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Herr Müller sieht die Welt

Waschbecken

Jugendliche Amerikaner benutzen ja oft leere Pools für ihre neue Rollbrettartistik.
Da kam Ernesto eine Idee: Er wollte jetzt im Waschbecken artistische
Darbietungen auf seinem Rollbrett vollführen. Nur der Abfluss musste garantiert
versenkt werden, sonst konnte es zu unerwarteten, bösen Überschlägen kommen.
Ernestos Idee, im Waschbecken Tricks mit seinem Fingerboard zu vollführen,
endete oft genug in der Seifenschale. Daher mein Tipp: Handseife. Die ist für
Schildkröten auch weniger gefährlich, weil die Gefahr auf den „Drücker“ der
Handseife zu fallen, ja kaum vorhanden ist.

Die Ähnlichkeit von Pools und Waschbecken ist ja erstmal gering, erst wenn man
die vollführten Kunststückchen sieht, fällt einem die Ähnlichkeit auf. Für Ernestos
Körpergröße waren die Abmessungen des Waschbeckens schon ideal für die
anfängliche Erprobung. Nachdem er zwei- bis dreimal ins offene Klo gefallen war,
hatte er sich dann doch an die Beschränktheit des Waschbeckens gewöhnt. Schnell
wurde ihm aber bewusst, dass die Badewanne doch besser für sein Vorhaben
geeignet war. Auch hier musste natürlich der Abfluss sicher verschlossen werden,
was kein Problem bedeutete. Die Badewanne bot dann doch unermesslich mehr
Raum für Kunststücke aller Art.

Ernesto musste natürlich erstmal Ernie und Bert seine neuesten Tricks zeigen. So
kam es, dass unsere Garage jetzt auch noch um unser Badezimmer erweitert
wurde. Der Durchgansverkehr und die hohe Frequenz der Badezimmer-Besucher
störte mich dann aber irgendwann doch. Es kam zu unschönen Situationen als ich
dringend auf`s Klo musste, aber nicht konnte, weil in unserem Badezimmer gerade
die tollsten Kunststücke vollführt wurden. Ein anderes Mal hatte ich mich gerade
zu einem gemütlichen Regenerationsbad in die Wanne gelegt, als ich plötzlich
Stimmen hörte vor der Tür. Daher war mein Entschluss, dass das Badezimmer für
Ernestos Rollbrett-Aktivitäten nicht mehr zur Verfügung stand. Ernesto reagierte
erst sauer, dann aber doch verständnisvoll.

In diesem Zuge beschränkte er somit seine Rollbrettfahrerei wieder auf unsere
Garage. Trotzdem benutzte er die aus dem Badezimmer gewonnenen Erkenntnisse
für seine Rollbrettartistik. Meine Erkenntnisse: Badewanne und Waschbecken
dienten nicht nur der Reinigung, sondern konnten auch Grundlage mannigfaltiger
Rollbrettaktivitäten sein.

ABER: Die Bedeutung der Privatsphäre in meinem Badezimmer wurde mir so
schlagartig klar. Badewanne und Waschbecken sollten doch eher zur Reinigung
dienen denn Spielplatz für Schildkröten sein.

Herr Müller sieht die Welt

Midlife Crisis

Es mag daran gelegen haben, dass es bereits gegen Nachmittag war als wir
unser Frühstück am Wochenende beendet hatten. Ernesto stieg die Zornesröte
ins Gesicht, die – sofern das von mir überhaupt zu beurteilen war – durch
meine Frage ausgelöst wurde. Meine mangelnde Urteilsfähigkeit war wohl in
Ernestos Grundfarbe angelegt, die es mir nahezu unmöglich machte, eine
Veränderung in der Hautfarbe zu erkennen. Ich wollte doch einfach nur von ihm
wissen, ob auch Schildkröten so etwas wie eine Midlife Crisis hatten.

Bei Menschen war es ja sehr bekannt, dass dies häufiger passieren konnte.
Ernesto reagierte sauer auf meine Frage. Bloß weil ich einen Vertreter der
Gattung Schildkröte kannte, ließ das ja keinen Rückschluss auf alle übrigen
Vertreter zu, so seine Argumentation.

