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Herr Müller sieht die Welt

Unser Treppenhaus 

Diese Woche hatten Ernesto und ich einen festen Termin mit unserem Treppenhaus. Die Reinigung desselbigen stand an. Sie ist einer, wenn nicht DER, Indikator für eine funktionierende Hausgemeinschaft. 

Ernesto wurde wie immer von mir, während ich die Treppen fegte, in das Fenster zum 1. OG gesetzt. Von dort aus gab er Anweisungen, wo ich noch zu fegen hätte. Viele Mitbewohner waren belustigt über diesen Anblick. Eine Schildkröte im Fenster sieht man ja nicht alle Tage. Nur wenn Ernesto sie auf ihre verschmutzten Schuhe hinwies, kippte die Stimmung recht schnell. Nach dem Fegen wurde das Treppenhaus natürlich wie immer auch noch feucht gewischt, wobei Ernesto penibel darauf achtete, dass niemand durch das frisch Gewischte lief und er sie im Zweifelsfall zum Stehenbleiben aufforderte. Der Terrazzoboden sollte wie in jeder Woche in der Sonne glänzen. 

Verschiedenste Mieter begegneten uns, während wir unsere Hauswoche erledigten. Selbst Herr Kowalski aus dem EG kam mal auf eine Stippvisite vorbei – ich vermute mal, eher um uns zu kontrollieren. Sein Hund konnte ja aufgrund seiner Körperform nicht mehr gut Treppen laufen, daher trug er ihn anlässlich seines Besuches auf dem Arm. Neben der genauen Kontrolle der Fege- und Wischtätigkeiten, stand außerdem der neueste Klatsch und Tratsch der Nachbarschaft auf dem Programm. Ernesto und ich waren eher semi-begeistert von Herrn Kowalskis Ausführungen, da uns der Klatsch und Tratsch nur bedingt interessierte. Nur was es von Ernie und Bert, den beiden Schildkröten aus dem Haus, Neues zu vermelden gab, war für uns von Interesse. 

Ich vermutete, Ernesto war ein klein bisschen verliebt in Ernie, ließ sich dies aber nicht anmerken und leugnete dies auch stets. Dennoch bemerkte ich, dass, immer wenn Ernie im Raum war, Ernesto völlig verhalten und ruhig war. Es war schön zu beobachten, wie Ernesto auf Freiers Füßen war und Ernie den Hof machte. Jetzt musste nur noch die richtige Gelegenheit für Ernesto kommen. Ich gab mein Bestes, um ein Zusammentreffen der beiden zu beschleunigen. Gott sei Dank ergab sich in den nächsten Tagen eine Möglichkeit für Ernesto. Mit der Hausgemeinschaft wurde ein kleines Hoffest gefeiert und anlässlich des Kuchenbasars konnten die beiden Kaffee und Kuchen zu sich nehmen und sich näherkommen, ohne dass es auffiel. Nachdem die beiden sich in Kaffee, Kuchen und in ein Gespräch vertieften, beschloss ich, wieder hoch zu uns in die Wohnung zu gehen und den Dingen ihren Lauf zu lassen. Nach 2 Stunden kehrte ich zum Hoffest zurück, aber Ernesto und Ernie waren verschwunden. Auf meine Nachfrage bei den Nachbarn konnte mir niemand über deren Verbleib Auskunft erteilen. Da kamen die beiden plötzlich grinsend aus dem Unterholz und meine neugierigen Fragen wurden anschließend von Ernesto gekonnt ignoriert… 

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Jalousie 

Eigentlich sollten ja Jalousien den Blick von außen in die Wohnung beeinträchtigen. Da wir im Dachgeschoss wohnten, machte das nur bedingt Sinn. Aber sie verhinderten den Blick von Menschen, die in der Wohnung standen, auf die Häuser der Nachbarschaft, denn diese waren unglaublich hässlich. Sie waren ein typisches Beispiel für den 50er Jahre Baustil, geprägt mehr von dem Nutzen als von ansprechender Schönheit. Hohe Decken oder gar Stuck waren damals nicht so angesagt. Im Mittelpunkt stand eher die Zweckmäßigkeit des Gebäudes. 

