Herr Müller sieht die Welt

Haustiere 

Es war wieder einmal Sonntag und Ernesto und ich saßen beim gemeinsamen Frühstück, in dessen Verlauf mir Ernesto eröffnete, dass er gerne ein Haustier hätte. Die Vorstellung von ihm mit einer Hundeleine im Maul fand ich sehr lustig und es fragte sich dann, wer mit wem Gassi geht. Aber das Problem stellte sich gar nicht, da ihm Hunde zu schnell liefen. Es blieben also nur Haustiere, die sich in einem räumlich begrenzten Radius bewegten. Nachdem Meerschweinchen und Kaninchen von Ernesto abgelehnt wurden, fiel unsere Wahl auf Fische. Diese konnten den ganzen Tag von Ernesto in ihrem Aquarium beobachtet werden. 

Nachdem Ernesto mehrere Stunden vor dem Aquarium saß und die Fische anglotzte, fragte er mich, ob man Fischen auch Kunststückchen beibringen konnte. Zum Beispiel wäre es doch cool, wenn die Fische als geschlossener Schwarm mit oder gegen den Uhrzeigersinn im Kreis schwämmen und auf Kommando ihre Richtung ändern könnten. Ich verfügte auch über keinerlei Erfahrungen mit Fischen und Kunststücken und konnte ihm daher nur raten, es auszuprobieren. 

Ernesto hatte außerdem die Idee, weil ihm das Glotzen auf das Aquarium ziehmlich stupide vorkam – ähnlich wie das Glotzen auf einen Fernsehbildschirm – einen eigenen TV-Kanal ins Leben zu rufen, auf dem man Fische im Aquarium beobachten konnte. Er würde den Sender „Schildkröt-TV“ nennen. Bei Schildkröt-TV würden dann zusätzlich alle Themen behandelt werden, die moderne, aktive Schildkröten so interessieren, also alle Dinge, die Ernesto so unternahm und beschäftigten. Ob seine Lebensweise formatfüllend war, wusste er noch nicht, aber er wollte es zumindest mal ausprobieren. Mein Tipp – wenn es nicht gleich für einen ganzen TV-Sender reichte – es mal mit einem Youtube-Kanal oder sonstigen digitalen Formaten zu probieren. Er war dankbar für die Anregung, aber dazu später. 

Zurück zu unseren Fischen: Zunächst galt es zu klären, wie man den Fischen beibringt, im Schwarm im Kreis zu schwimmen. Mit Hilfe eines Laserpointers, mit dem Ernesto auf der Aquarienoberfläche eine kreisförmige Bewegung machte, sollten die Fische lernen, sich zunächst im Schwarm zu bewegen und im nächsten Schritt in einem Kreis zu schwimmen. Das klappte schon nach dem 195sten Mal recht gut, sodass Ernesto nun dazu überging, den Fischen beizubringen, was es hieß, mit und gegen den Uhrzeigersinn zu schwimmen. Ihnen das beizubringen, dauerte eine lange Zeit, aber letztlich begriffen sie auch dieses. 

Wer hätte gedacht, dass man Fischen Kunststücke beibringen kann? 

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Alter 

„Alter, haste das gesehen?“ platzte es aus Ernesto heraus, als er ein Fahrrad gesehen hatte, das an einer Hauswand gelehnt war. Dieses verfügte nämlich über einen Riemenantrieb statt einer Kette. Viele Kraftfahrzeug-Besitzer werden das kennen, da Autos Steuerketten oder Keilriemen haben. Verblüfft über Ernestos Ausdrucksweise, zeigte ich mich dennoch offen für das angesprochene Thema. Die meisten Fahrräder werden ja über Ketten angetrieben, so auch unser Liegerad, von daher war der Antrieb über einen Riemen schon sehr außergewöhnlich. 

Wie schon geschildert, ist Zeit für Schildkröten eher relativ als minutiös. Daher ist auch ihr Alter eher durch Zeiträume geprägt als an Jahren oder Monaten festgemacht. Ernesto war also gemessen in Zeiträumen vielleicht jünger, als er tatsächlich war. Die Frage, wer von uns beiden der Ältere war, war also nicht so leicht festzustellen. Aber da es auch keine Rolle spielte, war es mir relativ schnurz. 