Schildkröten neigten weniger dazu, sich Sportwagen zuzulegen, um ihre
Jugendlichkeit zu unterstreichen oder mit jungen Gespielinnen
herumzuhängen, die außer gut auszusehen, wenig konnten. Ich stellte an mir
selber in letzter Zeit fest, dass ich zunehmend dazu neigte, immer jüngere
Frauen gut zu finden, ein Sportwagen war mir eh zu teuer. Es lag also der
Verdacht nahe, dass ich in der Midlife Crisis angekommen war. Deswegen war
meine Frage an Ernesto eigentlich auf mich bezogen. Als ich ihm das erklärte,
reagierte er einsichtig und verständnisvoll.

Die Midlife Crisis gestaltet sich für den normalen Mitteleuropäer gar nicht so
leicht und wird oft unterschätzt, nur erkennen muss sie halt jeder. Da mir für
Sportwagen das nötige Kleingeld fehlte, entschied ich mich dazu, mir ein neues
Liegerad zu kaufen. Davon hatte auch Ernesto etwas, so meine Überlegung.
Ausflüge machen auch erst mit Mehreren Spaß. Ernesto bekam für mein neues
Liegerad einen neuen Fahrradkorb mit einer warmen Decke, auf der er
herumlaufen konnte.

Im Zuge meiner Midlife Crisis ließ ich mir außerdem Ohrringe stechen. Ernesto
verfügte ja schonmal über eine Vielzahl von Ringen, die er aber im Zuge
extremer Unpraktikabilität auf einen Ring reduzierte.

Man kann also feststellen, die Midlife Crisis betrifft alle Lebewesen. Nur der
Mensch macht sich wie immer darüber Gedanken. Liegt wohl in seiner Natur
begründet, weil Midlife Crisis ja auch immer ein Bewusstsein erfordert.

Schildkröten dagegen werden einfach so alt.

Kopfwürmer

Motti

Um meinem Ruf als Schlaumeier gerecht zu werden, sei hier mal gesagt, dass ein
Motto in der Mehrzahl Motti heißt . Auf jeden Fall hat sich mein Lebensmotto
„Wenn der Wahnsinn dich anlacht, lach zurück“ erweitert um das Motto: „Ich bin
behindert, aber nicht doof!“ (wie ich hoffe). Also behandelt mich bitte auch nicht so.

Das erste Motto ist in meinem Berufsleben begründet. Mein Berufsleben als Lehrer
war oft genug von Chaos und Hektik gekennzeichnet. Vielfach hatte man das Gefühl,
in einem Irrenhaus zu sein. Erst der Rückzug mit einer Tasse Kaffee in den
Klassenraum ließ mich wieder herunterkommen. Das Verrückte waren dann aber
nicht die Schüler, sondern die ganzen anderen Umstände des Berufes. Von Eltern, die
glauben, man hätte ja sonst nix zu tun (ernsthaft) als Kaffeetassen durch die Gegend
zu tragen bis zu Kollegen, die ihren Status wohl etwas überbewerten. Im Laufe der
Jahre habe ich aber gemerkt, dass es gar nichts bringt, sich über diese Widrigkeiten
aufzuregen, sondern dass mit einem Lachen alles besser zu ertragen ist. Auch die
Angriffslust des Gegenübers wird dann geringer. Vielleicht sind aber auch die
Erinnerungen von damals eher im Geiste von mir romantisiert worden, dennoch
kann ich nur sagen, dass meine Erfahrungen mit Schülern jeder Art durchweg positiv
waren. (Hiermit seien meine ehemaligen Schüler gegrüßt).

Das zweite Motto ist meinen Erfahrungen als Rollstuhlfahrer und Gehandicapter
geschuldet. Es wäre ein Traum, wenn das körperliche Unvermögen nicht auf die
geistigen Fähigkeiten übertragen werden würde, was leider allzu oft passiert. Aber
auch geistig Gehandicapte sollten einen nicht dazu veranlassen, das Gegenüber wie
einen Doofen zu behandeln. Also falls ihr unsicher sein solltet, wie ihr euer
Gegenüber behandeln sollt, mein Tipp: Einfach normal!