Ernesto betrat diese Gebäude nur, wenn er musste, zum Beispiel um einen Arzttermin wahrzunehmen. Ernesto fand es vor allem gut, dass diese Gebäude oftmals über einen Fahrstuhl verfügten und ihm den Zugang zu den oberen Stockwerken damit erleichterten. Die Fahrstühle waren aber oft in einem technisch grenzwertigen Zustand, da sie häufig sehr stark veraltet waren, sodass ihre Benutzung eher einer Fahrt mit der Achterbahn glich. Fahrten in Achterbahnen oder auch Geisterbahnen waren für Ernesto genauso wie für mich mit sehr viel Spaß verbunden, sodass er die Fahrten im Fahrstuhl als angenehm empfand. Der eigentliche Zweck der Fahrstuhlfahrten geriet dann schnell in Vergessenheit, sodass er jedes Mal überrascht war, wenn sich beim Öffnen der Türen vor seinen Augen ein neues Stockwerk auftat. Der Sesam-öffne-dich-Effekt war um so größer je höher wir mit dem Fahrstuhl fuhren. 

Zurück zu den Jalousien: Sie verhindern oft den Blick auf etwas Schlimmeres. Was Schlimmeres wäre, sollte hier klar benannt werden. Die Hässlichkeit von 50er Jahre Bauten muss an dieser Stelle nicht genauer erklärt werden. Jedoch der Blick auf sie muss jederzeit verhindert bzw. eingeschränkt werden können. 

Jalousien können den Blick sehr gut lenken, sodass der Betrachter sich mehr mit dem Innenraum beschäftigen muss und weniger durch Blicke nach außen abgelenkt wird. Genau wie Schlafbrillen ist der Effekt mehr auf die Beschäftigung mit dem Inneren abzielend, da äußere Reize ausgeblendet werden. Also wären Schlafbrillen in Räumen mit Jalousien quasi doppelt gemoppelt, da der sowieso schon eingeschränkte Blick durch die Jalousie ein weiteres Mal beschränkt wird. Jalousien sind quasi die Schlafbrillen an Fenstern. Es bleibt zu hoffen, dass Jalousien häufiger mal aufgezogen werden, um die Bewohner nicht in einem Dauerschlaf festzuhalten. 

Da kann man nur hoffen, dass der Blick ins Innere Erfreuliches zu bieten hat! 

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Badewanne 

Die Liebe zur Badewanne entdeckten wir beim Reinigen des Bades. Nicht nur, dass Ernesto gerne mit dem Schwamm in die Badewanne rutschte, um diese zu reinigen, sondern er saß auch stundenlang auf dem Badewannenrand und tapste in den von mir auf ihn gepusteten Schaum. So saß er jedes Mal auf dem Rand der Wanne, wenn ich ein Bad nahm und ließ sich von mir mit Schaum verhüllen. 

Irgendwie sind Badewannen wie Schiffe, nur umgedreht. Das merkt man immer spätestens dann, wenn man mal neben sie tritt. Auch sie haben wohl etwas mit dem Archimedischen Prinzip zu tun. Aber genauer weiß ich das auch leider nicht. Jedenfalls sind sie manchmal sehr angenehm, vor allem wenn es draußen sehr kalt ist. Genauso geht es Ernesto ja auch, auch er bevorzugt die warmen Klimate. 

Ränder von Wannen und Schiffen ermöglichen es einem, über die ganze Situation einen Überblick zu kriegen, nur dass der Blick über eine Reiling sicher nicht vergleichbar ist mit einem Blick in die Wanne. Der Blick über die Reiling ermöglicht den Blick in die Weite, der Blick in die Wanne eher weniger. Inseln oder gar neue Länder entdeckt man auch eher selten vom Wannenrand aus. Christoph Columbus hat ja Amerika auch nicht vom Badewannenrand aus entdeckt und überhaupt die ganzen spanischen, portugiesischen und englischen Entdecker sind ja nicht durch die Badewanne geschippert, sondern durch die Weltmeere und haben Neues entdeckt. 

