Herr Müller sieht die Welt

Mein Joghurt 

Als ich morgens in die Küche kam und wie üblich meinen Kaffee trinken wollte, traute ich meinen Augen nicht. Der Joghurt , den ich tags zuvor in den Kühlschrank gestellt hatte, war ratzekahl aufgegessen. Meinen ersten Verdacht, dass wohl Ameisen den Joghurt gegessen haben müssten, wurde schnell widerlegt, da überall am Fußboden kleine Tapsen von Schildkrötenfüßen waren. Wären es Ameisen gewesen, wäre der ganze Ort von extremer Sauberkeit gezeichnet. So aber waren überall Tapsen von Joghurt. 

Ernesto hatte also meinen Joghurt aufgegessen. Mir war klar, dass er dies natürlich zunächst leugnen würde. Ich musste mir nun genau überlegen, wie ich ihn als Täter überführen konnte, einfache Indizien genügten nicht. 

Mein Versuch, weitere Hinweise für Ernestos Täterschaft zu finden, ließen mich zunächst zögern. Dann aber kam mir die geniale Idee für eine Falle. Ich stellte einen weiteren offenen Joghurt von mir ebenfalls in den Kühlschrank und wartete zwei, drei Tage ab. Dabei half mir meine, enorm im Wert gestiegene, Klopapier-Sammlung (Corona sei Dank), weil ich dann um den Joghurt mehrere Blätter Klopapier legte und hoffte, darauf Ernestos Fußabdrücke finden zu können und ihm diese als Beweis vorlegen zu können. 

Soweit mein theoretischer Plan. In der Praxis überführte sich Ernesto quasi selbst, da er nämlich 2 Tage später zugab, den Joghurt aufgegessen zu haben. Ich musste mich also nicht mehr auf die Lauer legen, um ihn zu überführen. Schade eigentlich. 

Wie oft Theorie und Praxis auseinanderklaffen, weiß ein jeder, der mal ein Auto repariert hat oder im Katasteramt gearbeitet hat. Theoretisch müssten die Dinge funktionieren, sei es beim Auto oder auf dem Amt. In der Praxis stellt sich oft heraus, dass die Dinge dann komplizierter oder glücksbehafteter sind, als einem lieb ist. Der Vergleich von Autoreparaturen und der Arbeit auf`m Amt ist sicherlich mit einiger Skepsis zu betrachten, jedoch stellt sich bei genauerem Hinsehen die Parallele heraus. In der Theorie müssten bestimmte zu errechnende Faktoren eine bestimmte Grundstücksgröße ergeben. In der Praxis zeigt sich aber, dass die Grundstücke dann kleiner sind als gedacht. Bezogen auf das Auto ließe sich sagen, dass das Auto nach der Reparatur theoretisch laufen sollte, tut dies in der Praxis aber nicht immer. 

Mein theoretischer Plan, Ernesto zu überführen, ging in der Praxis also nicht auf, da er selbst ein Geständnis ablegte. 

Die Quintessenz heißt also: Klopapier kann durchaus auch zweckentfremdet nützlich sein, nur schade, dass meine Klopapier-Sammlung jetzt umsonst dezimiert wurde. Drauf geschissen. 

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Putz 

Ernesto und ich saßen gerade gemütlich beim Frühstück auf unserem Balkon, als ein Stück Putz auf den Teller von Ernesto fiel. Wir fragten uns, wo der denn bitte herkam, da wir in der obersten Etage der Balkone waren und über uns nur Himmel. 

Als wir dann nach oben guckten, sahen wir den Grund dafür: Eine Schwalbe transportierte zum Bau ihres Nestes Putz durch die Luft und hatte offensichtlich ein Stück verloren. Warum die Schwalbe ausgerechnet Putz zum Bau ihres Nestes benutzte, war uns überhaupt nicht klar, konnten sie diesen doch nicht anrühren. Die Vorstellung von Schwalben und Betonmischern ging mir nicht in den Kopf. Ernesto merkte nur an, dass das bestimmt sehr hart und ungemütlich sein müsste und lehnte diese Vorstellung ab. Schließlich haben Schwalbenjungen ja auch ein Recht auf ein gemütliches Heim. Aber andererseits konnten wir uns auch nicht vorstellen, dass Schwalben Matratzen durch die Luft befördern. Man stelle sich vor, diese wären Ernesto auf den Kopf gefallen. Dann müssten wir täglich Bauhelme tragen, weil ständig die Gefahr bestünde, von Matratzen erschlagen zu werden. 

Aber jetzt fragten wir uns schon, wo denn der ganze Putz herkam, den die Schwalbe transportierte. Bei genauerer Betrachtung unserer Hausfassade stellten wir fest, dass diese Löcher aufwies und dass der Putz zu bröckeln begann. Da es sich nur um sehr kleine Stellen handelte, sah man diese erst bei genauerem Hinsehen. Offensichtlich wurden die ehemaligen Löcher zur Befestigung des Baugerüsts zur Anbringung der Balkone nicht ordnungsgemäß wieder zugemacht, sodass die Schwalbe rund um die Löcher den Putz entfernen und abtransportieren konnte. Durch die Tatsache, dass ich nur von in der Küche sitzend die Hausfassade anschauen konnte wegen meiner Höhenangst, verließ ich mich nur auf Ernestos Berichte über das Ausmaß des Schadens. 