Zurück zu den Motti: Wie immer ist die Normalität das Maximum in jeglicher
Hinsicht. Alles andere wäre eher Wunschdenken. Wenn man keinen Plan hat, hilft es
manchmal, sich von der Situation tragen zu lassen. Wir wollen natürlich nicht, dass
sich die Situation an uns einen Bruch hebt, deshalb ist es empfehlenswerter gar nicht
erst Pläne zu machen, da diese häufig genug über den Haufen geworfen werden
müssen, gerade in meinem Alltag. Mein Alltag ist oft genug von Gedanken über die
Erkrankung getragen. Das doofe an der Erkrankung ist, dass sie viel Spielraum zur
Interpretation gibt. Beispiel: Wenn man ein Bein ab hat, weiß man, dass es zukünftig
mit Laufen schwer wird. Ich aber weiß nicht, welche Überraschungen die Erkrankung
zukünftig bereit hält.

Deswegen gilt auch hier mein erstes Motto: „Wenn der Wahnsinn dich anlacht, lach zurück“!

Herr Müller sieht die Welt

Hitze

Im Gegensatz zu mir blühte Ernesto bei warmen Temperaturen erst richtig auf.
Es konnte ihm gar nicht heiß genug sein. Je höher die Temperatur desto
enthusiastischer wurde Ernesto und umso langsamer ich. Richtig doof war für
mein Wohlbefinden die Kombination aus Wärme und schwüler Luft. Während
Ernesto es völlig egal war, wie hoch die Luftfeuchtigkeit war, machte sie mich
platt. So platt war ich natürlich für Ernesto auch keine große Hilfe.

Unser Leben im Dachgeschoss unseres Hauses war in den Sommermonaten
mehr von der Bemühung meinerseits um Kühle dominiert. Oft war ich mit
nassen Handtüchern um Kopf und Nacken gewickelt zu sehen. Ernesto hatte
sich schnell an dieses Bild gewöhnt. Es konnte nur peinlich werden, wenn der
Paketbote oder Nachbarn klingelten und ich so die Tür öffnen musste. Das Bild
von Menschen mit Handtüchern um die Extremitäten gewickelt bot vielen doch
Anlass, sich erstmal an das ungewohnte Bild gewöhnen zu müssen.

Auch ein nasses Handtuch auf dem Kopf war auf Dauer aber keine Lösung, weil
es doch arg die Sicht beeinträchtigte, wenn es herabhing. Gut halfen mir
letztlich nur Kühlmanschetten um Arme und Beine. Aber eigentlich konnte ich
nur auf milderes Wetter warten, um meine Bewegungs- und Denkfähigkeit
wieder koordiniert zu bekommen.

Mein Streben nach Kühle wurde eben von Ernesto nicht geteilt, weil Kühle bei
ihm zur Verlangsamung der Bewegungen führte und ihn in den Modus des
Winterschlafes versetzen konnte. Dem stand natürlich mein Streben nach Kühle
entgegen, sodass ich mir für unser Leben unterm Dach etwas einfallen lassen
musste.

Da Ernesto heißes Wetter mochte, überlegte ich schon, ob ich ihn in der
örtlichen Sauna abgebe, aber ohne Aufsicht durften Schildkröten nicht alleine in
die Sauna. Somit blieb Ernesto nichts anderes übrig, als die Hitze, die er so
erleben konnte, so gut als möglich zu nutzen. Ernesto verbrachte jetzt die Tage
immer häufiger vor unserer eigens für ihn angeschafften Höhensonne, die in
einem seiner Zimmer stand, sodass ich von der abgestrahlten Wärme
unbehelligt war. Was mir bisher völlig rätselhaft blieb, war immer noch, wie
man sich bei so viel Hitze wohlfühlen konnte.

Nicht umsonst heißt es ja bei uns Menschen: einen kühlen Kopf bewahren! Das
gilt aber nicht für Schildkröten, das musste ich erst lernen.

Kopfwürmer

Der Finne

Wer einmal in Finnland war, wird meine Begeisterung für Land und Leute teilen.
Aber liebe Finnen, sind diese Fußgänger-Überwege euer ernst? Wie bitte soll
man die bezwingen können, wenn man im Rolli sitzt und noch keine Hornhaut
am Arsch hat? Schnellkurs bei Reinhold Messner, oder was?

