Herr Müller sieht die Welt

Fußball

Es war einer der belanglosen Montagnachmittage. Ernesto galoppierte unvermittelt los, kam vor unserer weißen Raufasertapete im Flur zum Stehen. Schlagartig drehte er sich zu mir um und sagte, er wolle jetzt Fußballfan werden, um wieder Farbe in sein Leben zu bringen. Die Farbe des Clubs sei ihm relativ egal, nur wie eine Biene Maja oder grün wie ein Frosch wollte er nicht aussehen und auch der Club eines großen Würstchenproduzenten aus dem Süden Deutschlands sollte es nicht sein. Da es sonst im Norden nicht viel Erstklassiges gab, blieb für ihn nur ein Verein: der FC St. Pauli.

Ernesto machte sich zunächst im Internet über den Verein und seine Fans schlau. Meine Meinung: Die Zeiten, in denen der Torwart aus der damals besetzten Hafenstraße mit dem Fahrrad zum Training und zu Spielen angeradelt kam, sind wohl endgültig vorbei. Wenn man sich den Fanshop des FC St. Pauli auf der Reeperbahn anguckt, muss man wohl sagen, die Revolution hat ihre Kinder gefressen. Vom einstigen Revoluzzer-Image des Vereins ist nicht mehr so viel geblieben, aber immer noch besser als der HSV. Trotzdem wollen die Fans des FC St. Pauli mit ihrer Unterstützung eine gewisse Geisteshaltung zeigen. Zu Zeiten eines Kevin Keegan war der HSV mal cool, aber inzwischen ist er in der Zweitklassigkeit angekommen und macht keinerlei Anstalten, den Arsch hoch zu kriegen. Das angepasste Image des HSV geht vielen über. Mal gucken, wie es in ein paar Jahren aussieht.

Dass Kiel erstklassig wurde, war zu diesem Zeitpunkt noch nicht absehbar, außerdem war Ernesto St. Pauli sowieso eher zugeneigt. Ernesto war überzeugt von der Piratenflagge des FC St. Pauli und alsbald lief er mit dieser und einem Kopftuch durch die Straßen von Kiel, wenn St. Pauli spielte. Ernestos Leidenschaft für den Fußball war sicher auch in der Wahl des Vereins begründet. Fan sein und Geradlinigkeit sind nicht immer ein Paar Schuhe. Auch hier gilt: Der Spaß steht im Vordergrund. Das Braun von St. Pauli war sicherlich kein Farbtupfer, aber ein Statement (jetzt bitte nicht falsch verstehen!). Aber es zeigt sich, dass die Liebe zu einem Verein über die Farbe des Vereins hinausgeht. Manchmal bedarf es eben eines spielerischen Umgangs mit der Materie.

Fußball ist und sollte immer nur zum Spaß betrieben werden. Genau so sollten es auch Fans und Management sehen und nicht die Verbissenheit und das Geldverdienen vor den Spaß stellen.

Herr Müller sieht die Welt

Vogelfutter 

Das Vogelhäuschen auf unserem Balkon wurde von mir in den Wintermonaten regelmäßig mit Vogelfutter versorgt. Ernesto fungierte hier als Vorkoster für die Vögel, sprich er probierte das Vogelfutter bevor es von mir in das Vogelhäuschen gefüllt wurde. Relativ schnell fand Ernesto allerdings Gefallen am Vogelfutter, sodass ich dafür sorgen musste, dass auch noch was für die Vögel übrig blieb. Er sagte, dass ihm das Vogelfutter ungeahnte Kräfte verleihe. 

Sein großes Vorbild war Superman, weil der immer ein schickes Leibchen trug. Außerdem war Ernesto extrem neidisch auf den tollen Umhang, der nach Ernestos Meinung Schildkröten sowieso viel besser stand als Menschen. Befeuert von den Abenteuern des Superman unternahm Ernesto so manchen Rundflug durch das nächtliche Kiel. Wann immer er eine Ungerechtigkeit sah oder meinte zu erahnen, senkte er seinen Flug und wurde aktiver Teil der Situation. So klärte er beispielsweise einen Streit am Kiosk, wobei ihm zu Hilfe kam, dass das sowieso seine Kumpel vom Kiez waren. Da er die Streithähne kannte und um ihr Anliegen wusste, war die Situation schnell und friedlich geklärt. 

