Herr Müller sieht die Welt

Verkehrsschilder

Nicht zuletzt dienen sie – außer stetem Anlass des Ärgerns zu sein – dem einigermaßen reibungslosem Verkehrsfluss. Oft genug fragt man sich aber schon, was den oder die Aufsteller des Schildes dazu veranlasst hat, ausgerechnet an dieser Stelle dieses spezielle Schild aufzustellen. Verkehrsschilder können aber – im Gegensatz zu allgemeingültigen Regeln – nicht permanent überprüft werden, zumal es auch schwer wäre, dieses während der Fahrt zu tun. Manchmal muss man sich einfach darauf verlassen, dass diese schon einigermaßen sinnvoll aufgestellt sind.

Ähnlich wie Verkehrsschilder sollen ja Regeln den Alltag erleichtern, weil sie Verhaltensweisen eine allgemeine Gültigkeit verleihen. Genauso wie Verkehrsschilder den Verlauf des Verkehrs regulieren, so sollen auch Regeln den Alltag eigentlich regulieren und damit vereinfachen. Leider hat sich gerade in Deutschland die Einhaltung der Regeln über alles gesetzt und es wurden diese nicht mehr hinterfragt. Letztlich lassen sich alle Regeln überprüfen mit der einfachen Kinderregel: Was du nicht willst, das man dir tu`, das füg` auch keinem andern zu. Das Überprüfen von Regeln auf diese einfache Art sollte es doch einem jeden ermöglichen, sein Verhalten zu optimieren bzw. anzupassen.

Ernesto mochte Verkehrsschilder und Regeln überhaupt nicht, weil sie – so fand er – Auskunft über das Flair einer Stadt bzw. des Stadtteils (Kiezes) gab: Je mehr Schilder, desto doof, so seine Worte. Dass sie ihn an die Einhaltung von Regeln erinnern sollten, ignorierte er geflissentlich. Leider handelte er oft nach dem Motto: Wo ich bin, ist vorne bzw. oben. Verkehrsschilder holten ihn dann nur gelegentlich auf den Boden der Tatsachen zurück, zeigten ihm, was sie von ihm erwarteten und was nicht. Hätten die Verkehrsschilder gewusst, welche Wirkung sie auf Ernesto hatten – keine – wären sie freiwillig ins Exil gegangen. So aber blieben sie da stehen, wo sie eingemauert wurden und wurden weiterhin von ihm ignoriert.

Nur die Ästhetik der Einbahnstraßen-Schilder war, so fand er, unnachahmlich. Und so gründete Ernesto einen Einbahnstraßen-Fanclub. Dass es in dem Verein nur zwei Mitglieder gab, die sich vom jeweils anderen Ende der Einbahnstraße aus zuwinkten, muss ja hier nicht weiter erwähnt werden.

Welchen Wert Verkehrsschilder hatten, merkte Ernesto erst bei einem Stadtfest, in dessen Durchführung viele Schilder – vor allem Parkverbotsschilder – provisorisch aufgestellt wurden. Ernesto ließ sich dazu hinreißen, so ein provisorisches Schild einzupacken und wurde prompt dabei erwischt. Moral der Geschicht`: Schilder klauen lohnt sich nicht! (Gruß an A. aus WF )

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Leitplanken

Ernesto sagte mir irgendwann, als wir im Auto fuhren, dass Autofahren ja ein bisschen so sei wie mit der Carrera Bahn zu fahren. Ernesto dachte, dass die Leitplanken die Fahrzeugausrichtung beeinflussten und das Lenkrad nur Attrappe sei. Die Vermutung Ernestos, dass diese keinerlei Funktion für das Auto hätten bzw. als Kontaktschienen für die Versorgung des Autos mit Strom dienten, musste ich also korrigieren.