Nehmt euch doch bitte mal ein Beispiel an den englischen FußgängerÜberwegen.
Da lernt man, was ein sanfter Übergang von Fußweg auf Straße
heißt. Nur dass hier keine falschen Eindrücke entstehen: Auch deutsche
Überwege und Fußweg-Absenkungen können deutlich optimiert werden. Man
fragt sich als Betroffener, womit die für den behindertengerechten Umbau
angeblich hinzugezogenen Rollstuhlfahrer geschlagen sind, scheinbar mit
Blindheit. Apropos, die Signale für Sehbehinderte an Fußwegen sind –
zumindest in den größeren Städten Finnlands – optimal. Das gleiche würde ich
mir für die Rollifreundlichkeit der Fußgänger-Überwege wünschen.

Der Finne an sich ist aufgeschlossen und freundlich. In der bunten Hauptstadt
wird hauptsächlich Englisch gesprochen, genau wie in Teilen Berlins.
Gelegentlich hat man den Eindruck in einer Freak-Show zu sein. Ich sah zum
Beispiel Barbie und Ken, ein anderes Mal begegneten mir Frauen in Lack und
Leder aus einem quietschgelben Audi TT steigend. Auffällig war die
Hilfsbereitschaft der Menschen, sei es beim Türaufhalten im Café oder im
allgemeinen Miteinander.

Cool und ungewohnt für deutsche Autofahrer sind sicherlich die
Bundesstraßen, die jäh unterbrochen werden und deren Fortführung durch
eine Fähre unternommen wird, wenn man die Schärenlandschaft besucht.
Natürlich ist die Benutzung der Fähren kostenlos. Wenn man in Finnland essen
geht, sei hier empfohlen, Rentier zu probieren. Auch wenn man sich zunächst
scheut, schmeckt es dann doch sehr gut. Nur die Vorstellung an den
Weihnachtsmann und seine Helfer muss man aus dem Kopf kriegen.

Als sehr angenehm fand ich die Zurückhaltung und Rücksichtnahme auf Leute
im Rolli. Das allgemeine Gefühl der Menschen, ständig erster sein zu müssen,
ist in Finnland scheinbar sehr gering, so habe ich es jedenfalls empfunden.

Alles in allem kann ich Finnland nur empfehlen, sowohl Land als auch Leute,
weil die Entspanntheit der Leute sich relativ schnell auf uns als Touristen
überträgt. Ich für meinen Teil kann nur sagen: Vielen Dank, ich habe mich bei
euch sehr wohlgefühlt, liebe Finnen!

Herr Müller sieht die Welt

Magnetismus

Ernestos Fingerboard hatte ich ja schon zur Genüge beschrieben und welche Erleichterung es für Ernesto bei der Fortbewegung spielte. Ein weiteres Tuning erfuhr das Fingerboard von mir durch die Anbringung eines starken Magneten an der Unterseite. Das Gegenstück konnte ich zunächst in meiner Hosentasche tragen und so Ernesto wie an einer unsichtbaren Leine durch die Straßen führen. Später ließ ich das Gegenstück von einem Schneider in unserem Kiez auf Fußhöhe in mein Hosenbein einnähen. Auf diesem Wege konnte ich ihm auch Magnetismus verständlich machen, weil sämtliche Fragen von ihm anhand des Beispiels aus der Praxis von mir erklärt werden konnten. 

Dass sämtliche andere mobile Datenträger davon gestört wurden, spielte ja für unsere Unternehmung keine Rolle. Dabei wollten viele Handybesitzer Fotos davon machen, wie eine Schildkröte einen Menschen rasant verfolgte. Aber leider, leider kamen die ganzen versendeten Fotos von Ernesto und mir erst gar nicht bei ihren Empfängern an. Diese konnten erst im Nachhinein verschickt werden, da waren wir ja aber schon weg. 

Damit wären wir auch bei der Auffassung von mir, dass die Menschen viel zu wenig den Moment leben, weil eben die Fotos nicht unmittelbar geschickt werden konnten. Der Genuss des momentanen Erlebens sollte meiner Meinung nach wieder mehr im Mittelpunkt stehen statt das Bannen von schönen Momenten in Form von Fotos oder sonstigen digitalen Medien. Das direkte Erleben wirkt mehr auf die menschliche Festplatte und wird dort gespickt mit Emotionen nicht nur gespeichert, sondern auch tiefgehend verarbeitet. Na gut, aber das ist ja nur meine Meinung. Das kann ja jeder halten, wie er will oder wie Pfarrer Nolte, der hielt, wie er es wollte. 