Ein anderes Mal wurde ein vermeintlich harmloser Streit um einen Parkplatz zu einer handfesten Auseinandersetzung. Die beiden beteiligten Frauen reagierten jedoch sehr überrascht auf Ernestos Erscheinen. Völlig verdattert und erstaunt ergriffen die beiden die Flucht. Warum war Ernesto nicht ganz klar, aber so war wieder Ruhe im Kiez dank Ernestos Anwesenheit. 

Weil Ernestos Flug vom Umhang behindert wurde, suchte er händeringend nach Alternativen. Er überlegte, ob er sich wie die Guardian Angels in New York City für die Umstehenden erkennbar zeigen sollte. Seine Überlegung wurde dann aber dahingehend über den Haufen geworfen, dass er von einer Person um Hilfe gebeten wurde, die mit dem Kraftfahrzeug liegen geblieben war. Um das Fahrzeug wieder flott zu machen, rief Ernesto die gelben Engel. Die Ähnlichkeit von den Guardian Angels mit dem ADAC ist in ihrer Zielsetzung zwar vergleichbar, aber dennoch grundverschieden. Das martialische Äußere der Guardian Angels ist mit dem ADAC mit nichts zu vergleichen. Die Warnwesten des ADACs passten Ernesto aber besser als die Baseball-Jacken der Guardian Angels. Eine Mitgliedschaft im ADAC missfiel ihm jedoch völlig. Da war ihm der freiheitliche Gedanke der Guardian Angels schon näher. 

Man darf also die Wirkung von Vogelfutter nie unterschätzen und gelbe Westen muss man mögen. 

Herr Müller sieht die Welt

Sandkasten 

An sonnigen Tagen war es Ernestos größtes Vergnügen, sich im Sandkasten zu verlustieren. Der Sandkasten befand sich auf dem nächstgelegenen Spielplatz am Ende unserer Straße. 

Ich saß unter einem Sonnenschirm am Sandkasten auf einem Stuhl und beobachtete das Treiben Ernestos. Relativ schnell war ihm die Benutzung des Sandkastens alleine langweilig. Um selber mitzuspielen, fehlte mir die Fantasie. Andere Mitspieler mussten gefunden werden. Bald waren kleinere Kinder aus der Nachbarschaft vom Spielen mit Ernesto überzeugt und nach einigen wenigen Problemen der Kontaktaufnahme war das Eis gebrochen. Ernestos Kommentare über die geistige Entwicklung der Kinder verstand ja Gott sei Dank außer mir niemand. Die Rückschlüsse, die Ernesto aufgrund des Verhaltens im Sandkasten auf die Kinder zog, waren von mir nicht immer geteilt und waren teilweise ungerecht. Ich ließ mich von Ernestos Frotzeleien nicht beeindrucken und so war sein Spiel mit den Kindern auch für ihn sehr ergiebig. 

Sie bauten eine große Sandburg, die sogar mehrere Tage stehen blieb. Irgendwann reichte das bloße Sandtürmen nicht mehr aus, sondern extravagante Gadgets mussten her. Zum Beispiel wurde auch eine Zugbrücke installiert. Mit dem Einzug der Gadgets waren aber auch immer häufiger Beschädigungen an der Sandburg festzustellen. Die Idee Ernestos, den ganzen Sandkasten kameraüberwachen zu lassen, schien mir dann aber doch zu weitgehend. Also wurde kurzerhand die Wach- und Schließgesellschaft beauftragt, einmal pro Stunde nach dem Sandkasten bzw. nach den darin befindlichen Objekten zu schauen. Kritische Uhrzeiten waren erwartungsgemäß die Nachtstunden am Wochenende. Als sich dann wider Erwarten zwei Betrunkene dazu entschieden, die Sandburg mit Bierdosen zu verzieren, sagte Ernesto zu meiner Überraschung, dass die beiden Jungs ungefährlich für die Sandburg seien, da er sie vom Kiosk kenne. Die Bierdosen konnten als Zinnen in der Sandburg gute Dienste tun. 

