Herr Müller sieht die Welt

Hochbett 

Tage-, wochen- und monatelang lag Ernesto mir in den Ohren: Er wollte jetzt unbedingt ein Hochbett haben, weil das sei nun der heißeste Scheiß, den man unbedingt haben müsse. 

Ich tat wie mir geheißen und versuchte, für Ernesto ein Hochbett zu bauen. Schnell stellte ich dabei fest, dass Schildkröten ja keine Leiter hochgehen können, was sie aber müssten, um ins Bett zu kommen. Also überlegte ich mir, dass doch ein Lift, angetrieben durch Solarzellen, die draußen am Fenster angebracht werden, das Problem lösen könnte. So konnte Ernesto ganz entspannt ins Bett „marschieren“. Ein bisschen verleitete es Ernesto dazu, Harakiri zu machen, weil er auf der bettabgewandten Seite aus dem Fahrstuhl sprang, um auf den Matratzen und Kissen weich zu landen, welche er vorher daruntergelegt hatte. Die Benutzung des Fahrstuhls schien ihm große Freude zu bereiten. Oft drückte er die Notklingel, weil er häufiger stecken blieb. 

Seine Idee, die Nachbarschildkröten zur gemeinsamen Fahrstuhlfahrt einzuladen, fand großen Anklang bei ihm und Ernie und Bert. Auch das Springen aus dem Fahrstuhl war von Ernie und Bert hochgeschätzt. Und so vergnügten sich die Schildkröten mit dem neuen Hochbett. Der Sprung aus dem Lift war für alle 3 eine große Überwindung, weil ihnen der natürliche Schutz, von dem sie sonst ja permanent umgeben waren, gar nicht mehr helfen konnte (ihr Panzer). So kam der Sprung einem Extremsport gleich, der jedes Mal wieder große Überwindung kostete. Ich für meinen Teil machte mir eine Menge Sorgen, aber nachdem ich sah, wieviel Spaß sie hatten bei dem Sturz aus dem Fahrstuhl, ließ ich sie gewähren. Ich beschloss für mich, Extremsportarten wären meine Sache nicht. Zum einen bin ich zu alt dafür und zum anderen musste ich auch niemandem mehr noch irgendetwas beweisen, meine Jugend schon mal gar nicht. 

Also blieb ich bei meinem Hobby: Briefmarken sammeln. Da konnte höchstens eine Windböe bei geöffnetem Fenster meine Arbeit von Stunden dahinraffen. Das war mir Risiko genug. Während Ernesto und Ernie und Bert sich an immer waghalsigeren Sprüngen versuchten, vom einfachen Salto bis zur eingedrehten Schraube, war ich nur froh, wenn alle 3 danach wieder heile am Küchentisch saßen. Die Idee, die Sprünge mit Haltungsnoten zu bewerten, kam von den Dreien und so bewerteten sie sich und ihre Sprünge. Ein Versicherungsmakler hätte seine helle Freude gehabt. 

Schlafen im Hochbett birgt immer ein gewissen Risiko. 

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Die Sandburg 

Nach den Erfahrungen am Steinhuder Meer fuhren wir dann – wie schon gesagt – an die Ostsee. Die Auswahl der ortsansässigen Beach Bars war hier tatsächlich größer als am Steinhuder Meer. Unser Ostsee-Urlaub bot eine Vielzahl von Möglichkeiten, sich zu beschäftigen. Nachdem wir unser Können im Minigolfen unter Beweis gestellt hatten, wollten wir jetzt unsere Fähigkeiten und Fertigkeiten im Bauen von Sandburgen verbessern. 

Unsere Sandburg sollte ohne weiteres Equipment wie Gitter und Gatter auskommen. Falltüren und Zugbrücken sollten in unserer Sandburg noch nicht vorkommen. Sie sollte mehr der basale Typ der Sandburg werden. Wir brauchten erstmal die Grundform und übergossen diese dann zum besseren Aushärten mit Meereswasser. Weil unsere Stile ja bekanntlich sehr verschieden waren, beschlossen wir, zunächst eine Grundform herzustellen und diese dann gegebenenfalls weiter auszubauen. Es würde also zwei Sandburgen geben, eine im Stile von Ernesto und eine im Stile von mir. 