Meine Intervention, dass man als Fahrer die Fahrtrichtung mit dem Lenkrad selber bestimmen konnte, verblüffte ihn. Seine Verblüffung schien schier grenzenlos zu werden, als wir mit dem Auto auf der Autobahn fuhren und die Autos quer über alle Fahrbahnen kreuzten. Da war ihm endgültig klar, dass die Richtung der Fahrzeuge vom Fahrzeuglenker mithilfe des Lenkrads selbst bestimmt werden konnte. Die Bedeutung des Lenkrads ist zwar jedem Fahrzeugführer bekannt, aber Schildkröten musste diese erst klar gemacht werden. So musste ich Ernesto also erklären, dass zum Beispiel beim Rückwärtseinparken der Fahrer besonders gefordert ist, das war Ernesto gar nicht klar. Dass sich die komplette Fahrzeugausrichtung mit jedem kleinsten Lenkradeinschlag änderte, war ihm ebenfalls unbekannt, aber seine Vorstellung wurde schnell von der Realität korrigiert.

Die Aufgabe der Leitplanken wurde Ernesto also erst nach und nach klar, als er nämlich begriff, dass sie nicht zur Fahrzeugausrichtung da waren, sondern nur dafür, um Schlimmeres zu verhindern. Was Schlimmeres sein sollte, war mir zunächst unklar, aber als Ernesto dann ans Steuer wollte, wurde es mir schlagartig klar. Ich wollte die Belastbarkeit von Leitplanken ungerne austesten. Ernesto musste also bleiben, wo er war: auf dem Beifahrersitz. Schildkröten an Lenkrädern sind ja auch Gott sei Dank eher selten gesehen. Deswegen bekam Ernesto ein kleines Lenkrad, mit dem er auf dem Beifahrersitz vor sich hinlenken konnte. Dies hatte zwar keinerlei Einfluss auf die Ausrichtung des Fahrzeuges, aber das war in dem Fall egal. Er hatte trotzdem Spaß daran. Außerdem stand ihm ja nach wie vor sein ferngelenktes Auto für`s selbstständige Fahren zur Verfügung.

Der Sinn und Zweck von Leitplanken musste Ernesto also in der Theorie klar werden. Ernestos Idee, die Belastbarkeit von Leitplanken in der Praxis auszuprobieren, also dagegen zu fahren, erschien mir doch zu drastisch, zumal Ernesto nicht vernünftig bei einem Aufprall gesichert werden konnte. Gurte für Schildkröten wäre eine neuerliche Forderung für Aktivisten. Von denen gibt es ja viele.

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April, April

Geraume Zeit dachte ich darüber nach, wie ich Ernesto mal angemessen in den April schicken konnte in Angedenken an seine Art und Weise, wie er mich letztes Jahr in den April schickte.

Lange fiel mir nichts ein, aber dann: Seine Drohne übertrug doch die Bilddaten auf den Monitor der Fernbedienung, sodass Ernesto die Bilder am Boden sehen konnte, die die Drohne in der Luft machte. Mit Hilfe eines Nachbarn, der in Sachen Bildbearbeitung und EDV sehr viel weiter war als ich, überlegte ich, ob ich nicht die Bilder aus dem Film „Planet der Affen“ für meine Zwecke gebrauchen konnte. Da gibt es nämlich eine Filmszene, in der eine Wüste überflogen wird und plötzlich sich die Hand mit der Fackel der Freiheitsstatue erhebt. So spielte ich also diese Bilddaten auf Ernestos Monitor ein, fragen Sie mich bitte nicht wie, aber es ging. Ernesto hatte jetzt die Bilder des Films auf dem Monitor seiner Fernbedienung.

Am 1. April stand er schweißgebadet vor mir und erzählte mir, die Welt würde untergehen, weil sich nämlich überall Wüsten ausbreiten würden. Sehr interessiert hörte ich mir seine Geschichte an, musste über die ungeahnte Wirkung der Bilder auf ihn grinsen und beichtete ihm dann meinen Scherz. Zunächst wollte er mir partout nicht glauben, weil er sagte, ich hätte doch gar keine Ahnung von EDV und solchem Zeug. Als ich ihm dann aber erklärte, dass ich ihm mit Hilfe eines Nachbarn die Bilder auf den Monitor spielen konnte, verstand er und musste lachen.

Seine Drohne blieb dann häufiger mal im Schrank und er beschloss, dass die Erlebnisse bei Herrn Yilmaz oder am Kiosk sehr viel abenteuerlicher waren. Er sah ein, dass die Bilder in der Realität sehr viel spannender und glaubwürdiger waren als nur auf einen Monitor zu starren. Die Bemühung um authentische Erlebnisse sollte viel häufiger Teil unseres Handelns sein. Erst die Authentizität lässt uns doch glaubhaft handeln. Die Authentizität muss natürlich bezogen auf den Aprilscherz gegeben sein, er darf nicht unrealistisch sein. Auch wenn mein Aprilscherz zunächst unrealistisch klingt, so war es doch glaubhaft für Ernesto. Ein Aprilscherz wird also scheinbar um so glaubhafter, je mehr er in die Wirklichkeit der Person passt.