Ernestos Abenteuer auf dem Spielplatz gingen auch noch über den Sandkasten hinaus. Die Kinder nahmen ihn mit zu einer Rutschpartie und schaukelten mit ihm bis er um Gnade flehte. Da war ihm das Rutschen dann doch lieber. So eine Rutschpartie war zwar von manchen Omas gern vermieden, aber Ernesto liebte die unkoordinierten Beinahe-Stürze in den Sandkasten. 

So ein Sandkasten bietet nicht nur den Ernestos unserer Welt viel Platz zum Spielen und Erleben. 

Herr Müller sieht die Welt

Gelbe Seiten 

Vor einigen Jahren erfolgte eine Umstellung, die fast keiner bemerkte: Die Gelben Seiten gab es jetzt nicht mehr analog, sondern nur noch digital. Als Zeichen des Neubeginns kam damals zu Beginn jeden Jahres ein aktuelles Exemplar in alle Haushalte dieser Republik. 

Ernesto nutzte dieses, um mit Fachleuten Fachgespräche zu führen. So rief er zum Beispiel Sanitärbetriebe an, als er ein Problem mit dem Abfluss hatte. Der Abfluss in unserer Küche war verstopft und er fragte die Sanitärbetriebe, wie man den Knick unterhalb der Spüle wieder frei bekommen könnte. Vielfach war dazu aber Spezialwerkzeug erforderlich, was Ernesto nicht hatte. Die Sanitätsbetriebe reagierten zwar freundlich, aber drängten dann auf einen Besichtigungstermin. Das wollte Ernesto natürlich partout vermeiden. 

Als nächstes rief er bei einem bunten Potpourri von Bestattungsunternehmen an und wollte sich beraten lassen, ob eine Einäscherung oder eine Bestattung im Sarg vorgenommen werden solle und welche die günstigere für ihn sei. Über die Frage nach der günstigeren Bestattungsform rümpften die angerufenen Unternehmen die Nase und als sie dann noch mitbekamen, dass es sich bei dem Anrufer um eine Schildkröte handelte, brachen sie das Gespräch sofort ab. 

Anschließend rief er das ortsansässige Entsorgungsunternehmen an und befragte diese zur Müllentsorgung. Seine Beschwerde über die unregelmäßige Leerung des Altpapiers konnte er auf diese Weise mit anbringen. Seinen Vortrag zum Thema fachgerechte Mülltrennung wollte komischerweise dort keiner hören. 

Sein Gespräch mit Autohändlern über die Vorteile von E-Mobilität entwickelte sich beinahe zum handfesten Streit. Nur ein von mir angebotener Kaffee verhinderte schlimmeres. Die Mobilitätsfrage konnte mit einem Kaffee in der Hand zwar nicht geklärt werden, aber zumindest beruhigten sich die Gemüter, auch wenn abschließend kein Ergebnis vorlag. 

Die Befragung des Blumenhändlers stellte Ernesto vor die Aufgabe, dass er sich wohl eigene Gedanken machen müsste, welche Art von Blumen er schöner fand: echte Blumen oder Kunstblumen. Es lag also an ihm, dessen musste er sich gewahr werden. 

Es bleibt als Fazit, dass die Gelben Seiten in analoger Form für Ernesto lustiger waren als digital und er überlegte, einen aktuellen Potpourri der Warteschleifen-Musiken zu machen. Was man daraus für eigene Schlüsse ableitet, sei jedem selbst überlassen. 

Herr Müller sieht die Welt

Hustensaft 

Halsweh ist ja immer doof. Manchmal ließ ich mir dann einen Hustensaft schmecken in der Hoffnung, dass es davon besser wurde. Aber das ging nur bedingt. Meistens half am besten ein dicker Schal und warmer Tee. Den warmen Tee machte ich mir und Ernesto nur dann, wenn die Erkältung wirklich ätzend wurde, weil ich mich immer an den heißen Teetassen verbrühte. Und es sieht ja schon ein bisschen doof aus, mit Handschuhen in der Küche zu stehen. 

Mit Handschuhen und Schal fühlte ich mich wie ein Alpinist, es fehlte nur noch die Lawinenwarnung, aber diese war ja in meiner Küche nicht zu erwarten. Auch andere Skifahrer waren eher selten gesichtet. Häufiger traf man dagegen Silberfische. Diese fanden das Klima in der Küche sehr angenehm. So kamen also zu Ernesto ab und zu Silberfische als Mitbewohner dazu. Diese waren relativ genügsam, hingestelltes Futter verschmähten sie oft. Hustensaft war ihre Sache auch nicht, ich hab`s probiert. Also richtete sich mein Augenmerk jetzt eher auf die Vertreibung aus der Küche. Diese Gäste wollte ja keiner so gerne haben. 