Wir trennten die beiden Burgen durch einen tiefen Graben voneinander. Da uns eine Mauer oder ein Wall doch zu sehr an die innerdeutsche Staatsgrenze erinnerte, schien uns ein tiefer Graben doch passender als Trennungszeichen der beiden Burgen. 

Wie schon die Einrichtung der Zimmer von Ernesto in unserer Wohnung zu befürchten ließ, verlor sich Ernesto allzu sehr in der Verspieltheit der Dinge. Die gerade Kante war dann eher meine Sache. Klare Strukturen und Formen kennzeichneten meine Burg. Schließlich konnte ich Ernesto am Ende noch dazu überreden, beide Burgen mit einer Brücke zu verbinden, um dem Betrachter wenigstens ein kleines Signal der Verbundenheit zu senden. 

Das Kleinklein von Ernesto zeigte sich bereits in der Ausformung der Burgzinnen. Diese waren bei Ernestos Burg kleinen Statuetten ähnlich, somit auch eher zeitaufwändig in ihrer Herstellung. Der von Ernesto gewünschte Effekt stellte sich dennoch bei ihm nicht ein, sodass Ernesto dazu überging, diese doch in herkömmlicher Art und Weise zu gestalten. Die herkömmliche Art der Burgzinnen war dann auch die von Ernesto präferierte Art der Gestaltung. 

Abschließend schossen wir noch eine Reihe von Selfies mit unseren Burgen, um dann dabei zuzusehen, wie die Burgen vom ansteigenden Wasser eingenommen wurden. Wenn auch die Gezeiten an der Ostsee eher schwach waren, so reichte es dennoch für das Dahinraffen unserer harten Arbeit. 

Es zeigte sich wieder einmal die Vergänglichkeit alles Irdischen. 

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1. April 

Nachdem wir den Februar in diesem Jahr mit dem 29. erleben durften, in der Hoffnung, dass kein Mensch da Geburtstag hat, kam nun der 1. April. Ernesto und ich erwarteten Flachwitze zur Belustigung anderer. Völlig überraschend kamen die Witze nicht von anderen, sondern von Ernesto. Er schickte mich nämlich in den April. 

Gleich morgens ging es los. Ernesto sagte mir, dass Brötchen heute bei unserem Bäcker nur 15 Cent kosten sollten. Als ich daraufhin beim Bäcker stand mit dem passenden Kleingeld in der Hand, blickte ich in fragende Augen. Da hat mich wohl jemand veräppelt. 

Der Tag nahm seinen weiteren Verlauf als ich in der Mensa, in der ich immer mein Mittagessen einzunehmen pflegte, mit meinem Studentenausweis, der mich auf schmeichelhafte 35 Jahre herunterdatierte, stand. Nicht mehr nur, dass ich auf dem Studentenausweis jünger war, ich war jetzt auch eine Schildkröte, denn Ernesto grinste mich freundlich von dem Ausweis an. 

Nachdem ich aus dem Dilemma aus der Mensa Gott sei Dank unbeschadet herauskam, da dort verständnisvolle Mitarbeiter arbeiteten, wartete in unserem Stammcafé eine weitere Überraschung. Zur Feier des Tages durften heute die Gäste die Kellner bedienen. Zunächst hielt ich dies auch für einen Aprilscherz, stellte dann aber fest, dass es ernst gemeint war. Dieser Perspektivwechsel tat allen gut, da man so mal die Sichtweise eines anderen kennen lernte. Als Dank für die Teilnahme am Experiment bekamen alle Gäste einen Cappuccino auf`s Haus. 

Unbekümmert kam ich zu Hause an und dachte mir nichts Böses, als plötzlich ein Schwall Wasser auf mich herniederging, als ich in die Küche trat. Ernesto hatte oberhalb der Küchentür einen Eimer mit Wasser platziert, der sich nun über mich ergoss. Ernesto lachte sich scheckig! 

Nachdem ich meine Haare getrocknet hatte, fragte ich mich, wie ich mich rächen könnte, aber auf die Schnelle fiel mir nichts ein. Außerdem war es bereits kurz vor unserem Abendbrot, also nahm ich mir vor, meine Rache auf das nächste Jahr zu vertagen, zumal er auf der Hut gewesen wäre, da er mit Racheattacken von mir rechnete. 