Der von mir beabsichtigte Zweck – nämlich wieder weniger auf den Monitor zu starren, um im Hier und Jetzt zu leben – wurde durch meinen Aprilscherz erreicht, was wollte ich mehr.

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Alltag auf dem Amt

Wider Erwarten ist der Alltag auf dem Amt von Monotonie geprägt. Die Beschwerden einzelner Bürger bilden eher die Ausnahme in unserem Alltag. Nun darf man auch nicht denken, dass wir eine Karnevalshochburg wären, aber ein guter Witz oder eine nett erzählte Zote finden doch dankbare Abnehmer. Man merkt immer dann, ob ein Witz gut angekommen ist, wenn er Tage später in unserer Teeküche noch in Fragmenten oder Rudimenten erzählt wird.

Gelegentlich brachte ich Ernesto wieder mit auf`s Amt. Weiterhin war es mir untersagt, Ernesto regelmäßig mit auf`s Amt mitzubringen, aber gelegentlich war es geduldet. Dies führte dann zu gewohnten Reaktionen. Die Kolleginnen reagierten mit pubertärem Gekreische („Och ist der süüüüüß!“), die Männer reagierten mit dem Aufräumen ihres Schreibtisches. Das Aufräumen der Dreifaltigkeit des Amtes, also Locher, Tacker und Schere war zumeist eine Verlegenheitsgeste, wenn sie nicht wussten, was sie sonst noch tun sollten. Alternative Beschäftigungsmöglichkeiten bestanden ja auf dem Amt zu Hauf, wenn diese auch häufig wegignoriert wurden.

Aber kaum ein Kollege ging noch mit Maßband vor die Tür, besonders in den kalten Wintermonaten nicht. Die Sommermonate schieden dank des Klimawandels jetzt auch zunehmend aus, weil es in ihnen zu heiß war. Herbst und Frühling boten die ideale Temperatur für unsere Arbeit. Und da noch keine Gefahrenzulage in Aussicht stand, mussten wir unsere Arbeit im Außendienst auf diese Monate beschränken.

Der Alltag auf dem Amt war ansonsten bestimmt von Kaffeetrinken und Papierkram. Die Qualität des Kaffees ließ in letzter Zeit zu wünschen übrig. Erst durch die Übernahme des Kaffeekochens durch Frau Müller hatte sie sich spürbar verbessert. Auch der Geruch des verwendeten Reinigungsmittels hatte deutlich zur Auffrischung des Arbeitsklimas beigetragen. Das jetzt verwendete Mittel sorgte durch die Verwendung von einem Hauch von Patchouli für die nötige Frische in den Amtsstuben. Viele Kolleginnen gingen jetzt dazu über, sich die Haare wieder schwarz zu färben, weite wallende Kleidung zu tragen und Gothic-Musik zu hören, so zog doch eine merklich jugendliche Frische in unser Amt ein. Ich fand`s gut, die Kunden leider nur bedingt. Ihre Anträge waren von Konservativismus geprägt, sie konnten mit der neuen jugendlichen Art der Amtsführung nichts anfangen. Schade eigentlich.

Für mich bedeutete die neuerliche Art der Amtsführung einen zweiten Frühling und plötzlich sah ich auch Frau Müller mit ganz anderen Augen.