Bei unserer letzten Erkältung probierten wir zum ersten Mal Wick MediNait als allgemeine Waffe gegen grippale Infekte. Das sorgte aber dafür, dass wir glaubten, wir hätten nächtlichen Besuch in unserer Wohnung. Erst als wir diesem ein Getränk anboten und keinerlei Reaktion kam, merkten wir, dass wir einer Halluzination aufgesessen waren. Ein Blick in die Nebenwirkungen des Medikaments ließ uns schnell zu alten Hausmittelchen zurückkehren, diese standen zumindest nicht unter dem Verdacht, halluzinierend zu wirken. Der Ingwertee mit Honig für Ernesto und mich tat dann Wirkung und bald waren Ernesto und ich von Husten befreit. 

Generell ist ja die Stärkung der Immunabwehr bei Menschen und Schildkröten ein wichtiger Faktor. Man sollte denken, Schildkröten hätten eine gute Abwehr aufgrund ihres Panzers, aber da darf man sich nicht täuschen lassen. Gegen Viren und Bakterien sind sie relativ schutzlos. Da hilft nur das Hochheizen der Wohnung und ein warmes Fußbad. Nun gestaltete es sich relativ schwer, die ganze Wohnung mit einem warmen Fußbad zu versehen. Deswegen beschränkten wir uns darauf, gelegentliche heiße Wannenbäder zu veranstalten. Hinterher konnten wir uns dann in ein dickes Frotteetuch einwickeln und uns in eine Decke gehüllt auf`s Sofa legen. Unser Ingwertee mit Honig war ein idealer Schlafbeschleuniger und so schliefen wir uns gesund. 

Wir haben gelernt: Moderne Erkältungsmittel sind mit Vorsicht zu genießen. 

Herr Müller sieht die Welt

Heftpflaster 

Es war Nachmittag. Ernesto sah mich durchdringend an und sagte zu mir, dass er sein Glück als Performance-Künstler versuchen wolle. Dazu müsse er natürlich nach Düsseldorf. Sein großes Vorbild Joseph Beuys lebte schließlich da. Das mit den Hüten habe er auch schon probiert, aber diese rutschten ihm immer in den Nacken. Er wolle als lebendes Mahnmal gegen die Zerstörung der Flora und Fauna auf unserem Planeten künstlerisch aktiv werden. Ähnlich den Klimaklebern nur umgekehrt wolle er sich nicht auf den Asphalt festkleben, sondern stattdessen Heftpflaster auf seinen Panzer kleben. Es sei ihm ohnehin rätselhaft, wie die Klimakleber dies mit ihrer Blase hinkriegten, so lange nicht auf`s Klo gehen zu können. Sein oberstes Ziel sei es, mit dem bepflasterten Panzer nach Düsseldorf zu wandern, um Aufmerksamkeit für sein Anliegen zu gewinnen. 

Obwohl von mir darauf aufmerksam gemacht, dass es von Kiel relativ weit nach Düsseldorf sei, ließ er sich von mir von seinem Vorhaben nicht abbringen und marschierte los. Sein Weg von Kiel nach Düsseldorf führte ihn durch Hamburg. Dort traf er auf einen Künstler mit Hut und einer markanten, nuscheligen Stimme, dessen Namen er vergessen hatte. Ihm rutschte der Hut ständig vor die Augen. Dieser bestärkte ihn und sagte zu ihm: „Mach dein Ding!“ Nachdem er sich in diesem Sündenpfuhl fast verloren hätte, beschloss er nach 2 Tagen doch wieder den Heimweg anzutreten. Für das Leben in dem urbanen Dschungel war er nun doch nicht gemacht. 