Zurück zu Ernestos Skateboard und meinem Hosenbein. Ich wurde also nun, sowie wir gemeinsam das Haus verließen, von einer Schildkröte verfolgt. Das Geschrei von umstehenden Passanten wich nach einiger Zeit der Gewöhnung an unseren Anblick. Schnell wurden Ernesto und ich zur Attraktion und wurden sogar vom ortsansässigen Stadtmagazin interviewt. Aber Ernesto war so viel Trubel um seine Person dann doch zu viel. Der Bekanntheit über die Kiezgrenzen hinweg zog er dann doch das Leben innerhalb seines Kiezes vor und weitere Interviews wurden von uns abgesagt. Ernesto blieb nur der kurze Moment des Ruhmes, das war ihm aber auch genug. 

Dass das Phänomen Magnetismus solche weitgehenden Folgen hat, hätten wir nicht gedacht. 

Herr Müller sieht die Welt

Kittelschürze 

Das große Plakat von Frau Tilly, das bei uns in der Küche hing, wurde von Ernesto dahingehend mit Leben gefüllt, als dass nun zwar kein Starschnitt aus der handelsüblichen Jugendpresse angefertigt wurde, aber Tilly und ihre Kittelschürze zum Nacheifern einluden. Kittelschürzen waren jetzt also der heißeste Scheiß, sozusagen ein Must-have. 

Aus dem Starschnitt wurde also ein Schnittmuster, weil Kittelschürzen gab es ja für Tiere wie Ernesto nicht. Die Kittelschürze musste von mir handgenäht werden. Da ich aber sonst keine Ahnung gehabt hätte, wie diese aussehen sollte, kam mir das Schnittmuster ganz recht. Kittelschürzen im Allgemeinen sollen ja vor allem praktisch für den Träger sein und haben an der Bauchseite kleine Taschen für Taschentücher oder Ähnliches. Im Falle von Ernesto war das relativ doof, da er auf der Bauchseite ja gar keinen Platz für Unterzubringendes gehabt hätte. Deswegen müssten die kleinen Taschen auf das Rückenteil der Kittelschürze wandern, erklärte ich Ernesto. Trotzdem wollte er unbedingt eine solche Kittelschürze tragen. 

Also machte ich mich ans Werk und nähte ihm eine solche. Ernesto war voller Stolz und ging mit seiner neuen Kittelschürze nach einer Ehrenrunde durch unseren Kiez dann zu seinen Kumpel an den Kiosk. Dort stellte er schnell fest, wie praktisch die kleinen Täschchen der Kittelschürze für den Transport von Flachmännern waren. Trotzdem stieg Ernestos Konsum der hochprozentigen Flachmänner wider Erwarten nicht. Ernestos sonstiger Lebensstil war zu sehr auf gesundes Essen und inzwischen auch Sport ausgerichtet. 

Die Kumpel am Kiosk reagierten auf Ernestos Erscheinen in Kittelschürze zunächst eher skeptisch, waren aber dann durchaus von ihrem praktischen Nutzen überzeugt. Die Frage der Kumpel nach der Traglast einer solchen Kittelschürze konnte Ernesto nicht beantworten, auch ich konnte diese Frage nur dahingehend beantworten, dass ich wusste, welche Elastizität der Stoff der Kittelschürze ungefähr hatte. Besänftigt von meinen Angaben lief Ernesto weiter durch unseren Kiez und zeigte so auch Gemüsehändler Yilmaz seine Schürze. Herr Yilmaz machte ihm das Angebot, wieder für ihn zu arbeiten, weil eine solche Kittelschürze doch sehr verkaufsfördernd sei. Ernesto erbat sich eine gewisse Zeit zum Überlegen, war dann aber ungefähr nach einer Woche überzeugt davon, dass ihm ein gelegentlicher Einsatz als Verkäufer doch wieder gut täte. Abschließend ließ Herr Yilmaz noch sein Firmenlogo auf die Kittelschürze drucken. 

Damit war Ernestos Kittelschürze vollkommen und Ernesto jetzt überglücklich! 

Kopfwürmer

Halbwahrheiten

Im Gegensatz zur völligen Wahrheit zeichnen sich Halbwahrheiten dadurch aus, dass sie hauptsächlich Vermutungen sind, die erst durch die Realität bestätigt werden müssen. 