Interessanter fand ich da den Gedanken, dass man sich oft von den ersten Erwartungen täuschen lässt und erst auf den zweiten Blick erkennt, was dahintersteckt, sei es beim Antrieb des Fahrrads (Zahnriemen oder Kette) oder beim ersten Eindruck von Lebewesen. Häufig genug lässt man sich vom ersten Eindruck blenden. Auch der zweite Blick sollte einer genauen Überprüfung seinerseits, also des Betrachters, standhalten. Das erfordert natürlich vom Betrachter und vom Betrachteten zweierlei Dinge: zum einen, dass man erkennt, was man da betrachtet und zum anderen als Beobachteter, dass man weiß, dass man beobachtet wird und nicht versucht zu täuschen, also mehr zu scheinen als zu sein. 

Häufig genug lassen sich viele Menschen von dem Spruch: „You never get a second chance to make a first impression“ leiten, jedoch soll das nicht davon abhalten, immer mal wieder sein Bild zu hinterfragen. Wenn man dann feststellt, dass Selbstbild und Fremdbild (sofern man das zulässt) sehr stark divergieren, sollte man sich gelegentlich mal fragen, warum und nötigenfalls anpassen. Wenn man nur dazu neigt, Menschen der Einfachheit halber in Schubladen zu stecken, dann sollte einem dieses durchaus bewusst sein. Vorurteile können ja auch durchaus nützlich sein, müssen aber stets hinterfragt werden, weil ihre vorsortierende Wirkung schnell dazu führen kann, dass Meinungen nicht mehr überprüft werden und als gegeben hingenommen werden. 

Also deshalb Vorsicht bei jugendlich wirkenden Schildkröten! 

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Sandalen 

Gerne werden Sandalen ja mit Socken kombiniert, das ist unsere Sache nicht. Auch Nagellack jeglicher Coleur fand nicht unsere Zustimmung. Trotzdem zogen wir bei warmen Temperaturen neben der Adilette auch gerne die Fußbekleidung der römischen Legionäre an. Diese haben ja damit Europa und Teile Afrikas erobert. Wir brauchten aber unsere Sandalen für weitaus pazifistischere Zwecke. Oder lief der Kiosk in unserem Kiez etwa Gefahr, von römischen Legionären auf einem ihrer Feldzüge erobert zu werden? Da dies nicht mehr zu befürchten stand, konnten wir uns ganz auf unseren Einkauf von Gummitieren, Lakritzschnecken und Weingummi konzentrieren. 

Der Kioskbesitzer begrüßte uns mit einem lang erwarteten „Hallo!“ und fragte Ernesto nach der Geländegängigkeit seines ferngesteuerten Autos, dass er ja selber bedienen und lenken konnte und trotz der Abgasproblematik für Ausflüge zum Kiosk gern mal wieder benutzte. Entgegen der üblichen Gewohnheiten an einer Trinkhalle, war Ernesto überzeugt von der Null-Promillegrenze und hielt sich daran. Nüchtern und voller süßer Wohltaten gingen wir in den nahegelegenen Park, den wir schon von vielen Ausflügen kannten, um den Sommer zu verabschieden. 

Die Sonne schien warm auf unsere Stamm-Parkbank, auf der wir saßen. Das Dummer war: Da wo sonst immer die Mülleimer standen, lagen zwei große Hundehaufen und die stanken bei diesen Temperaturen ganz erheblich, sodass wir auf eine andere Bank umziehen mussten, um unsere Süßigkeiten zu vernaschen. 

Dem Herbst wird im Wachstum der Pflanzen nur eine untergeordnete Rolle zugewiesen, dabei ist gerade in dieser Jahreszeit so viel zu beobachten. Mit herabfallenden Blättern und vor der Vorbereitung der neuen Wachstumssaison machen die Tiere sich winterfest, indem sie sich entweder auf den Winterschlaf vorbereiten oder in den Süden fliegen. 

Abgebaute Mülleimer sind ein gutes Indiz dafür, dass es Winter wird. Die Zeit der warmen Getränke und der heimeligen Gemütlichkeit hat wieder Oberhand. Ist ja auch angenehmer zu wählen, ob die Getränke kalt oder warm sind. Genauso würde man das auch gerne beim Wetter machen, leider geht es da aber schlechter. 

Im Zuge des Verabschiedens des Sommers wanderten auch unsere Sandalen in den hintersten Winkel des Schranks. Wir und sie erwarteten den nächsten Sommer. 