Man kann also erkennen: Wenn man seinen Horizont erweitern will – sei es als Mensch oder als Schildkröte – , dass Badewannen einem dies also eher weniger ermöglichen. Wenn man aber über genug Fantasie verfügt – so wie wir – kann die Entdeckungsreise unendlich sein. So wurde für uns die Badewanne zu einem der sieben Weltmeere der Fantasie. Die Badezimmerarmaturen wurden zu von uns zu bewältigenden Abenteuern. Man ahnt gar nicht, was für Gefahren zum Beispiel von einem Klo ausgehen können. Der eigentliche Sinn von Klos wird dann im Zuge dieses Gedankenspiels nebensächlich. Unsere Toilette wurde zum alles verschlingenden Monster auf den sieben Weltmeeren. Das musste natürlich von uns besiegt werden. Das Laute Geglugger des Monsters, also die Klospülung, wurde umso größer, je größer das zu spülende Objekt war. Der Handtuchhalter am Waschbecken wurde zur Takelage unseres Schiffes. 

Mit aufgeblähten Segeln stürmten wir in die nächsten Abenteuer und entdeckten die ungeahnten Weiten unseres Badezimmers. 

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Schnittblumen 

Wie jede Woche besorgten wir uns zum Wochenende einen Strauß frischer Blumen. Da ganze Blumen mit Blumentopf zu groß gewesen wären, kauften wir immer Schnittblumen bei unserem Blumenhändler. Schnittblumen sind die seelenlose Variante der Blumengewächse, da sie ihre besten Tage und ihre Wurzeln hinter sich gelassen haben, sozusagen sind sie also entwurzelte Gewächshausbewohner. 

Häufig neigt man dazu, sie als Zeichen der Dankbarkeit zu verschenken. Dabei ist man sich den Bedeutungen dieser Blumen gar nicht gewahr: Sie sind doch ein Zeichen von Entwurzeltsein in sowieso unsicheren Zeiten. Zum Beispiel denke ich da an Krankenhauspatienten, die eine mentale Stütze bräuchten und denen nicht nur damit geholfen ist, wenn sie nur die allernötigste Hilfe bekommen aufgrund von Notständen im Personalwesen. Unser letzter Besuch war anlässlich der Knie-OP meiner Mutter, die an sich harmlos war, aber eine lange Reha-Phase nach sich zog. Wie dabei üblich brachten wir Blumen mit ins Krankenhaus und stellten fest, dass Blumen im Topf nicht geduldet waren. Außerdem fiel auf, dass das Personal völlig überlastet war. Meine Mutter lag auf einer Station, für die eigentlich 8 Schwestern und Pfleger zuständig waren, aber es waren nur 5 anwesend. Ich befürchtete jedoch, dass dies kein situativer, momentaner Zustand ist, sondern ein dauerhafter und sich ihre Genesung noch lange hinziehen würde. 

Ein weiterer leider sehr aktueller Bezug von Entwurzelung ist, dass die ukrainischen Flüchtlinge entwurzelt bei uns darauf warten, in ihre Heimat zurückzukehren. Sie lassen erahnen, was es bedeutet, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Was dies bedeutet, wusste Ernesto ganz genau, hatte er doch gerade seine Drohne gegen ein ferngesteuertes Auto getauscht, weil die Bodennähe für ihn von entscheidender Bedeutung war. Über den Dingen zu schweben, kann hilfreich sein – so wie bei Ernestos Drohneneinsatz beim Reinigen der Regenrinne – oftmals ist aber die Augenhöhe hilfreicher, weil man mit ihr nicht den Boden unter den Füßen verliert. 

Generell sollte man seinem Gegenüber immer auf Augenhöhe begegnen. Im Fall von Kleinwüchsigen oder Kindern heißt dies jedoch nicht, dass man ihnen immer im Kotau begegnen sollte, sondern dass man ihnen viel mehr das Gefühl gibt, akzeptiert und respektiert zu werden. 

Schnittblumen sind also doch nicht nur reiner Seelentröster. 

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Krawatten 

Krawatten sind ja bekanntlich Ausdruck kultureller Förmlichkeit. Von vielen werden sie auch als Kulturstrick bezeichnet. Die Meinungen zu Krawatten sind häufig vielfältig. 

Ich glaubte es nicht, aber Ernesto wollte jetzt tatsächlich mit mir diskutieren, ob Krawatten Ausdruck kultureller Identität sind oder nicht, bloß weil er als Schildkröte selten mal Krawatten trug, weil er ständig drauftrat. Von ihm waren eher Fliegen bevorzugt. Der Anlass der Diskussion war die Jubiläumsfeier von Frau Meier aus B106, die uns zu ihren Festigkeiten einlud. Ernesto fragte mich schon seit Tagen, welcher Dresscode da angesagt wäre. Wir entschieden uns für eine förmliche Variante. Da er – wie gesagt – Krawatten nicht so gerne trug, entschied er sich für eine Fliege und ich legte aus Solidarität ebenfalls eine solche an. 