Nach 4 Tagen kam er völlig erschöpft wieder nach Hause. Ernesto berichtete, er wolle jetzt doch kein Performance-Künstler mehr sein. Die Arbeit unter ständiger Beobachtung sei ihm zu anstrengend und für das Malen von Bildern fehle ihm das Talent. Die Heftpflaster verfehlten ihre Wirkung nicht, wurde er doch auf seiner Reise ständig auf sie angesprochen. Es gipfelte sogar darin, dass ihn ein Fernsehteam ansprach und ihn nach seinem Anliegen befragte. Die kurze Modewelle mit Heftpflastern verflüchtigte sich doch recht schnell, da sie sehr unangenehm in den Haaren ziepten. 

Also musste Ernesto doch wieder als Verkaufsberater für Herrn Yilmaz arbeiten. Seinen Ausflug in die weite Welt der bildenden Künste ließ ihn im Laden von Herrn Yilmaz fast als Promi wirken. Oftmals wurde er noch auf seine Performance angesprochen. Da war es für ihn fast erholsam, wieder zwischen Tomaten und Gurken beratend tätig zu sein. 

Manchmal ist einem das Bekannte doch näher als das Ferne, was auch immer das bedeutet. 

Herr Müller sieht die Welt

Zahncreme 

Natürlich weiß jeder Schlauberger, dass Schildkröten keine Zähne haben, trotzdem war Ernesto ein großer Fan von Zahncreme. Er benutzte sie zum Polieren seines Panzers. Dafür eignete sie sich dank der in ihr enthaltenen Schleifpartikel ganz hervorragend. So ein hochglanz-polierter Panzer barg für Fahrräder und andere beräderte Vehikel aber auch wieder Gefahren, derer man sich bewusst sein musste. Ein hochglanz-polierter Panzer konnte nämlich im Sonnenlicht extrem blenden. 

Mit dieser Gefahr im Bewusstsein trat Ernesto vor die Tür, setzte sich zwar eine Sonnenbrille auf, vergaß dann aber die Gefahr, die sein Panzer für alle anderen bedeutete. Und natürlich sorgte Ernesto für einen ordentlichen Verkehrsunfall. Ein Lieferfahrzeug fuhr in ein Schaufenster. Beinahe hätte dieser Fußgänger mitgerissen, konnte aber im letzten Moment ausweichen und kam im Schaufenster zum Stehen. Die Folgen waren für Ernesto eher angenehmer Natur, wurden doch jetzt die angebotenen Waren im Schaufenster im Preis reduziert. Staubsauger brauchte Ernesto nicht so, aber höchst spannend fand er Pelzmäntel. Auf mein Insistieren hin, dass diese das Fell toter Tiere seien, reagierte Ernesto wie man es von Reptilien gewohnt ist, nämlich gar nicht. Im Aushalten von Widersprüchen war Ernesto meisterhaft. Es machte in solchen Fällen keinen Sinn, ihn darauf hinzuweisen. Einfach das Thema wechseln. 

Neben der zweckentfremdeten Nutzung der Zahncreme gebrauchte Ernesto auch Deo. Er strich sich mit ihm die Unterseite seiner Füße ein, weil diese immer so unangenehm rochen, wie er fand. Die von ihm präferierte Art des Deos war natürlich ein Deo namens „Wilder Dschungel“. Mit diesem unter seinen Füßen konnte ihm nichts mehr passieren, zumindest geruchstechnisch. 

Die Gefahren des Alltags bestanden natürlich weiterhin und gerade Schildkröten waren in heutigen Zeiten besonders gefährdet. Taschendiebe waren auf verlorenem Posten, aber Online-Betrüger konnten dafür sorgen, dass Ernestos hart verdientes Geld sich binnen Sekunden verflüchtigte. Er hatte schon viel von Betrügereien zu Lasten der Kontoinhaber gehört, war jetzt fast ein bisschen gekränkt, dass er noch nicht von ihnen auserwählt wurde. Aber anscheinend war sein Kontostand stets so niedrig, dass er uninteressant für Betrüger war. 

Zurück zur Zahncreme: Diese ist zwar gut für die Zähne, aber zweckentfremdet doch eher gefährlich. Es macht schon Sinn, die Dinge für das zu benutzen, wofür sie gedacht sind. 

Herr Müller sieht die Welt

Girokonto

Ernesto wollte jetzt auch eine Giro-Karte besitzen, zumal er weniger über Hosentaschen verfügte, in denen Kleingeld aufzubewahren wäre. Die EC-Karte konnte er einfach auf der Unterseite seines Panzers in die dafür vorgesehene Hülle hineinschieben. Die Hülle war natürlich am Panzer festgeklebt. So konnte Ernesto relativ selbstständig in Geschäften einkaufen, wenn diese über die aktuellen Systeme des bargeldlosen Bezahlens verfügten. 