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Brustbeutel 

Brustbeutel sind ja für Schildkröten eher ungeeignet. Die Gefahr ist groß, dass sie sich damit erwürgen. Aber auch Geldgürtel um den Panzer gewickelt ergeben ein Problem. Münzen und Kleingeld kann in ihnen nur in geringer Menge eingefüllt werden. Aber kaum jemand trägt ständig Geldscheine mit sich rum, Schildkröten schonmal gar nicht. Die wenigsten Schildkröten haben Kreditkarten, dabei würden diese für sie am meisten Sinn machen. Nur mit der Unterschrift, die den Kauf bestätigen, haben Schildkröten so ihre Probleme. Im Zeitalter von Online-Banking genügt ja ein digitaler Pfotenabdruck. Bei der Gelegenheit müsste man sich fragen, ob alle vier Pfoten denselben Abdruck haben, ich gehe einfach mal davon aus. 

In Ernestos Fall gab es vor allem das Problem des Schiebens des Einkaufwagens, ferngesteuert gibt es diesen ja noch nicht. Das selbstständige Einkaufen im Supermarkt ging daher nicht. Stattdessen war es von Vorteil, dass er beim Gemüsehändler alles bekam, was er brauchte. Dort konnte er anschreiben lassen und seine Auswahl mündlich Herrn Yilmaz mitteilen. Oft kam er dann völlig vergnügt mit einem prall gefüllten Einkaufskorb nach Hause und wollte kochen. Da er dazu meine Hilfe benötigte, musste ich ihn – sehr zu seinem Bedauern – immer mal wieder vertrösten, weil ich oft genug Arbeit mit nach Hause brachte und noch einiges zu tun hatte. Auch auf dem Amt hat sich inzwischen die Möglichkeit von Home Office im Laufe der Zeit immer weiter ausgebaut. 

Die Möglichkeiten des online Einkaufs waren Ernesto zu anonym und Amazon war seine Sache nicht. Den Weltraumflug eines durchgeknallten Milliardärs wollte er nicht mitfinanzieren. Außerdem hatte er eher Mitgefühl mit den armen Paketboten, insbesondere nachdem er per Drohne den Alltag der Paketboten live sehen konnte. 

Apropos durchgeknallte Milliardäre – die gibt es ja nicht so häufig, also so voll durchgeknallte, größenwahnsinnige… Man könnte sich mal fragen, ob auf dem Mars neuer Ort zum Zerstören gesucht wird. Haltet doch hier alles sauber, rein und friedlich, dann müsstet ihr nicht zum Mars fliegen. Außerdem lauft ihr immer Gefahr, dass ihr die Probleme dorthin mitnehmt und exportiert, statt sie auf der Erde zu lösen. 

Zurück zum Brustbeutel: Ich bevorzuge Portemonnaies, Brustbeutel lassen Menschen eher wie Kleinkinder wirken. Portemonnaies sind aber wiederum für Schildkröten nichts, da diese eher selten über Hosentaschen verfügen. 

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Kowalski ihm sein Anglizismus 

Ernesto und ich waren wieder mal mit der Treppenhaus-Reinigung unseres Mietshauses dran. Natürlich ließ es sich Kowalski nicht nehmen, unsere Arbeit zu prüfen und fragte mich bei dieser Gelegenheit, ob es einen Unterschied gäbe zwischen me, myself und I. Eher verblüfft über den Sender der Botschaft, antwortete ich ihm, das würde davon abhängen, wie der semantische oder lexikalische Bezug wäre, in dem sie gebraucht werden würden. Man dürfe sie jedenfalls nicht mit Homonymen oder Homophonen verwechseln, die zwar in ihrer Bedeutung gleich wären, aber in ihrem Klang oder Schriftbild unterschiedlich wären. Befriedigt mit dem Gehörten zog Kowalski von dannen und ging in seine Wohnung. 