Nachdem wir die Frage der passenden Bekleidung hinlänglich geklärt hatten, widmeten wir uns wieder unserem Alltag, da wir in der Frage des Abendbrots noch uneinig waren. So merkte Ernesto an, dass wir doch mal das breite Gemüseangebot von dem Gemüsehändler Herrn Ylmaz ausprobieren konnten, um unseren Abendbrottisch reichhaltiger und abwechslungsreicher zu decken. Ernesto hatte nämlich durch seinen Job als Kundenberater bei Herrn Ylmaz bemerkt, wie vielfältig das Gemüseangebot war. Außerdem gingen wir von nun an dazu über, das Gemüse immer mit Dips zu essen. Und so erweiterte sich die Palette des von uns gern gegessenen Gemüses um ein Vielfaches. Die Tage von Tomate und Salat waren nun endgültig gezählt. Es lebe die Karotte, die Paprika, der Kohlrabi mit Kräuterquark! 

Ein häufig unterschätztes Gemüse ist der Broccoli, der in vielen Varianten (gekocht, angebraten oder überbacken) ein gesundes und abwechslungsreiches Essen darstellt – auch gerade in Kombination mit Fleischbeilage schmeckt er sehr gut. Ähnlich wie die Krawatten so ist auch der Broccoli oft in Kombination erst etwas Besonderes. Eine bloße Krawatte macht ja auch ohne Hemd und Sakko keinen Sinn, es sieht außerdem bekloppt aus. Fliegen und Krawatten sind, so fand Ernesto, sprichwörtlich der Dip, der den Outfits das gewisse Etwas gab. Bunte, quergestreifte Fliegen und Krawatten adeln den Besitzer, wobei karierte Varianten ihn eher kleiner wirken lassen. Längsgestreifte hingegen wirken verlängernd für die Größe des Trägers. Natürlich gehören immer Lackschuhe zur Fliege oder Krawatte, damit der Träger auch zur vollen Geltung kommen kann. 

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Hausschuhe 

Wir wenden uns heute ernsthaften Problemen der heimeligen Gemütlichkeit zu. Die Hausschuhindustrie hat vierbeinige Haustiere überhaupt nicht bedacht. Das ist eine bodenlose Unverschämtheit! Wie viele Hunde, Katzen oder Schildkröten gibt es da draußen! Sollen die alle ohne Hausschuhe rumlaufen? Nur an Zweibeiner ist gedacht, aber welcher Vogel trägt schon Hausschuhe? Da wäre dringend Nachholbedarf angebracht. Die Vorstellung von Vögeln mit Pantoffeln ist schon ziemlich lustig. Mal ernsthaft: Kein Mensch denkt bei Vögeln an Hausschuhe. (Die Doppeldeutigkeit des Begriffes soll hier mal nicht für Flachwitze benutzt werden.) 

Um mal wieder ernsthafte Pfade zu beschreiten, sei angemerkt, dass die Menschheit ja zwar nicht in der Lage ist, die aktuelle Klimakrise zu bewältigen und eine lebenswerte Umwelt für sich und alle Lebewesen zu schaffen, aber andererseits in der Lage ist, sich auf jede erdenkliche Art umzubringen oder auszulöschen. So viel zum Thema Krone der Schöpfung. Ganz wichtig bei dem Thema sind eben auch Hausschuhe. Wer würde schon gerne ohne Hausschuhe vor die Tür gehen? Sofern diese noch da ist. 

Ich denke, wir haben echt wichtigere Probleme als Hausschuhe. Wenn wir tatsächlich die Krone der Schöpfung sind, was wir bestimmt zweifelsohne sind, dann sollte uns bald mal was einfallen zum Thema Klima und lebenswerte Umwelt für alle Lebewesen. Hugh! 