Na, warte, im nächsten Jahr bist du fällig! 

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Güterverkehr 

Nachdem ich mehrere Wochen den Verkehr auf unseren Straßen beobachtet hatte, kam ich zum Schluss, dass viel zu viele Waren über die Straße befördert wurden. Der Reifenabrieb war nicht unerheblich und die Beschwerden über Mikroplastik nahmen ja zu. Aber auch die Belastung durch Abgase soll hier nicht verborgen bleiben. Kurzum Güterverkehr musste von der Straße wieder mehr auf die Schiene gebracht werden. 

Paketboten fuhren allerdings nur selten mit der Tram. Wie sollten also die Pakete zu den Kunden kommen? Lastenräder sind von der Post schon entdeckt, daher mainstream. Musste also etwas Neues her für die Auslieferung der Pakete. 

Jetzt kam Ernesto zugute, dass seine Drohne vor sich hin schlief. Die Auslieferung von Paketen mithilfe der Drohne wurde nun auch von Paketriesen wie Amazon entdeckt. Auch Ernesto half unserem Paketboten gelegentlich bei der Auslieferung ihrer Paketsendungen. Drohnen hatten den großen Vorteil, dass sie direkt zum Kunden geliefert werden konnten, vorausgesetzt dieser konnte gut fangen. Die Kunden mussten somit zu einer vereinbarten Zeit auf dem Balkon oder draußen vor der Tür warten, sofern sie ein Paket erwarteten. Daher hatten Paketsendungen auch stets eine soziale Komponente, weil sich die Menschen draußen trafen, um ihre Pakete in Empfang zu nehmen bzw. sie zu fangen. Von der sportlichen Komponente reden wir jetzt mal nicht, aber natürlich tat diese Art der Postzustellung auch etwas für die Gesundheit der Empfänger. Die soziale Komponente konnte so in vielen Fällen noch vertieft werden, es entstanden auch manchmal Beziehungen durch Paketempfang, sozusagen das Paarship von Amazon. 

Ernesto und ich bekamen so Kontakt zu anderen Menschen mit Schildkröten, die ebenfalls Sportartikel für Schildkröten bestellten. Auch sie konnten ein Lied davon singen, wie schwierig es war, diese in passender Größe zu erhalten. 

Was mich betraf: Die Auslieferung der Pakete via Drohne erhöhte meine Chancen, in unmittelbarer Nachbarschaft ein weibliches Wesen kennenzulernen und siehe da: Am gestrigen Abend lernte ich Frau Hasemuckel von schräg gegenüber kennen. Sie arbeitete wie ich auf dem Amt und war somit die Umgangsformen des Amts gewohnt. Für ein näheres Kennenlernen verabredeten wir uns für die nächste Woche. Dort sollte ebenfalls ein Austausch von Amtsintimitäten stattfinden. 

Um die Feinstaubbelastung so gering wie möglich zu halten, fuhren wir zu unserem ersten Rendezvous mit der Straßenbahn. Die Schiene als Möglichkeit der Beförderung von Gütern war wieder einmal von uns in den Mittelpunkt gerückt worden. So gehört sich das! 

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Karamellbonbon 

Nachdem unsere einzelnen Mahlzeiten zur Genüge geschildert wurden, wenden wir uns jetzt den kleinen Zwischenmahlzeiten oder Süßigkeiten zu. 

Im Gegensatz zu mir aß Ernesto Karamellbonbons nicht im Stück, sondern biss immer nur ein kleines Stück von ihnen ab. Das konnte sich bis zu einer Woche hinziehen. Zunehmen war ja durch den Panzer begrenzt. Ich war als Aufpasser gefordert, damit Ernesto nicht über alle Maßen Karamellbonbons zu sich nahm und damit unbegrenzt zunahm und sein Körper nicht mehr in den Panzer passte. 

„Eine himmelschreiende Ungerechtigkeit!“, so fand Ernesto. Mein Vorschlag, sich an die UNO oder PeTA zu wenden, wurde von ihm verworfen, da ihm der Anlass doch zu nichtig erschien. Trotzdem fand er es extrem ungerecht, dass es ihm verwehrt war, ungehemmt Süßigkeiten zu essen. 