Völlig überraschend drehte er sich noch einmal in seiner Wohnungstür um und lud Ernesto und mich zu Kaffee und Kuchen zu sich am Nachmittag ein. Gegen 15 Uhr klingelten wir daher bei Kowalski und wurden von lauter Musik empfangen. Kowalski hatte zum Nachmittagskaffee auch seine Tanzkapelle eingeladen, mit der er gelegentlich zu Hochzeiten und anderen Feiereien zum Tanz lud. Erwartungsschwanger sah Kowalski uns an und erwartete wohl, dass wir uns zum Gehörten äußerten. Als das dann ausblieb, verfinsterte sich seine Miene. Um schnell zum eigentlichen Anlass des Besuchs – zu Kaffee und Kuchen – überzugehen, äußerte ich mich sehr positiv über die Gestaltung seiner Wohnung und Kowalskis Laune war etwas besänftigter. Ganz nebenbei: Die Musik war scheiße, fand ich, aber das ist ja meine persönliche Meinung. 

Das Problem mit Herrn Kowalskis Anglizismen stellte sich erneut, weil er mir jetzt ein Gerät präsentierte, was die Aufschrift (Achtung: Deutsch ausgesprochen!) „Made in Japan“ trug. Er wusste beim besten Willen nicht, was Made hier zu bedeuten hatte, gab sich dann aber mit meiner Erklärung überzeugt zufrieden. Damit war das Problem mit Kowalskis Anglizismen zufriedenstellend gelöst und wir konnten uns jetzt endlich Kaffee und Kuchen widmen. 

Die Verwendung englischsprachiger Begriffe in unserer Sprache klingt zwar neudeutsch oder cool, ist aber für die Kowalskis oder älteren Menschen unserer Gesellschaft irreführend oder missverständlich. Man spricht ja in diesem Zusammenhang gerne von der McDonaldisierung der deutschen Sprache. Stellt sich dann nur die Frage, was für den Benutzer der Big Mac und was der Royal ist. Die Individualisierung der Sprache sollte einem Jeden bewusst sein, auch wenn jede Generation einen bestimmten Duktus in der Sprache hat und bestimmte Begriffe benutzt, um Positives oder Negatives auszudrücken. Aber Anglizismen sollten meiner Meinung nach da bleiben, wo sie hingehören: in den englischsprachigen Ländern dieser Welt. 

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Händy 

Die Zahl der Telefonzellen nahm rapide ab in den letzten Jahren. Das fiel auch Ernesto auf und er fragte, wie das denn zu erklären sei. Er vermutete, dass entweder alle jetzt eigene Telefonzellen hätten oder – was wahrscheinlicher war – alle jetzt vor allem mit ihren Handys telefonierten. Wie zur Bestätigung zeigte er mir sein Handy, das ein besonderes Foto auf der Oberfläche hatte. Es zeigte nämlich Ernie und ihn im Hinterhof beim gemeinsamen Kaffee und Kuchenessen auf dem Straßenfest. 

Seitdem Ernesto ein eigenes Handy hatte, hing er ständig an selbigem und war für Kommunikation mit mir überhaupt nicht mehr greifbar. Das nervte mich ganz gewaltig! Als dann eines Tages sein Handy ins Klo fiel, war er auf direkte Kommunikation mit mir zurückgeworfen. Ich nutzte die Gelegenheit, um mit ihm mal ein paar Dinge zu vereinbaren. Zum einen nervte mich sehr, dass jegliche Kommunikation nicht mehr stattfand und zum anderen, dass er sich stattdessen mit Ernie am Handy über etwaige Unbill unterhielt. Probleme sind doch aber dazu da, um sie in einem Gespräch direkt mit der betreffenden Person zu lösen und nicht mit Dritten über die betreffende Person in digitalen Medien abzuwettern. 

Der eigentliche Sinn von Telefonen wird durch die neue Art der Kommunikation mit den Handys ad absurdum geführt. Die Kommunikation, um deretwegen man ja eigentlich telefoniert, steht nicht mehr im Mittelpunkt des Telefonierens, also der Benutzung des Telefons. Vielmehr sind die anderen Funktionen des Telefons in den Mittelpunkt der Benutzung gerutscht. Das Telefon wird zum Statussymbol, weil es im besten kantschen Sinne nicht mehr Mittel zum Zweck ist, sondern Selbstzweck. 

Ernesto benutzte sein Handy vor allem als Fotoalbum und eine Vielzahl von Fotos zeigten ihn und Ernie in diversen Lebenssituationen, wobei er größten Wert darauf legte, stets gut getroffen zu sein. Wie Ernie aussah, war ihm relativ egal. 