Zurück zum Thema Hausschuhe: Völlig trendbewusste Menschen haben das Barfußlaufen wieder für sich entdeckt. Ob mit oder ohne Trainingsanzug: Die Wahl der Schuhe ist auch hier Zeichen von Individualität. Den Hausschuhen als Ausdruck geistiger oder körperlicher Bequemlichkeit wäre also der Trainingsanzug gegenüberzustellen als Inbegriff der Sportlichkeit. Genauso das vielfach verkannte Muskelshirt, mit dem die Träger oft durch ihre besondere Athletik auffallen. Auch die vielfach gepriesene Adilette kombiniert mit weißen Tennissocken adelt den Träger. 

Ernesto ging dazu über, selbige jetzt häufiger zu tragen in Verbindung mit einem weißen Stirnband, was ihn als vermeintlichen Tennisprofi ausweisen sollte. Es war gar nicht so einfach, zwei Paar Adiletten in Ernestos Größe aufzutreiben. Nachdem er seinen Job als Gemüselieferant aufgegeben hatte, spielten Ernesto und ich häufiger mal am Nachmittag eine Partie Tennis, zumal die Sonne jetzt zum Sommer hin am Abend immer länger am Himmel stand. 

Die nichtige Bedeutung von Hausschuhen wird dann deutlich, wenn man mal das Haus verlässt. 

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Mein Kiez 

Mein Stadtteil, neudeutsch sagt man wohl Kiez, ist der Stadtteil, in dem mir alles bekannt ist – von der Lottobude bis zum Gemüsehändler. Der Kiez ist ein freiwilliges soziales Gefüge von unterschiedlichen Menschen. Er zeichnet sich aber dadurch aus, dass stets das Motto gilt: Leben und leben lassen. Außerdem zeichnet sich ein gut funktionierender Kietz durch gegenseitige Hilfe und Rücksichtnahme aus. Beispiele für bekannte Kieze sind sicherlich Hamburg, St. Pauli oder Berlin, Prenzlauer Berg und Mitte. 

Unser Kiez wurde also immer mehr zu unserer Heimat, obwohl er keinen tollen Namen hatte: Ellerbek. Der Gemüsehändler, Herr Ylmaz, hatte Ernesto seinen ersten Job verschafft. Ernestos Job als Kundenberater verlangte von ihm gutes Einfühlungsvermögen in die Belange und Bedürfnisse der Kunden. Oftmals stieß er auf nicht nachvollziehbare Probleme. So konnte Ernesto wenig machen bei Unverträglichkeiten von Kunden bezüglich verschiedener Gemüsesorten. Auch eine bestimmte Voreingenommenheit bezüglich des Gemüsehändlers war außerhalb von Ernestos Zuständigkeitsbereich. So war zum Beispiel Frau Schulz allergisch auf Gurke, da konnte Ernesto natürlich nichts machen. Er konnte nur empfehlen, keine Gurken mehr zu essen und stattdessen zum Beispiel Zucchini zu nehmen. Dass sie diese aber nicht mochte, war ja dann außerhalb von Ernestos Möglichkeiten. 

Sehr viel aufgeschlossener waren die Kunden an der Lottobude. Auch wenn diese vornehmlich an Flachmännern und Bierpullen interessiert waren, waren sie stets ein nettes und dankbares Publikum für Ernestos Geschichten. Mit großer Begeisterung wurde – wie bereits gesagt – Ernestos Umstieg auf sein bodennäheres Beförderungsmittel gefeiert. 

Den ganzen Tag an der Bierbude zu stehen, war Ernestos Sache nicht. Also zog er alsbald wieder von dannen. Es galt dann, den Kiez weiter zu erkunden. Vor allem Kinderspielplätze waren jetzt seine bevorzugten Aufenthaltsorte, da diese über Sandkästen und Hindernisse verfügten, über und durch die er spektakulär mit seinem Auto fahren konnte. Die Begeisterungsstürme der Umstehenden nahm er dabei mit Wohlwollen hin. Ein großes Problem stellten Bordsteine dar, deren Höhe von ihm oft unterschätzt wurde. Er stellte fest, dass auch andere Verkehrsteilnehmer über Bordsteine stolperten. Hoffentlich würden diese alsbald mal von den Verkehrsplanern berücksichtigt werden. 

Unser Kiez war und ist nicht der perfekteste, aber der schönste auf der Welt, weil es unser Kiez war. 