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Überraschungseier

Ernesto kannte ja die Geburt nur als Eibewohner. Lebend auf die Welt kommen war nicht seins. Das war ja eher bei uns Säugetieren der Fall. Deswegen fühlte sich Ernesto beim Essen jedes Überraschungseis stets an seine Kindheit erinnert. Das geht wohl auch jedem Menschen so, aber im Falle von Ernesto war das noch tiefschürfender. Ernestos Kindheit war von langen Reisen und großer Einsamkeit geprägt, bevor wir uns trafen. Der lange Weg von Südamerika nach Europa schien manchmal noch in seiner geistigen Verwirrtheit durchzubrechen. Seine Ankunft in Europa war eher unfreiwillig, weil das Schiff, auf das er von einer Brücke gefallen war im Hafen von Puerto Rico, nunmal bis Kiel fuhr. Da irrte er dann noch einige Tage durch die Straßen Kiels, bevor ich ihn fand. Meine Befürchtung, dass Ü-Eier ihn aufgrund von Heimweh in schlechte Stimmung versetzten, war allerdings unbegründet. Ernesto fühlte sich in meiner Gegenwart sehr wohl und war schon sehr zu Hause in unserer Wohnung, wie er mir mehrfach versicherte.

Der Inhalt der Ü-Eier musste für Ernesto passend sein. Dinge zum Zusammenbauen waren nicht so seins, fertige Figuren waren dagegen gern genommen. Von den Happy Hippos bis zu den Schlümpfen fand sich schon alles in Ernestos Setzkasten. Die Anschaffung des Setzkastens war wohl die beste Idee von mir seit Jahren, weil alle Kleinigkeiten dort von Ernesto deponiert werden konnten. Mehrfach musste der erste Setzkasten von mir erweitert werden, sodass inzwischen eine ganze Wand voll war mit Setzkästen.

Auch unser letzter Ausflug ans Meer sorgte wieder für reichlich Setzkastenfüllung: Von kleinen Muscheln über unbewohnte Schneckenhäuser bis zu hübschen Steinchen wurde alles in seinem Setzkasten untergebracht. Als er dann anfing, in seinen Setzkasten verschiedene Formen von Sand zu stellen, hatte ich für ihn die Idee, diesen in kleinen Fläschchen zu sammeln. Insbesondere mit anderen Fundstücken vom Strand machten sich diese kleinen Fläschchen sehr gut zur Deko des Zimmers. Auch Treibholz und Reste von Fischernetzen waren als Deko für Ernestos Zimmer ideal. Beinahe hatte man das Gefühl, man befände sich an Bord eines Schiffes auf großer Fahrt oder an einem Strand. Die von Ernesto aufgestellten Liegestühle und der Strandkorb unterstrichen das von Ernesto angestrebte Flair.

Zurück zu den Ü-Eiern: Schildkröten-Eier unterschieden sich vor allem dadurch von Ü-Eiern, dass der Inhalt von der Temperatur des umgebenden Sandes abhängt. Im warmen Sand würden Ü-Eier ja immer schmelzen unabhängig vom Inhalt. Ernesto war mir Inhalt genug.

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Die Waschstraße

Zur Verdeutlichung meiner Stellung im Amt hatte ich mir vor Jahren einen goldfarbenen VW Jetta zugelegt. Alle 3-4 Wochen fuhr ich mit diesem durch die Waschanlage. Aber eigentlich fuhr ich nur in die Waschanlage, weil Ernesto so gerne durch die Waschanlage fuhr. Er liebte es, den Bürsten bei der Arbeit zuzuschauen und er war jedes Mal begeistert, wie toll das Auto hinterher blitzte und blinkte.

Außerdem dachte er dann immer an seine Kumpels: die Wasserschildkröten. Genau wie sie frei und unbeschwert glitten die Bürsten über das Blech, verteilten ihre nasse Pracht. Er fühlte sich den Wasserschildkröten halt einfach sehr nahe, auch wenn die Waschstraße und der Ozean auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben.

Die Nähe von Waschstraßen und dem Leben im Ozean wurde mir aber auf dramatische Art und Weise klar. Und zwar in dem Moment, als ich mitbekam, dass das Wasser aus der Waschanlage wieder gereinigt und aufbereitet wurde. Da wurde mir bewusst, dass die Verantwortung für sauberes Wasser bei uns allen liegt. Wer also Wert auf ein sauberes Auto legt, dem muss auch klar sein, dass sauberes Wasser nicht vom Himmel fällt, sondern man sich nach der Nutzung um die Aufbereitung des Schmutzwassers kümmern muss.