Die Redewendung „auf den Putz hauen“ bekam plötzlich einen ganz neuen Kontext. Wenn man die Schwalben mal so beim Nestbau beobachtete, pickten sie eher als dass sie hauten, aber das Sprichwort heißt ja nicht „auf den Putz picken“, auch wenn das hier mehr Sinn machen würde. 

Ernesto und ich konnten also unser Frühstück jetzt beruhigt fortsetzen, ohne Angst haben zu müssen, von großen Putzteilen oder Matratzen getroffen zu werden. Kleine Putzstücke konnten uns zwar immer noch treffen, aber die waren weniger gefährlich. 

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Die neuen Mieter 

Nach Jahren des Leerstandes zog nun also besagte Familie ein. Wie gesagt hatte diese Familie zwei Kinder mit je einer Schildkröte namens Ernie und Bert. Aber im Unterschied zu uns waren diese Kinder und Schildkröten eher Leseratten, wie es sich herausstellte. Zu lesen lag uns ja nun völlig fern. Dazu unterhielten sich Ernesto und ich auch viel zu gern statt unsere Realität in Büchern abgedruckt zu finden. 

Dennoch verabredeten wir uns für den folgenden Freitag zu einem Spielnachmittag. Die beiden Jungs kamen mit ihren Schildkröten und ihren Eltern gegen Nachmittag zu uns. Nachdem wir gemeinsam Kaffee getrunken hatten, schlug Ernesto vor, ein Versteckspiel in unserer Wohnung zu spielen. Er erzählte so ganz nebenbei zur Belustigung der Umsitzenden, dass er sich in unserer Wohnung schonmal verlaufen hatte und dass er gegen die Wand im Flur gelaufen war, da er sich von dem Spiegel hatte täuschen lassen. Auch der Versuch, sich mithilfe von Piercings zu verschönern, stieß auf lautstarkes Gelächter. Das Eis war gebrochen und wir konnten mit dem Spiel beginnen. 

Ernie und Bert waren zunächst mit Verstecken dran. Das gab unseren Gästen auch die Gelegenheit, unsere Wohnung besser kennenzulernen. Ernie versteckte sich hinter dem Vorhang im Flur und wurde von uns relativ schnell entdeckt, weil doofer Weise seine Füße hinter dem Vorhang hervorlugten und ihn verrieten. Schwieriger war dann schon Bert versteckt. Er hatte sich in der Küche auf einen der Küchenstühle gesetzt, die unter den Tisch geschoben waren. Man konnte ihn also erst auf den zweiten Blick entdecken. Mit lautem Gejohle feierten die Schildkröten und Kinder ihre Entdeckung. 

Nun waren Ernesto und ich an der Reihe, uns zu verstecken. Ernestos anfängliche Idee, sich auf der Drohne zu verstecken, wurde schnell von ihm verworfen, weil er einsah, dass es mir unmöglich war, diese ruhig an einer Stelle in der Luft zu halten. Also mussten doch klassische Verstecke, unter dem Klodeckel und in der Duschwanne, herhalten. 

Alles in allem war es für alle ein lustiger und schöner Nachmittag und wir beschlossen, häufiger mal solche Nachmittage miteinander zu verbringen. Gott sei Dank wurde Ernesto noch kurz vor dem Gehen der Jungs unter dem Klodeckel gefunden, sodass einem neuen Abenteuer nichts im Weg stand. 

Ernesto war überglücklich, endlich Freunde der gleichen Art gefunden zu haben. 

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Der Spiegel 

Um meine Wohnung für den Besucher größer wirken zu lassen, machte ich mir einen Trick vieler Innenarchitekten zu Nutze. Ich hängte nämlich am Ende des Ganges gegenüber der Haustür einen Spiegel auf. Dadurch wirkte der Flur länger, als er wirklich war. Ernesto drohte sich fast darin zu verlaufen, so riesig war die erzielte Wirkung. Erst als er gegen die Wand unterhalb des Spiegels stieß, merkte er, dass er einer optischen Täuschung aufgesessen war und grinste. 

Die Länge des Flures war beträchtlich und wirkte schon ohne optische Täuschung groß. Auch die Helligkeit in dem Raum wurde durch das Aufhängen des Spiegels verbessert. Viele Gäste auf meiner letzten Party waren beeindruckt von der Wirkung. Häufig genug wirkt ein so langer Raum aber auf viele Gäste auch abschreckend. Erst wenn sie die Bewohner kennenlernen und die Wohnung zur Gänze, relativiert sich ihre Befangenheit bezogen auf den langen Flur. Oft genug sind nämlich Menschen und Schildkröten verwirrt und sind einem Trugschluss aufgesessen, von dem, was sie da im Spiegel sehen. Oft genug passen nämlich die eigenen Vorstellungen nicht zu den tatsächlichen Gegebenheiten und sie laufen dann Gefahr, den Vorstellungen mehr Glauben zu schenken als der realen Begebenheit. 