Apropos hemmungslos: Ungezügelter Genuss und Maßlosigkeit sind ja eher Eigenschaften, die Menschen zugeschrieben werden, aber auch Schildkröten können im Rahmen von Karamellbonbons diese Verhaltensweisen zeigen. Gerade am Beispiel von Ernesto wird eine gewisse Zügelhaftigkeit deutlich, soll heißen: ungezügelter Genuss von Süßigkeiten ist eher schädlich und zwar für alle Lebewesen. Die Selbstkasteiung macht nicht nur bei Mönchen Sinn. Da ging sie zwar besonders weit, aber es wird deutlich, dass eine Maßlosigkeit eigentlich keinem gut tut. Nun stelle man sich Schildkröten mit den Geißelungspeitschen der Mönche vor, ein lustiges Bild. Der Genuss musste also ohne Geißelung im Zaum gehalten werden und auf ein gesundes Maß reduziert werden. Hier war Ernestos Einsicht gefordert. 

Karamellbonbons dürfen von ihm somit nur mit zwei Happen am Tag genossen werden, da sonst die Gewichtszunahme unvorstellbar gewesen wäre. Unvorstellbar soll heißen, ich hatte keine Ahnung, wie hoch sie sein würde, aber eine Zunahme musste auf jeden Fall verhindert werden. 

Um eine weitere Gewichtszunahme einzugrenzen, meldete sich Ernesto in unserem Kiez ansässigen Fitnessstudio an. Man stelle sich eine Schildkröte auf dem Laufband vor! Auch Gewichte waren gerne genommen, führten aber schnell dazu, dass Ernesto dicke Arme bekam und das war nun so gar nicht sein Wunsch. Mit dicken Armen konnte er sich nicht mehr zum Schutz in den Panzer zurückziehen. 

Anhand der Probleme, die Ernesto mit dem Training hatte, merkten wir schnell, dass die Ninja-Turtles wohl doch nur eine Erfindung der Medien sein konnten, aber umso besser waren die Ninja-Turtles vor dem Fernseher mit Karamellbonbon zu genießen. 

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Marken 

Marken sind die Gewürze der Marktwirtschaft. Kapitalismus hat so was Marxistisches, finde ich, deswegen nenne ich sie mal „Gewürze in der Suppe“ statt „Salz in der Suppe“. Oftmals ist den Inhabern gar nicht klar, was sie da so zu Markte tragen. Mir ist natürlich klar, dass Kapitalismus und Marxismus nichts miteinander zu tun haben sollen und wollen. Dennoch haben beide so etwas Vereinnahmendes für den Konsumenten. Nur die Auswahl ist für Kapitalisten größer als für Marxisten. Könnte man sich mal fragen, ob die Auswahl so immens groß sein muss wie im Kapitalismus, aber nun ja… Das soll ja keine Kapitalismus-Kritik werden, war nur so eine Idee. 

Marken sind ja oft das Zeichen der Zugehörigkeit zu einer Gruppe. Dessen sollte man sich als Träger einer Marke oder als Konsument stets bewusst sein. Die einfache Warenwelt ist also nicht mehr nur fröhlich zu konsumieren, sondern man muss sich der Tatsache stets bewusst sein, dass man mit der Marke auch immer eine Haltung wiedergibt. 

Ernesto hatte es da leichter – er hatte nur einen Panzer und der war angewachsen und nicht zu tauschen. Die kurze Überlegung, die neumodischen Brandings doch dort zu platzieren, wurde dann schnell von uns verworfen, weil es uns doch zu brutal erschien. Der Versuch mit Piercings, neumodisch zu erscheinen, hatte Ernesto und mir schon gereicht. Marken spielten bei Ernesto nur bei der Auswahl der Schuhe und der Kopfbedeckung eine Rolle. Somit war die untergeordnete Bedeutung von Markenartikeln für Schildkröten offensichtlich. Eigentlich hatten sie es besser als wir Menschen, da sie nicht großartig wählen mussten, welche Marken sie nun tragen sollten oder könnten. Keine Wahl zu haben ist manchmal die beste Wahl. 