So, moralischer Zeigefinger wieder eingeklappt. Das Leben in der Waschstraße und auf`m Amt hatte durchaus Parallelen. Nur in Waschstraßen wurde man permanent mit Wasser gebürstet, in Ämtern nicht immer. Gebürstet meint in letzterem Fall „einen Anschiss kriegen“. Wie ein trockener Anschiss aussah, merkte ich, als ich einmal zum Amtsleiter zitiert wurde. Ich hatte mich bei der Vermessung eines Grundstücks um mehrere Quadratmeter vertan. Aber die ganze Sache war dann relativ schnell geklärt. Wir konnten wieder jeder seiner Wege ziehen.

Mir wurde durch die Waschstraße wenigstens klar, wie die Bewohner des Festlandes mit den Ressourcen von Wasser umgehen und dass der Umgang mit Wasser Auswirkungen auf das Leben im Meer hat. Die Abhängigkeit braucht kein Mensch und die Bewohner der Meere schon gar nicht. Leider muss man einsehen, dass die Abhängigkeit im Kreislauf der Natur begründet ist, ein Zahnrad greift in das andere

Wer hätte gedacht, dass einen Waschstraßen zu solch tiefgründigen Gedanken hinreißen.

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Tütensuppen

Entgegen aller Empfehlungen ging Ernesto dazu über, Tütensuppen mit Zutaten aufzupimpen. Eine schnöde Buchstabensuppe wurde so um die fehlenden Buchstaben ergänzt. Er benutzte die aufgepimpten Tütensuppen dazu, sein Vokabular zu vergrößern, die einfache Tütensuppe wurde so zum Lexikon der Eloquenz. Also wurde jetzt jede Buchstaben-Tütensuppe eingehend untersucht und auf fehlende Buchstaben hin ergänzt. Das setzte natürlich voraus, dass wir über ein reichhaltiges Angebot von Buchstabennudeln verfügten. Also mussten wir erstmal Buchstabennudeln kaufen, um ein Grundstock an Buchstaben zu haben. Genauso mussten wir uns einen Fundus an Suppengrün und sonstigen Zutaten zulegen, um die Tütensuppe aufpimpen zu können. Die Folge davon war, dass kein Kreuzworträtsel mehr vor ihm sicher war.

Ein Mittagessen mit Ernesto und Tütensuppe war für mich eher unspannend, weil Ernesto jetzt dabei Kreuzworträtsel lösen musste. Von mir darauf hingewiesen war dem ganzen spätestens dann ein Ende gesetzt, als sich Ernesto bei mir über die zu kalte Suppe beschweren wollte. Ich konnte aber nichts dafür, dass Ernesto über die Lösung der Kreuzworträtsel das Essen der warmen Suppe vergaß. Andererseits freute es mich, dass Ernesto sich seiner Aufgabe so gewissenhaft zuwandte.

Nur als er Ravioli aus der Dose aufpimpen wollte, intervenierte ich dann doch. Ich fragte ihn nach dem Sinn und Zweck von Ravioli und überhaupt Tütensuppen. Sinn und Zweck von ihnen war doch, eine kleine, schnelle Mahlzeit anzubieten. Durch das Verlängern der Dosen- und Tüten-Mahlzeiten von Ernesto wurden diese jedoch zu Abend füllenden Veranstaltungen. Der eigentliche Sinn und Zweck dieser Dosen und Tüten war jedoch damit nicht mehr gegeben. Diese Zeitersparnis beim Essen ist wohl eher ungesund. Wenn man also schon selber kocht, kann man auch gleich alles richtig kochen. Fastfood machte für uns eigentlich nur noch unterwegs Sinn. Gleiches gilt für Tütensuppen und Dosen.

Ernesto war ja von seinem Naturell der Vertreter von SLOW, von daher machte Fastfood für ihn wenig Sinn. Slowfood als Ausdruck von bewusstem Essen war genau Ernestos Überzeugung, es konnte ihm gar nicht SLOW genug sein. SLOW als Geisteshaltung sollten wir gerade in hektischen Zeiten wie diesen vielleicht wieder mehr beachten.

Als Konsequenz verzichteten wir fortan auf Tütensuppen, die Kreuzworträtsel aber blieben uns.