Wir vereinbarten daraufhin, dass Ernesto jetzt wieder für eine direkte Kommunikation mit mir zur Verfügung stand. Ernesto musste sich an diesen Gedanken erst einmal wieder gewöhnen, fand das aber letztlich doch besser als über ein Medium mit mir zu sprechen. 

Die direkte Kommunikation zwischen zwei Menschen eröffnet beiden ungeahnte Möglichkeiten! Probieren Sie es mal aus, es lohnt sich meistens! Wenn nicht, sagen Sie mir bitte Bescheid. 

Herr Müller sieht die Welt

Weihnachten bei Ernesto 

Genau wie ich liebte Ernesto Weihnachts-Knabbereien, aber im Gegensatz zu mir genoss er diese auch ohne Kaffee. Hauptsache, er konnte Lebkuchen essen. Ernesto hatte beschlossen, dass anstelle eines Adventskranzes auf seinem Panzer jeden Sonntag eine neue Adventskerze angezündet werden sollte, natürlich nur für den jeweiligen Tag. Das Bild von einer Schildkröte mit vier brennenden Kerzen auf dem Panzer stellte ich mir lustig vor, aber noch war es ja auch Zeit bis zum 4. Advent. 

Als es dann so weit war, stellte sich vor allem das Schmücken des Baumes als Problem heraus. Ernesto und ich hatten völlig gegensätzliche Ansichten über das ausgewogene Schmücken eines Baumes. Ernesto wollte Lametta und Elektrokerzen, ich wollte dagegen möglichst viele Strohsterne, Holzanhänger und echte Kerzen. Auch bei der Auswahl des Stollens waren wir geteilter Meinung. Ich mochte Rosinen, er nicht. Einig waren wir in der Abneigung von Dominosteinen, diese fanden wir beide eklig. 

Wir beschlossen, den Tannenbaum zu teilen. Für die eine Hälfte des Schmückens war Ernesto zuständig, für die andere Hälfte ich. Die innerdeutsche Staatsgrenze war nichts gegen den geteilten Weihnachtsbaum von Ernesto und mir. Bis auf die Tatsache, dass er über keinerlei Selbstschussanlagen verfügte, war die Teilung schon sehr offensichtlich. Selbst ein Blinder konnte sehen, dass in diesem Haushalt wohl zwei gegensätzliche Lebewesen lebten. Nie hätte ich gedacht, dass Weihnachten zu solchen Zwistigkeiten führen könnte. Aber wie ich schon von so manchem hörte, ist gerade das Fest der Stille Anlass für so manchen Streit. 

Der nächste Punkt, über den wir uns einig werden mussten, war das Weihnachtsessen. Ernesto wollte Würstchen und Kartoffelsalat, mir war das zu profan. Mir stand mehr der Sinn nach Braten, Rotkohl und Klößen. Unser ortsansässiger Bio-Bauer hatte noch zwei Gänsebraten zur Verfügung. Wir mussten uns also beeilen, um noch einen zu erhaschen. Nachdem wir einen der Braten noch ergattern konnten, konnte ich Ernesto von der Schmackhaftigkeit dieses Festmahls mit Rotkohl und Klößen überzeugen. 

Ernie und Bert waren hoch erfreut, gemeinsam mit ihrem Anhang zu unserem Weihnachtsessen zu kommen. Nachdem alle gesättigt waren, mehr oder weniger glücklich über ihre Geschenke – Ernie bekam von Ernesto ein Terraband, um sich körperlich ertüchtigen zu können – sang Ernesto zu unser aller Begeisterung Weihnachtslieder begleitet mit seiner Spezialgitarre. Den Abschluss des Abends bildeten Glühwein und Punsch, der von uns in vollen Zügen genossen wurde. 

Fröhliche und besinnliche Weihnachtstage wünschen euch Herr Müller und Ernesto! 

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Schnecken 

Völlig außer Atem vor Aufregung erzählte Ernesto mir eines Tages begeistert davon, dass er nicht das langsamste Tier im Tierreich sei. Er habe jetzt Schnecken entdeckt und die seien viiieeel langsamer als Schildkröten. Außerdem berichtete er, dass sie immer so eine Schleimspur hinterlassen würden, die fand Ernesto ziemlich eklig. Sein Versuch, mal eine Schnecke zu einem Wettrennen herauszufordern, blieb bisher unbeantwortet, aber vielleicht findet sich ja noch ein Gegner. 