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Das ferngesteuerte Auto 

Die Drohne wurde von Ernesto für nicht so gut befunden, weil er doch Höhenangst hatte und irgendwo angeklebt zu sein, war doch ein doofes Gefühl. Da fühlte er sich schon auf einem ferngesteuerten Auto sicherer, zumal das von uns gewählte Modell über eine Ladefläche verfügte, auf der Ernesto sitzen konnte. Auf diese Weise konnte Ernesto nun seine nähere Umwelt entdecken. Längere Touren machten wir nach wie vor mit dem Liegerad, aber kurze Trips konnten auf diese Weise gut bewältigt werden. 

Die Nachbarschaft war von nun an nicht mehr sicher vor Ernesto. Erster Haltepunkt von Ernesto mit seinem neuen Gefährt war die Lottobude bei uns in der Straße. Unter lautem Gejohle der Anwesenden drehte Ernesto einige Runden, um sein neues Gefährt vorzuführen. Die Fernbedienung wurde durch einen Kipphebel ersetzt, mit dem er das Auto durch Bewegungen des Kopfes selber steuern konnte. Somit war auch meine Funktion an der Fernbedienung überflüssig. 

Ernestos zweiter Halt war der ansässige Gemüsehändler, der dann anmerkte, dass Ernesto ja das Gemüse für ihn ausfahren könnte. Aber der Transport langer Gemüsegurken stellte sich als relativ schwierig dar. Auch waren Treppen ein enormes Hindernis bei der Auslieferung von Gemüse mit dem Auto. Die Tatsache, dass die meisten Wohnungen in höheren Stockwerken lagen, machte es also für Ernesto unmöglich diese zu erreichen, um die Bewohner mit dem gewünschten Gemüse zu versorgen. Diese Schwierigkeiten führten dazu, dass Ernestos Karriere als Gemüseauslieferer schnell vorbei war, weil viele nicht an die Haustür kommen wollten, um ihre Bestellung in Empfang zu nehmen. 

Trotz der Hindernisse war der Gemüsehändler mit Ernestos Arbeit sehr zufrieden und stellte ihn als Kundenbetreuer ein. Als bloßer Gemüsehändler mochte sich Ernesto aber nicht sehen, da er stets mit Kunden ein Schwätzchen hielt und dieses von seinen Kunden auch sehr geschätzt wurde. Er war sozusagen der Radieschendoktor für die Nachbarschaft, weil seine Meinung stets von Interesse war und von allen hoch geschätzt wurde. 

Das Auto war Ernestos Weg in die Freiheit, weil er selber über links, rechts, vor und zurück bestimmen konnte und die Höhe auf dem Auto nicht mehr von Bedeutung war. Seine nun erworbene Selbstständigkeit als Gemüsequelle des Kiezes tat ihr übriges, um seine Laune stets hochzuhalten und ließ die Radieschen oberirdisch gedeihen. 

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Mein Joghurt 

Als ich morgens in die Küche kam und wie üblich meinen Kaffee trinken wollte, traute ich meinen Augen nicht. Der Joghurt , den ich tags zuvor in den Kühlschrank gestellt hatte, war ratzekahl aufgegessen. Meinen ersten Verdacht, dass wohl Ameisen den Joghurt gegessen haben müssten, wurde schnell widerlegt, da überall am Fußboden kleine Tapsen von Schildkrötenfüßen waren. Wären es Ameisen gewesen, wäre der ganze Ort von extremer Sauberkeit gezeichnet. So aber waren überall Tapsen von Joghurt. 

Ernesto hatte also meinen Joghurt aufgegessen. Mir war klar, dass er dies natürlich zunächst leugnen würde. Ich musste mir nun genau überlegen, wie ich ihn als Täter überführen konnte, einfache Indizien genügten nicht. 

Mein Versuch, weitere Hinweise für Ernestos Täterschaft zu finden, ließen mich zunächst zögern. Dann aber kam mir die geniale Idee für eine Falle. Ich stellte einen weiteren offenen Joghurt von mir ebenfalls in den Kühlschrank und wartete zwei, drei Tage ab. Dabei half mir meine, enorm im Wert gestiegene, Klopapier-Sammlung (Corona sei Dank), weil ich dann um den Joghurt mehrere Blätter Klopapier legte und hoffte, darauf Ernestos Fußabdrücke finden zu können und ihm diese als Beweis vorlegen zu können. 