Da auch dieses nur eine Vermutung von mir ist, bin ich auf der Suche nach der absoluten Wahrheit. Die Suche nach der absoluten Wahrheit ist ein Weg mit unbekannten Größen, da das Ziel noch nicht bekannt ist. Auf dem Weg zur absoluten Wahrheit mache ich daher erstmal Rast. Innehalten soll ja bekanntlich förderlich sein für das Denken. Ob und inwieweit sich das auf die Suche nach der absoluten Wahrheit auswirkt, weiß ich ja noch nicht. Aber es gibt mir zumindest erstmal das Gefühl, was getan zu haben. … 

Mein Versuch, nach der Rast wieder ins Denken zu kommen, war nur teilweise erfolgreich. Jeder kennt ja die Rastplätze an Bundesstraßen oder an Autobahnen. Dass diese eher Toiletten gleichen, liegt an den Benutzern derselben. Den eigentlichen Zweck der Rastplätze möchte ich mal wieder betonen dadurch, dass ich auf ihnen ein Butterbrot esse, auch wenn dies einige Überwindung kostet. Sie sollen den Fahrer dazu anhalten, gelegentlich mal eine Pause im Kilometerfressen zu machen. Ein Butterbrot hilft dabei ungemein, es regt die Denkfähigkeit des Betroffenen immens an. 

Also beschließe ich, jetzt meinen Blutzucker hochzufahren und mit der Pause zu kombinieren. Tatsächlich fällt mir nun das Denken leichter, deshalb zurück zu den Halbwahrheiten: 

Wenn man also mit einem binären Code arbeiten würde, bei dem 1 die absolute Wahrheit wäre und 0 die Unwahrheit, dann wäre – zumindest dem Verständnis nach – die Halbwahrheit darunter anzusiedeln, also bei -1. Denn die Halbwahrheit gilt im allgemeinen Sprachgebrauch noch weniger als die Unwahrheit. 

Die Halbwahrheit wäre also mit dem schlecht gewordenen Rollmops zu vergleichen, da hat man doch lieber keinen als einen schlecht gewordenen. Ein gewisser Trump aus dem fernen Amerika wird dann also schnell überführt, weil Fake News dann zum Himmel stinken. Halbwahrheiten und Unwahrheiten sind die zwei Seiten derselben Medaille, beide verfolgen hier den Zweck, von der Wahrheit abzulenken. Die Medaille der Halb- bzw. Unwahrheiten möchte aber keiner, gerade angesichts der Olympischen Spiele, umgehängt bekommen. 

Also lasst uns doch einfach bei der Wahrheit bleiben, auch wenn sie manchmal weh tut. 

Herr Müller sieht die Welt

Frühsport

Wir saßen wie an jedem Wochenende beim gemeinsamen Frühstück und ich wollte gerade in ein leckeres Käsebrötchen beißen, als mich Ernesto unvermittelt von der Seite ansprach und sagte: „Angesichts deines Doppelkinns wäre es doch mal höchste Eisenbahn, etwas Sport zu machen.“ Darum hatte er sich überlegt, dass wir jetzt jeden Tag vor dem Frühstück Sport treiben sollten. Mein Einwand, dass das angesichts der frühen Öffnungszeiten des Amtes, auf dem ich arbeite, kaum möglich sei, wischte er mit den Worten hinfort: „Dann eben nachmittags.“ 

So wurde der Frühsport zum Nachmittagssport, was aber in seinem Effekt gar nichts ausmachte. Für uns beide nicht, weil kein Mensch im Falle von Ernesto wusste, wie es unter seinem Panzer um seine Figur bestellt war. Im Gegensatz zu uns Menschen und der uns umgebenden Bekleidung konnte man eben bei Schildkröten nicht einmal erahnen, wie es im Panzer aussah. Nur anhand der Extremitäten, also Armen und Beinen, konnte man sehen, ob es sich um eine wohl genährte oder ausgehungerte Schildkröte handelte. Ernesto war eher wohl genährt, von daher machte ein bisschen Sport für ihn durchaus Sinn. 