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Fußball

Es war einer der belanglosen Montagnachmittage. Ernesto galoppierte unvermittelt los, kam vor unserer weißen Raufasertapete im Flur zum Stehen. Schlagartig drehte er sich zu mir um und sagte, er wolle jetzt Fußballfan werden, um wieder Farbe in sein Leben zu bringen. Die Farbe des Clubs sei ihm relativ egal, nur wie eine Biene Maja oder grün wie ein Frosch wollte er nicht aussehen und auch der Club eines großen Würstchenproduzenten aus dem Süden Deutschlands sollte es nicht sein. Da es sonst im Norden nicht viel Erstklassiges gab, blieb für ihn nur ein Verein: der FC St. Pauli.

Ernesto machte sich zunächst im Internet über den Verein und seine Fans schlau. Meine Meinung: Die Zeiten, in denen der Torwart aus der damals besetzten Hafenstraße mit dem Fahrrad zum Training und zu Spielen angeradelt kam, sind wohl endgültig vorbei. Wenn man sich den Fanshop des FC St. Pauli auf der Reeperbahn anguckt, muss man wohl sagen, die Revolution hat ihre Kinder gefressen. Vom einstigen Revoluzzer-Image des Vereins ist nicht mehr so viel geblieben, aber immer noch besser als der HSV. Trotzdem wollen die Fans des FC St. Pauli mit ihrer Unterstützung eine gewisse Geisteshaltung zeigen. Zu Zeiten eines Kevin Keegan war der HSV mal cool, aber inzwischen ist er in der Zweitklassigkeit angekommen und macht keinerlei Anstalten, den Arsch hoch zu kriegen. Das angepasste Image des HSV geht vielen über. Mal gucken, wie es in ein paar Jahren aussieht.

Dass Kiel erstklassig wurde, war zu diesem Zeitpunkt noch nicht absehbar, außerdem war Ernesto St. Pauli sowieso eher zugeneigt. Ernesto war überzeugt von der Piratenflagge des FC St. Pauli und alsbald lief er mit dieser und einem Kopftuch durch die Straßen von Kiel, wenn St. Pauli spielte. Ernestos Leidenschaft für den Fußball war sicher auch in der Wahl des Vereins begründet. Fan sein und Geradlinigkeit sind nicht immer ein Paar Schuhe. Auch hier gilt: Der Spaß steht im Vordergrund. Das Braun von St. Pauli war sicherlich kein Farbtupfer, aber ein Statement (jetzt bitte nicht falsch verstehen!). Aber es zeigt sich, dass die Liebe zu einem Verein über die Farbe des Vereins hinausgeht. Manchmal bedarf es eben eines spielerischen Umgangs mit der Materie.

Fußball ist und sollte immer nur zum Spaß betrieben werden. Genau so sollten es auch Fans und Management sehen und nicht die Verbissenheit und das Geldverdienen vor den Spaß stellen.

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Vogelfutter 

Das Vogelhäuschen auf unserem Balkon wurde von mir in den Wintermonaten regelmäßig mit Vogelfutter versorgt. Ernesto fungierte hier als Vorkoster für die Vögel, sprich er probierte das Vogelfutter bevor es von mir in das Vogelhäuschen gefüllt wurde. Relativ schnell fand Ernesto allerdings Gefallen am Vogelfutter, sodass ich dafür sorgen musste, dass auch noch was für die Vögel übrig blieb. Er sagte, dass ihm das Vogelfutter ungeahnte Kräfte verleihe. 

Sein großes Vorbild war Superman, weil der immer ein schickes Leibchen trug. Außerdem war Ernesto extrem neidisch auf den tollen Umhang, der nach Ernestos Meinung Schildkröten sowieso viel besser stand als Menschen. Befeuert von den Abenteuern des Superman unternahm Ernesto so manchen Rundflug durch das nächtliche Kiel. Wann immer er eine Ungerechtigkeit sah oder meinte zu erahnen, senkte er seinen Flug und wurde aktiver Teil der Situation. So klärte er beispielsweise einen Streit am Kiosk, wobei ihm zu Hilfe kam, dass das sowieso seine Kumpel vom Kiez waren. Da er die Streithähne kannte und um ihr Anliegen wusste, war die Situation schnell und friedlich geklärt. 

Ein anderes Mal wurde ein vermeintlich harmloser Streit um einen Parkplatz zu einer handfesten Auseinandersetzung. Die beiden beteiligten Frauen reagierten jedoch sehr überrascht auf Ernestos Erscheinen. Völlig verdattert und erstaunt ergriffen die beiden die Flucht. Warum war Ernesto nicht ganz klar, aber so war wieder Ruhe im Kiez dank Ernestos Anwesenheit. 