Den Witz mit der Schnecke auf der Schildkröte, die sich zum Ausruf „Hui!“ hinreißen lässt, fand Ernest gar nicht witzig, wo wir bei der Relativität von Geschwindigkeit wären. Was für Schnecken normale Geschwindigkeit ist, ist für Schildkröten wirklich langsam. Also fragt sich dann, wie schnell die Geschwindigkeit von Menschen für Schildkröten und Schnecken wirken musste. 

Das Sprichwort In der Ruhe liegt die Kraft konnte Ernesto nur bedingt unterschreiben, da er schon ein eher langsamer Zeitgenosse war. Das Sprichwort macht ja nur dann Sinn, wenn man die Wahl hat, ob etwas schnell oder langsam geht. Und das mit dem Schleim: Darauf konnte er getrost verzichten. Das wurde ja auch im Sprichwort nicht erwähnt. 

Trotzdem ließ es mich als Angehörigen der schnelleren Spezies mal darüber nachdenken, dass Schnelligkeit nicht das Gebot der Stunde sein kann und auch gar nicht sein sollte. Was mir gar nicht bewusst war: Mit Schnelligkeit schließt man von der Beteiligung einige Menschen aus. Zum einen wird Schnelligkeit häufig als Hektik interpretiert, zum anderen können eben viele Menschen nicht mehr so schnell reagieren wie gefordert. Das heißt aber nicht, dass sie nicht mental teilnehmen oder den Gedanken nicht nachvollziehen können. Ernesto war ja der Ansicht, es sei besser, Dinge mit Bedacht anzugehen. Das hieß nicht, sie langsamer zu erledigen, sondern stets über das zu Tuende nachzudenken, um dann zu einer wohl durchdachten Tat zu schreiten. 

Mir fiel zu dem Wettrennen zwischen Schildkröte und Schnecke noch die berühmte Parabel vom Wettrennen zwischen Hase und Igel ein. Um Ernesto ein ähnliches Schicksal zu ersparen wie dem Hasen in der Parabel, schlug ich ihm vor, sich niemals auf ein Rennen mit einer Schnecke einzulassen, da diese in unseren Breiten im Zweifelsfall über mehr Artgenossen verfügte als Schildkröten. Natürlich hörte Ernesto nicht auf mich und nahm ein Rennen mit einer Schnecke an. Mit Stirnband bewaffnet erwartete er den Tag des großen Rennens. Meine Aufgabe war es, ihn während des Rennens mit ausreichend Flüssigkeit zu versorgen. Als Rennstrecke war unser Hinterhof ausgewählt worden. Entgegen meiner Befürchtung gewann Ernesto das Rennen, wenn auch nur knapp. Zur Belohnung gab es von mir dann diesmal ein Siegeressen. 

Auch wenn Ernesto gewann, Schnelligkeit ist dennoch oft nicht das anzustrebende Ziel, sondern die Qualität und die Absicht der Handlung sind entscheidend. 

Herr Müller sieht die Welt

150 % 

Ein volles Glas entspräche 100%, so erklärte ich Ernesto, was 100% sind. Mehr als 100% könne es eigentlich nicht geben. Ernesto stutzte und fragte mich, wie es dann käme, dass viele Menschen 150% von ihrer Leistung geben wollten. Seiner Anmerkung, „Das geht ja gar nicht“, konnte ich schwerlich widersprechen. Meine Erklärung, dass diese Menschen ihre Leistung übererfüllen wollen, diente zur Erklärung für ihn und mich. 150% würde aber am Beispiel des Glases immer ein Fußbad einschließen. Um bei den Menschen zu bleiben, wollen diese damit anzeigen, dass sie bereit sind, vollen Einsatz zu zeigen. Wenn sie aber mehr geben als sie dazu in der Lage sind über einen längeren Zeitraum, fragt sich die Fachwelt, wie lange das für den betreffenden Menschen gut gehen kann. Die Subjektivität der Aussage wird offenkundig, weil nicht klar ist, was genau 100% sind. Somit ist auch die Aussage, 150% geben zu wollen, subjektiv. 