Die Auswahl als Zeichen der Marktwirtschaft sollte also nicht mit der Individualisierung verwechselt werden, weil Marken nicht unbedingt Zeichen der Individualisierung sind. Marken lauern nur darauf, Mainstream zu werden und dann wird die Individualisierung wieder hinfällig. Die Bedeutung von Marken wird oft überschätzt, weil ihnen eine Rolle zugewiesen wird, die sie gar nicht haben. Der Konsument sollte sich seiner Macht durchaus bewusst sein. 

Ernesto hatte damit die größtmögliche Freiheit, weil er seinen Panzer nicht frei wählen konnte. Auch wenn das schizophren erscheint, war für ihn eben genau die Tatsache keine Wahl zu haben, die größtmögliche Freiheit. Somit war Ernestos Suppe ausreichend gewürzt. Wie sagt der Volksmund so schön: Viele Köche verderben den Brei. Quod erat demonstrandum. 

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Ernesto 

In letzter Zeit machte ich mir ein paar Gedanken über Ernesto. Ihm fehlte, glaube ich, jemand von seiner Art an seiner Seite. Ernie und Bert konnten nur bedingt Ersatz für einen direkten Partner sein, weil Ernesto sich doch oft fühlte wie das 3. oder 5. Rad am Wagen und auch die Beziehung zu Ernie nach dem ersten Verliebtsein nicht von Dauer war. Nachdem ich Ernesto neulich zu Ernie und Bert zum Spielen gebracht hatte, setzte ich mich an den Küchentisch und überlegte. 

Dabei fiel mir auf, dass Ernestos Laune immer dann besser wurde, wenn er das 4. Rad am Wagen war, also wenn er sich sinnvoll beschäftigt fühlte. Das war zum Beispiel der Fall als Berater beim Gemüsehändler Herrn Yilmaz. Da er diesen Job aber nicht mehr ausübte, mussten wir gemeinsam überlegen, wie die Leere in seinem Zeitplan ausgefüllt werden konnte. Sein Youtube-Kanal war nur eine vorübergehende Beschäftigung und die Rückmeldungen eher spärlich. Als Fisch-Dompteur war seine Karriere eher kurz, zumal er sich schwer tat mit der Reinigung des Aquariums. Als Chefkoch war er stets auf meine Hilfe angewiesen, auch wenn ihm das Zusammenstellen unserer Mahlzeiten Spaß bereitete. Seine Begeisterung für das ferngesteuerte Auto führte bald dazu, dass er sich als Testpilot für das Fahren von ferngesteuerten Autos zur Verfügung stellte. Zwar mussten diese zunächst auf Selbststeuerung umgerüstet werden, aber bald schon verfügte er über einen großen Fuhrpark dieser Autos, die er selbst lenken konnte. 

Dennoch war sein Alltag von einer großen Leere bestimmt und wir waren noch immer auf der Suche nach Jemandem, mit dem Ernesto seine Zeit sinnvoll verbringen konnte. Herrn Kowalskis Waltraut war zwar von einer anderen Art, hatte aber ähnlich kurze Beine wie Ernesto und genauso Probleme beim Treppensteigen. Die Gehgeschwindigkeit war bei beiden also relativ ähnlich, sodass sie häufiger mal Ausflüge zusammen machten. Doch auf Dauer war Waltraut ihm zu monoton, da Ernesto mir berichtete, dass Waltraut überhaupt nichts von sich erzählte. Häufig genug verstand er auch gar nicht, was Waltraut von ihm wollte. Hinzu kam, dass Ernesto sich oftmals nicht in Waltrauts Problematik hineinfühlen konnte. Wir überlegten, ob ein Dolmetscher von Hund zu Schildkröte in diesem Fall Sinn machen würde. Leider fanden wir niemanden Adäquates. Auch unsere Überlegung, es mal über Parship zu probieren, wurde nach einer Erprobungsphase von Ernesto wieder verworfen, weil die von ihm ausgewählten Schildkröten nur das Eine wollten. 

Also musste sich Ernesto weiterhin gedulden. Die Auswahl an passenden Partnern war ja nunmal leider so groß nicht. 