Soweit mein theoretischer Plan. In der Praxis überführte sich Ernesto quasi selbst, da er nämlich 2 Tage später zugab, den Joghurt aufgegessen zu haben. Ich musste mich also nicht mehr auf die Lauer legen, um ihn zu überführen. Schade eigentlich. 

Wie oft Theorie und Praxis auseinanderklaffen, weiß ein jeder, der mal ein Auto repariert hat oder im Katasteramt gearbeitet hat. Theoretisch müssten die Dinge funktionieren, sei es beim Auto oder auf dem Amt. In der Praxis stellt sich oft heraus, dass die Dinge dann komplizierter oder glücksbehafteter sind, als einem lieb ist. Der Vergleich von Autoreparaturen und der Arbeit auf`m Amt ist sicherlich mit einiger Skepsis zu betrachten, jedoch stellt sich bei genauerem Hinsehen die Parallele heraus. In der Theorie müssten bestimmte zu errechnende Faktoren eine bestimmte Grundstücksgröße ergeben. In der Praxis zeigt sich aber, dass die Grundstücke dann kleiner sind als gedacht. Bezogen auf das Auto ließe sich sagen, dass das Auto nach der Reparatur theoretisch laufen sollte, tut dies in der Praxis aber nicht immer. 

Mein theoretischer Plan, Ernesto zu überführen, ging in der Praxis also nicht auf, da er selbst ein Geständnis ablegte. 

Die Quintessenz heißt also: Klopapier kann durchaus auch zweckentfremdet nützlich sein, nur schade, dass meine Klopapier-Sammlung jetzt umsonst dezimiert wurde. Drauf geschissen. 

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Putz 

Ernesto und ich saßen gerade gemütlich beim Frühstück auf unserem Balkon, als ein Stück Putz auf den Teller von Ernesto fiel. Wir fragten uns, wo der denn bitte herkam, da wir in der obersten Etage der Balkone waren und über uns nur Himmel. 

Als wir dann nach oben guckten, sahen wir den Grund dafür: Eine Schwalbe transportierte zum Bau ihres Nestes Putz durch die Luft und hatte offensichtlich ein Stück verloren. Warum die Schwalbe ausgerechnet Putz zum Bau ihres Nestes benutzte, war uns überhaupt nicht klar, konnten sie diesen doch nicht anrühren. Die Vorstellung von Schwalben und Betonmischern ging mir nicht in den Kopf. Ernesto merkte nur an, dass das bestimmt sehr hart und ungemütlich sein müsste und lehnte diese Vorstellung ab. Schließlich haben Schwalbenjungen ja auch ein Recht auf ein gemütliches Heim. Aber andererseits konnten wir uns auch nicht vorstellen, dass Schwalben Matratzen durch die Luft befördern. Man stelle sich vor, diese wären Ernesto auf den Kopf gefallen. Dann müssten wir täglich Bauhelme tragen, weil ständig die Gefahr bestünde, von Matratzen erschlagen zu werden. 

Aber jetzt fragten wir uns schon, wo denn der ganze Putz herkam, den die Schwalbe transportierte. Bei genauerer Betrachtung unserer Hausfassade stellten wir fest, dass diese Löcher aufwies und dass der Putz zu bröckeln begann. Da es sich nur um sehr kleine Stellen handelte, sah man diese erst bei genauerem Hinsehen. Offensichtlich wurden die ehemaligen Löcher zur Befestigung des Baugerüsts zur Anbringung der Balkone nicht ordnungsgemäß wieder zugemacht, sodass die Schwalbe rund um die Löcher den Putz entfernen und abtransportieren konnte. Durch die Tatsache, dass ich nur von in der Küche sitzend die Hausfassade anschauen konnte wegen meiner Höhenangst, verließ ich mich nur auf Ernestos Berichte über das Ausmaß des Schadens. 

Die Redewendung „auf den Putz hauen“ bekam plötzlich einen ganz neuen Kontext. Wenn man die Schwalben mal so beim Nestbau beobachtete, pickten sie eher als dass sie hauten, aber das Sprichwort heißt ja nicht „auf den Putz picken“, auch wenn das hier mehr Sinn machen würde. 

Ernesto und ich konnten also unser Frühstück jetzt beruhigt fortsetzen, ohne Angst haben zu müssen, von großen Putzteilen oder Matratzen getroffen zu werden. Kleine Putzstücke konnten uns zwar immer noch treffen, aber die waren weniger gefährlich.