Die gymnastische Übung des Kartezückens musste natürlich durch entsprechend hohe Beträge gerechtfertigt werden. Produkte, die nur kleinere Beträge erforderten, wurden entweder von ihm gekonnt ignoriert oder mussten von mir beglichen werden, da ich ja über Hosentaschen verfügte. Umso größer war Ernestos Freude, wenn er die Karte mal wieder zücken konnte. Von der Carrera Bahn bis zur neuen Waschmaschine wollte er diese jetzt mit seiner Karte bezahlen. Auf meine Nachfrage, ob wir diese Dinge denn alle bräuchten, stutzte er kurz und sagte dann aber im Brustton der Überzeugung: „Ja!“. Den nächsten Schritt zum kritischen Konsumieren musste ich ihm wohl noch beibringen. Bis dahin wurde alles gekauft, was nicht bei 3 auf`m Baum war. Dabei ist der kritische Umgang in der Welt des Konsums so wichtig. Oft lässt man sich leicht verleiten, Dinge zu kaufen, die man gar nicht braucht. Andererseits ist es ja auch relativ unspannend, über jede Kaufentscheidung nachzudenken. Immer vorausgesetzt, dass man über genügend Geld verfügen kann. 

Relativ schnell lernte Ernesto, was es hieß im Dispo zu sein. Seine Einnahmen reichten irgendwann bei weitem nicht mehr aus, seine Ausgaben zu decken. Glücklich ist, wer über eine schützende Hand verfügt und so konnte Ernestos überzogenes Konto von mir ausgeglichen werden. Sein Konto verfügte seit diesem Zeitpunkt über keinerlei Dispo mehr, er konnte also nur noch das ausgeben, was vorhanden war. Das war zwar relativ schnell erschöpft, aber es bot ihm und mir mehr Sicherheit. Sicherheit war für Ernesto ein bisher unbekannter Begriff, verfügte er doch über einen schützenden Panzer und somit war die Sicherheit eine Selbstverständlichkeit. Die neu gewonnene Sicherheit im Zahlungsverkehr ließ ihn erleichtert aufatmen. 

Auch Schildkröten im Allgemeinen und Ernesto im Besonderen mussten erst langsam an den Umgang mit Geld gewöhnt werden. Die neue Selbstständigkeit sollte ja nicht gleich vor die Wand fahren. Geld ausgeben will gelernt sein! 

Herr Müller sieht die Welt

Bausparvertrag 

Ähnlich wie Schnecken so machte eigentlich auch für Schildkröten ein Bausparvertrag keinen richtigen Sinn, trugen sie doch ihre Behausung stets mit sich herum. Trotzdem wollte Ernesto unbedingt einen solchen haben, weil er auf dem Amt gehört hatte, welche Vorteile dieser brächte. Welche genau konnte er mir auf Nachfrage nicht beantworten, dennoch wollte er unbedingt einen Bausparvertrag haben – „Für schlechte Zeiten“, wie er sagte. Wann diese schlechten Zeiten seien, wusste er noch nicht genau, aber wie immer sei Vorsicht besser als Nachsicht. 

So sparte er Monat für Monat Geld an, von dem er relativ bald merkte, dass er es gar nicht hatte. Im Zuge unserer Einsparungen, was seine Ausgaben betraf, kam er schnell zu dem Schluss, was es hieß kein Geld mehr zu haben und was es heißt, einem nackten Mann in die Tasche zu fassen. Null mal nix ist nunmal null. Die große Frage war jetzt also: Wie konnte er seine Einnahmen steigern. Der Job bei Herrn Yilmaz war als Geldquelle schon erschlossen. Die Drohne als Auslieferungsobjekt von Paketen war doch zu neuartig für die Menschen. Blieb nur, den Job bei Herrn Yilmaz wieder zu erweitern. Zukünftig wollte er die ganzheitliche Einkaufsberatung anbieten. Was dies nun genau heißen sollte, konnte Ernesto auf meine Nachfrage hin zunächst nicht genau beantworten. Aber auf jeden Fall sollte es insgesamt ein Rund-um-Wohlfühlpaket für die Kunden werden. 