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Lachmöwen 

Lachmöwen sind die Anarchisten der Lüfte. Sämtliche Regeln werden von ihnen lauthals belacht. Irgendwie fühlt man sich von ihnen immer ertappt und wenn man nebenbei noch etwas isst, hat man eh verloren. Stets wird alles nur von ihnen ausgelacht, das verunsichert auf Dauer ganz schön. 

In unserem letzten Urlaub an der Ostsee machten wir diese Erfahrung, dass man bloß nichts zu essen in den Händen halten durfte, denn sonst gab es sofort Lachmöwen-Angriffe. Der Film „Die Vögel“ von Alfred Hitchcock verdeutlicht nur ansatzweise, wie man aussieht nach einem solchen Vogelangriff, wenn man sich gerade ein Fischbrötchen gekauft hat. 

Auch Ernesto und ich wurden hinterrücks von einem Möwenschwarm überfallen, als wir uns gerade ein Fischbrötchen gekauft hatten. Hier wurde wieder mal deutlich, wie sehr die Lachmöwen durch ihren Angriff zeigten, dass sie nichts ernst nahmen. Nicht einmal eine Schildkröte mit Fischbrötchen im Maul konnte sie stoppen. Den Anblick von Menschen mit Fischbrötchen waren sie ja gewohnt, Schildkröten waren da beim Verzehr von Fischbrötchen seltener anzutreffen. 

Eine Möwe gab die Sturmspitze und griff als erste an. Die anderen bildeten sozusagen die Nachhut und hielten sich mehr im Hintergrund. Ernesto versuchte, sie zu vertreiben, indem er mit den Füßen ruderte. Aber angesichts seiner kurzen Extremitäten war das ein hoffnungsloses Unterfangen. Daraufhin gab er seinen Kampf um das Fischbrötchen auf und zog sich in seinen Panzer zurück. Manchmal muss man halt erkennen, wann es keinen Sinn mehr macht zu kämpfen. In meinem Fall konnte ich mich zwar besser den Möwenangriffen erwehren, dennoch gab ich nach kurzer Zeit – wie Ernesto – auf. Ich hätte mich auch am liebsten in einen Panzer zurückgezogen, bin dann aber doch in das nächst liegende Café geflüchtet. 

Lachmöwen und Schildkröten, das hat sich hier deutlich gezeigt, werden wohl nie Freunde werden. Dafür sind sie in ihrer Art viel zu verschieden. Mir persönlich sind Schildkröten viel lieber als Lachmöwen, weil sie in ihrer Art viel stiller und ausgeglichener sind. Außerdem kacken sie während des Fluges wahllos auf alles, was unter ihnen liegt. Wenn sie wenigstens zielen könnten, wohin sie kacken, fänd ich das ja noch witzig, aber so… . 

Unser Urlaub an der Ostsee war trotzdem sehr erholsam und schön. Fischbrötchen gab es allerdings nach dieser Erfahrung nur noch in Innenräumen mit geschlossenen Türen und Fenstern. 

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Ernestos Youtube-Kanal 

Ernesto überlegte lang und länger, wie er sein Anliegen, die Fische zu dressieren, dem Zuschauer näherbringen konnte. Ein Youtube-Kanal schien ihm doch eher geeignet als ein Fernsehsender. Insbesondere seine Erfolge bei der Dressur des Fischschwarms sollten gezeigt werden. Die Frage, ob sich Fischschwärme mit oder gegen den Uhrzeigersinn drehten, konnte noch nicht befriedigend gezeigt werden. Also zeigte er den Weg der Dressur in mannigfaltigen, kurzen Videos. Dass ihm dabei der Laserpointer mehrfach ins Wasser fiel, war für den Betrachter zwar amüsant, aber für Ernesto eher nicht so. 

Einzelne Fische mussten für ihn bei der Dressur auf Kurs gebracht werden, da ihnen klar gemacht werden musste, dass ihre Wirkung nur als funktionierendes Gesamtbild als Schwarm ein Erfolg werden könnte. Ihre Wirkung als einzelner Fisch war eher gering. Die Gefahren, die in dieser Erkenntnis lagen, mussten den Fischen aber auch Ernesto bewusst gemacht werden. Natürlich zählte der Einzelne genau wie die Gruppe. Dennoch war ihre Wirkung nur als Gruppe zu erzielen. Die Ambivalenz des angestrebten Zieles musste ihnen deutlich werden. 