Die Geräte auf dem Trimm-Dich-Pfad in unserem Park standen schon viele Jahre lang verwaist und der Witterung ausgesetzt herum und dienten maximal als Sitzgelegenheit. Bei unseren Überlegungen in punkto Fitness hatten wir aber schlichtweg vergessen, dass die Geräte nicht für Schildkröten, sondern für Menschen und ihre Körpergröße gemacht waren. Das stellte uns natürlich vor ein Problem: Wir mussten die Geräte für Ernesto entsprechend anpassen und die Übungen auf ihn zuschneiden. So wurde zum Beispiel der Klimmzug dahingehend abgewandelt, dass Ernesto von mir an einen tief hängenden Ast gehängt wurde. Die Angst herunterzufallen ließ ihn erstaunlich viele Klimmzüge schaffen. Die Übung zum Balancieren wurde von uns kurzerhand auf das Hochkantformat gekippt, soll heißen, Ernesto machte die Übung auf die Seite gedreht, also auf zwei Beinen. Ihr denkt, das geht nicht? Bei Ernesto schon! 

Unsere gemeinsamen Mahlzeiten ließen wir uns jetzt angesichts unseres Sportprogramms doppelt schmecken. Ernestos Versuch, doppelt so viel zu essen, konnte durch mein beherztes Eingreifen im letzten Moment noch abgewendet werden. Auch Ernestos Vorschlag, unsere sportlichen Aktivitäten in ein Rahmenprogramm mit Hula-Tänzerinnen zu setzen, fand meine Zustimmung nicht. 

Kurzum: Sport und Ernährung sollten sich die Waage halten, damit selbige nicht zum Stein des Anstoßes werden. 

Kowalski lebt

Briefkästen 

Die Briefkästen der Hausbewohner unseres Mietshauses fristeten ein trostloses Dasein. Diese Mahnmale der schriftlichen Kommunikation verkamen zusehends. Sie verkamen mehr und mehr zur Aufbewahrungsbox für Werbesendungen. Da diese keiner haben wollte, wurden sie achtlos weggeschmissen – häufig genug eben nicht in den von mir dafür vorgesehenen Mülleimer, sondern irgendwo ins Treppenhaus. Das ging natürlich gar nicht! Man hatte schon Probleme beim Erledigen der Hauswoche damit, um die Werbung herumzufegen. 

Ähnlich den Spam-Botschaften in meinem E-Mail Account waren diese ungebetenen Gäste permanent und überall. Die Aufkleber „bitte keine Werbung“ an den Briefkästen wurde konsequent ignoriert. Aber was bringt es, sich darüber aufzuregen. In der Ruhe soll ja die Kraft liegen und kräftig genug bin ich ja. Wenn ich kräftiger werden will, gehe ich in ein Fitnessstudio. 

Ich ging einfach dazu über, die Briefkästen nach innen unseres Hauses zu verlegen, sodass alle, die Werbung oder Ähnliches in die Briefkästen schmeißen wollten, erst einmal ins Treppenhaus gelangen mussten. Viele Hausbewohner beschwerten sich zunächst über meine Maßnahme, waren dann aber doch davon überzeugt, nachdem sie merkten, dass kaum noch Werbung in die Briefkästen geschmissen wurde. Die Aufforderung, keine Werbung einzuwerfen, wurde jetzt so gut wie immer befolgt. Der Postbote verfügte über einen Haustürschlüssel, um den Zugang zu den Briefkästen zu behalten. 

Wenn das Problem mit meinen Spam-Nachrichten doch nur genauso leicht zu beheben wäre! Dazu habe ich von E-Mails und diesem ganzen Kram einfach zu wenig Ahnung. Die Sache mit der Haustür war da erheblich einfacher für einen so analogen Menschen wie ich es bin. Überhaupt analog: Ich mag ja auch gar keine Digitaluhren, die Träger von Digitaluhren waren für mich immer durchgeknallte Typen. Analoge Uhren sind an Vollkommenheit unübertroffen und erfordern vom Träger ein Mindestmaß an Denkfähigkeit. Die Transferleistung, die eine analoge Uhr vom Träger erfordert, kann häufig gar nicht mehr erbracht werden. Die Kinder in unserem Haus sind nicht mehr dazu in der Lage, analoge Uhren abzulesen, wie ich neulich festgestellt habe. Ein Unding! Früher war es selbstverständlich, die analoge Uhr lesen zu können. Das Selberdenken sollte wieder mehr bei den Menschen in den Vordergrund rücken. Die Digitalisierung führt dazu, dass immer weniger Menschen selber denken. 

Ach, wären doch alle Menschen wie Waltraut!