Schließlich entwickelte er folgendes Konzept: Von der einfachen Gemüsegurke bis zum frisch geernteten Blumenkohl sollten alle Produkte mit Zertifikat angeboten werden. Dazu gehörte ein Rezeptbuch mit Kochvorschlägen, wie das Produkt zu verarbeiten sein könnte. Zertifikat hieß in diesem Fall, dass die Herkunft genau nachvollzogen werden konnte und sämtliche Produkte aus der näheren Umgebung kamen. Ernestos Konzept kam bei den Kunden sehr gut an. Herr Yilmaz bot an, seine Stundenzahl zu erhöhen. So stiegen Ernestos Einnahmen. 

Der Bausparvertrag kam als übergeordnetes Ziel wieder in greifbare Nähe. Ernesto merkte jetzt aber, dass es mehr Sinn machte an seiner statt eine Lebensversicherung im Kombipaket einer BU und Rentenversicherung abzuschließen. Ansonsten beschränkte er sich darauf, unbeschwert zu leben und ließ sich keinerlei weitere Versicherungen aufquatschen, sondern gab das verdiente Geld in vollen Zügen aus. 

Ernesto kam zu der Erkenntnis, dass Versicherungen kein unbeschwertes Leben garantieren können. 

Herr Müller sieht die Welt

Krieg 

Ernesto und ich saßen mal wieder am Wochenende zum Frühstück zusammen. Unvermittelt blickte Ernesto mich an und fragte mich, ob denn die Menschen als vermeintliche Krone der Schöpfung gar nichts anderes zu tun hätten als die Technik der Keule immer weiter zu verfeinern. Ernesto meinte mit seiner Frage, warum die Menschen sich auf immer perfidere Art und Weise umbringen und technisch aufrüsten. 

Von dieser Frage Ernestos war ich zunächst einmal überrascht, aber nach längerem Überlegen konnte ich ihm nur antworten, dass ich auch keine für ihn zufriedenstellende Antwort geben könnte. Auch mir war es unklar, warum das Streben der Menschen stärker auf die Verfeinerung der Keulentechnik hinauslief, statt daran zu arbeiten, möglichst friedlich miteinander umzugehen. 

Vielleicht ist es ja einfacher – so meine Vermutung – die Waffentechnik immer mehr zu verfeinern, anstatt sich mit sich selber zu beschäftigen? Eine Beschäftigung mit sich selber erfordert immer auch ein hohes Maß an Reflexionsfähigkeit von den Menschen. Mal ganz abgesehen von der notwendigen Bereitschaft, sich mit sich selber unvoreingenommen auseinanderzusetzen, erfordert sie den Willen, Kompromisse einzugehen und entsprechend zu handeln. Da aber die Einsicht in Kompromisse immer mehr abnahm, stand zu befürchten, dass die Menschen auch die jetzigen Krisen und Konflikte nicht zu ihrem Vorteil nutzten. Nach wie vor wurden Konflikte nur in Kategorien wie Gewinner oder Verlierer gesehen, nicht aber in die Einsicht, die beide Seiten in diesem Konflikt haben können. 

Gerade angesichts der Krise in Israel möchte ich sicher für keine Seite Partei ergreifen. Beide Seiten werden ihre Begründung haben, aber trotzdem ist noch keine Lösung in Sicht. Also müssten beide Seiten den gewohnten Pfad der Denkweise verlassen, um einen Frieden herzustellen, vor allem für die Leittragenden des Konflikts und das sind nunmal in erster Linie die Kinder. Ihnen ist nicht damit geholfen, wenn eine Seite sich zum Gewinner aufschwingt. Andererseits ist die andere Seite ja auch kein Verlierer, wenn sie sich in dem Konflikt zurückziehen würde. 

Zurück zu Ernesto: Ich versuchte ihm klarzumachen, dass er nicht der Verlierer ist, bloß wenn er mal in einer Diskussion unterliegt. Es wäre nur die Frage, wie ich als vermeintlicher Gewinner der Diskussion wieder ein gleichberechtigtes Gefühl vermittle. Dann müsste die Keule mit Hilfe der Technik auch nicht immer weiter verbessert werden.