Um wieder auf harmloseren Pfaden zu wandeln: Es gab nur wenige Youtube-Kanäle, die über Fischdressur berichteten, genau genommen gar keine. Die Chance war also groß, dass Ernesto bei entsprechender Herangehensweise an die Thematik großen Erfolg damit haben würde. 

Nunja… auf den Erfolg wartet er bis heute, aber die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt. Mal schauen, wie viele Fische den Kanal besuchten. Mein Tipp war ja eher: NULL. Wenn, dann eher die Halter von Fischen, so glaubte ich. Die wenigen positiven Rückmeldungen, die Ernesto dann nach einer Weile auf Youtube doch noch bekam, freuten zunächst ihn und mich. Erst als die Rückmeldungen anfingen, nervig zu werden, hatten weder Ernesto noch ich wirklich Spaß daran. Schlaumeiereien, wie Fische zu dressieren seien, nervten. Und blöde Kommentare über einzelne Fische brauchte keiner und Ernesto schon gar nicht. 

Somit gab Ernesto nach einiger Zeit seinen Youtube-Kanal wieder auf. Fischdressur war dann Jedermanns Sache doch nicht. 

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Schnürsenkel 

Nachdem Ernesto mehrfach mit offenen Schnüren an den Füßen herumgelaufen und auf selbige getreten war, beschloss er, jetzt nur noch Schuhe mit Klettverschlüssen zu kaufen. Diese waren für ihn leichter zu öffnen und zu schließen. 

Doof war eben nur, dass sie ständig mit anderem Kram, Flusen und Haaren, vollhingen, sodass ihre Funktion nur noch eingeschränkt vorhanden war. Auch die Passgenauigkeit ist mit Klettverschluss nicht mehr so gegeben wie mit Schnürung. Außerdem bestand die Gefahr, dass er versehentlich an meiner Allwetter-Jacke hängenblieb, da die auch über Klettverschlüsse verfügte. So `ne Schildkröte an der Jacke ist zwar schicker als `ne Brosche oder `nen Statement Pin, aber läuft dann Gefahr, aufgrund ihres Gewichts herunterzufallen. Dennoch überwogen die Vorteile für Ernesto. Es war gar nicht so einfach, solche Schuhe in passender Größe für Ernesto zu finden, aber schließlich hatten wir es, genau wie bei den Adiletten, geschafft. 

Ernestos neue Leidenschaft galt jetzt dem Wandern. Das dauerte zwar ziemlich lange – ich konnte dieselbe Strecke natürlich in viel kürzerer Zeit hinter mich bringen – aber dennoch ließ sich Ernesto nicht davon abhalten, mit mir wandern zu gehen. Ernestos neue Leidenschaft war für mich relativ zeitintensiv. Das Wandern an sich tat uns dennoch gut, weil wir an der frischen Luft waren und unseren Bewegungsdrang ausleben konnten. Nur in Sachen Allwetterjacke war Ernesto relativ aufgeschmissen, diese gab es in seiner Größe nicht. So musste er seinen Panzer nach wie vor nackig tragen. Auch Rucksäcke waren für ihn doof zu tragen, weil sie ihm ständig auf den Kopf rutschten, zumal er eh nicht gewusst hätte, was er dort hätte verstauen sollen. Sämtliche Getränke wurden ja von mir getragen. Anderes Wanderutensil gab es für Ernesto auch nicht, zum Beispiel Kniebundhosen und Wanderstöcke, oder sie waren für ihn nicht praktikabel. 

Spannend war es zu entdecken, wie die Wanderwege gekennzeichnet waren, sodass man quer durch Deutschland laufen konnte und nur gelegentlich von Autobahnen oder Bundesstraßen dabei gestört wurde. Eine Wanderung durch ganz Deutschland kam für uns aber nicht in Frage, weil Ernestos Tempo beim Wandern eher hinderlich war und ich dafür kein Sabbatjahr nehmen wollte. 

Zurück zu den Schnürsenkeln: Es wird deutlich, wie wichtig eine gute Schnürung auch bei Schildkröten ist. Schuhwerk – egal ob mit Schnürsenkel oder mit Klettverschluss – sollten stets genug Halt bieten.