Am Beispiel des Glases wären 100% für Ernesto schon die Fähigkeit, das Glas mit Wasser zu füllen. Wie soll denn eine Schildkröte das Glas befüllen? Ernesto versuchte daraufhin natürlich, ein Glas zu befüllen. Er stellte aber fest, dass es für ihn unmöglich war. Es zeigte sich, dass die 100% für den einen selbstverständlich, für den anderen unmöglich waren. Es lässt sich also keine allgemein gültige Aussage treffen, was bereits 100% waren. Die 100% müssen also demnach intra-individuell bestimmt werden (so viel zum Thema Lernzielkontrollen – eine Anmerkung des Autors – Es macht demnach wenig Sinn, zwischen den Individuen zu vergleichen, sondern innerhalb eines Individuums zu schauen, wo der Lernfortschritt liegt.). 

Ernesto musste nach so vielen Gesprächen über Flüssigkeiten erstmal dringend auf`s Klo. Ernesto kam völlig zufrieden vom Klo zurück und sagte, er habe 100% gegeben. Die Füllmenge der Blase ist individuell verschieden. Die 100%, die Ernesto gab, waren also seine individuelle Blasen-Füllmenge, mehr ging nicht. 

Wieder bezogen auf die Füllmenge des Glases, würde es also wenig Sinn machen, diese zu erhöhen genauso wie die Blasengröße, da sie für jedes Lebewesen festgelegt ist. 

Es wird also deutlich, dass 150% zwar nett gemeint sind, aber in der Realität nicht gehen. 100% ist bereits das Maximum der Leistung eines Lebewesens. Die sollten angestrebt werden, sie jedes Mal zu erreichen wäre aber auch übermenschlich und auf lange Sicht auch gar nicht erstrebenswert. 

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Banane 

Südfrüchte sind ja lecker. Gerade Bananen, obwohl sie zur Trennlinie zwischen West und Ost wurden. In Westdeutschland gehörten sie zum generellen Obstangebot im Supermarkt, in Ostdeutschland eher nicht. Von der CO2-Bilanz von Südfrüchten reden wir jetzt mal nicht. 

Dass Südfrüchte die Trennung der deutschen Staatsgrenze manifestierten, hätten sich die Oberen damals auch nicht träumen lassen. Ananas und Melonen waren ja auch eher staatstragend, da sich an ihnen die innerdeutsche Staatsgrenze weniger manifestierte als an Bananen. Trotzdem schmecken sie heute Ernesto sehr gut, auch wenn ihm die Historie von Bananen im innerdeutschen Zusammenleben völlig wurscht war. 

Ernesto liebte Bananen und konnte nicht genug von ihnen bekommen. Auch wenn es für ihn schwierig war, sie zu schälen, freute er sich doch, wenn er von mir ein Stück Banane bekam. Ich kam mir dann immer ein wenig vor wie im Zoo bei der Fütterung. 

Endgültig salonfähig wurden Bananen durch das Bild von Andy Warhol, das dann The Velvet Underground als Platten-Cover nutzte. Die Banane war nicht mehr nur ein herkömmliches Obst, sondern zur Kunstfrucht geadelt worden. Josephine Bakers Rock zu Ehren der Banane – wenn auch ein paar Jahre vorher – war endgültig vom Zeitgeist eingeholt worden. Bananen durften nicht nur schmecken, sondern waren auch Kunst und Gegenstand, um Gegenwertigkeit auszudrücken, mit der sich die Menschen auseinandersetzten. Die Vergänglichkeit des Gegenwärtigen wird einem angesichts der Bananen deutlich: Kaum ist sie da, ist sie dann auch schon gegessen. Nur Obacht mit der Schale! Diese sollte in den dafür vorgesehenen Behältern entsorgt werden. Schade eigentlich, dass sich Bananen-Pflanzen so schlecht als Christbaum eignen. Ihr Wachstum in Stauden macht ein Behängen mit Schmuck nahezu unmöglich. 

Zurück zum Anfang der Geschichte: Die oft verkannte CO2-Bilanz von Südfrüchten sollte einem Anlass zum Innehalten geben. Genau wie bei Fleisch ist auch hier die Umweltbelastung durch den Transport ziemlich hoch und sollte einen wieder zurück zum Genuss von einheimischem Obst führen. Trotz dem Bananen eine schlechte CO2-Bilanz aufweisen, konnte Ernesto nicht ganz darauf verzichten, nur die Menge reduzierten wir. 

In diesem Sinne: Alles Banane!