildkröten bestellten. Auch sie konnten ein Lied davon singen, wie schwierig es war, diese in passender Größe zu erhalten. 

Was mich betraf: Die Auslieferung der Pakete via Drohne erhöhte meine Chancen, in unmittelbarer Nachbarschaft ein weibliches Wesen kennenzulernen und siehe da: Am gestrigen Abend lernte ich Frau Hasemuckel von schräg gegenüber kennen. Sie arbeitete wie ich auf dem Amt und war somit die Umgangsformen des Amts gewohnt. Für ein näheres Kennenlernen verabredeten wir uns für die nächste Woche. Dort sollte ebenfalls ein Austausch von Amtsintimitäten stattfinden. 

Um die Feinstaubbelastung so gering wie möglich zu halten, fuhren wir zu unserem ersten Rendezvous mit der Straßenbahn. Die Schiene als Möglichkeit der Beförderung von Gütern war wieder einmal von uns in den Mittelpunkt gerückt worden. So gehört sich das!