Weil Ernestos Flug vom Umhang behindert wurde, suchte er händeringend nach Alternativen. Er überlegte, ob er sich wie die Guardian Angels in New York City für die Umstehenden erkennbar zeigen sollte. Seine Überlegung wurde dann aber dahingehend über den Haufen geworfen, dass er von einer Person um Hilfe gebeten wurde, die mit dem Kraftfahrzeug liegen geblieben war. Um das Fahrzeug wieder flott zu machen, rief Ernesto die gelben Engel. Die Ähnlichkeit von den Guardian Angels mit dem ADAC ist in ihrer Zielsetzung zwar vergleichbar, aber dennoch grundverschieden. Das martialische Äußere der Guardian Angels ist mit dem ADAC mit nichts zu vergleichen. Die Warnwesten des ADACs passten Ernesto aber besser als die Baseball-Jacken der Guardian Angels. Eine Mitgliedschaft im ADAC missfiel ihm jedoch völlig. Da war ihm der freiheitliche Gedanke der Guardian Angels schon näher. 

Man darf also die Wirkung von Vogelfutter nie unterschätzen und gelbe Westen muss man mögen. 

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Sandkasten 

An sonnigen Tagen war es Ernestos größtes Vergnügen, sich im Sandkasten zu verlustieren. Der Sandkasten befand sich auf dem nächstgelegenen Spielplatz am Ende unserer Straße. 

Ich saß unter einem Sonnenschirm am Sandkasten auf einem Stuhl und beobachtete das Treiben Ernestos. Relativ schnell war ihm die Benutzung des Sandkastens alleine langweilig. Um selber mitzuspielen, fehlte mir die Fantasie. Andere Mitspieler mussten gefunden werden. Bald waren kleinere Kinder aus der Nachbarschaft vom Spielen mit Ernesto überzeugt und nach einigen wenigen Problemen der Kontaktaufnahme war das Eis gebrochen. Ernestos Kommentare über die geistige Entwicklung der Kinder verstand ja Gott sei Dank außer mir niemand. Die Rückschlüsse, die Ernesto aufgrund des Verhaltens im Sandkasten auf die Kinder zog, waren von mir nicht immer geteilt und waren teilweise ungerecht. Ich ließ mich von Ernestos Frotzeleien nicht beeindrucken und so war sein Spiel mit den Kindern auch für ihn sehr ergiebig. 

Sie bauten eine große Sandburg, die sogar mehrere Tage stehen blieb. Irgendwann reichte das bloße Sandtürmen nicht mehr aus, sondern extravagante Gadgets mussten her. Zum Beispiel wurde auch eine Zugbrücke installiert. Mit dem Einzug der Gadgets waren aber auch immer häufiger Beschädigungen an der Sandburg festzustellen. Die Idee Ernestos, den ganzen Sandkasten kameraüberwachen zu lassen, schien mir dann aber doch zu weitgehend. Also wurde kurzerhand die Wach- und Schließgesellschaft beauftragt, einmal pro Stunde nach dem Sandkasten bzw. nach den darin befindlichen Objekten zu schauen. Kritische Uhrzeiten waren erwartungsgemäß die Nachtstunden am Wochenende. Als sich dann wider Erwarten zwei Betrunkene dazu entschieden, die Sandburg mit Bierdosen zu verzieren, sagte Ernesto zu meiner Überraschung, dass die beiden Jungs ungefährlich für die Sandburg seien, da er sie vom Kiosk kenne. Die Bierdosen konnten als Zinnen in der Sandburg gute Dienste tun. 

Ernestos Abenteuer auf dem Spielplatz gingen auch noch über den Sandkasten hinaus. Die Kinder nahmen ihn mit zu einer Rutschpartie und schaukelten mit ihm bis er um Gnade flehte. Da war ihm das Rutschen dann doch lieber. So eine Rutschpartie war zwar von manchen Omas gern vermieden, aber Ernesto liebte die unkoordinierten Beinahe-Stürze in den Sandkasten. 

So ein Sandkasten bietet nicht nur den Ernestos unserer Welt viel Platz zum Spielen und Erleben.