Bezogen auf meinen Flur heißt das, dass man sich nicht von der bloßen Länge des Flures beziehungsweise der Täuschung in die Irre führen lassen darf. Bezogen auf die Realität heißt das, dass einem häufig was anderes vorgemacht wird als wirklich da ist. Aus der Sicht einer Schildkröte heißt das, wenn Tomate und Salat nur vorgespiegelt werden, dann läuft sie Gefahr, ins Leere zu beißen. Bezogen auf das menschliche Dasein heißt das, dass man sich nicht täuschen lassen sollte, was einem da so vorgegaukelt wird. Häufig entspricht es nicht den Tatsachen, sondern eher Wunschdenken. Oft ist es dann schwer, Wunschdenken und Realität zusammenzubringen. Eben deswegen sollten man regelmäßig auch sein Selbstbild hinterfragen. 

Ernestos und meine Realität war das Dachgeschoss unseres Mietshauses, in das zog gerade eine neue Familie ein. Diese Familie hatte zwei Kinder. Wie schnell wir sie kennenlernen sollten, war uns zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar. Die beiden Kinder hatten ebenfalls Schildkröten, nämlich genau zwei. Ernesto und ich waren schon ganz aufgeregt, sie kennenzulernen. Ob man sich wohl zu gemeinsamen Spielnachmittagen verabreden könnte oder ob die beiden Schildkröten oder die beiden Kinder eher Bücherratten waren? Fragen über Fragen… 

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Das Kaninchen und die Schlange 

Wie jedes Wochenende nahmen Ernesto und ich unser Frühstück gemeinsam ein und unterhielten uns über die Geschehnisse der Woche. Dabei stellten wir fest, dass einem so mancher Konflikt das Dasein als Mensch schwer macht. Da hat man nicht mehr das Gefühl, zu dieser Spezies zu gehören. Die Art des Umgangs mit Konflikten – hat man das Gefühl – gehören dann eher ins Tierreich. Oft genug kommt man sich vor wie das Kaninchen vor der Schlange – unfähig zu handeln – wir vergessen viel zu oft die eigenen Möglichkeiten. 

Das wäre schon doof, als Mensch nur auf seine Instinkte zurückgeworfen zu werden. Das Handeln nur aus den Urinstinkten heraus wäre relativ kurzlebig, weil der Sozialdarwinismus bei uns Menschen kaum was verloren hat, auch wenn viele das nicht glauben mögen. 

Menschen können nämlich im Gegensatz zu Tieren sehr wohl ihre Handlungen bedenken, leider tun sie das aber zu wenig. Es lohnt sich also bei Problemen wie der Klimakatastrophe, seinen menschlichen Verstand zu benutzen. 

Bezogen auf die aktuellen Konflikte in der Welt bleibt einem nur zu sagen, dass man sie natürlich nicht alle lösen kann, aber dass man in seinem Rahmen alles dafür tun kann, sie zu minimieren. Das hieß zum Beispiel bezogen auf die eigene Person, dass man um umweltbewusstes Verhalten bemüht sein sollte und auch mal auf eine Autofahrt oder auf Fleisch verzichtet. 

Apropos Klimakatastrophe, das Duschwasser heute Morgen war viel zu heiß und Ernesto musste über mein Gejammer grinsen. Das nennt man wohl Luxusproblem. Dennoch kann ich mir eine schöne, warme Dusche – trotz Klimakrise – nicht verkneifen. Erfindungen, wie ich neulich im Werbefernsehen sah, erfreuten mein Gemüt, da ich weiterhin so warm duschen konnte. Die Erfindung erhitzt mithilfe des alten Duschwassers das neue Wasser wieder, sodass dann mit weniger Energie geduscht werden kann. 

Nachdem ich mich abgetrocknet hatte und in meine Lieblingsjogginghose geschlüpft war, fiel mir auf, dass es schon nachmittags war, wir also das Mittagessen versäumt hatten. Das musste dringend nachgeholt werden. Tomate und Salat sollte es sein, da es klimaneutral war und wir es beide mochten. 

Mein Leben als Kaninchen darf nicht von der Angst vor der Schlange bestimmt werden und Schlangen gibt es heutzutage mehr als genug. 

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Die Regenrinne 

Des Nachts wunderte ich mich in letzter Zeit immer über ein lautes Tropfen in der Nähe meines Fensters. Die Wasserhähne waren alle dicht, diese konnten es also nicht sein. Nachdem wir sie somit ausgeschlossen hatten, genügte ein genauerer Blick in die Regenrinne, die mit Laub verstopft war. Die Frage, wie das Laub hier hochkam, war obsolet. Die große Frage war jetzt: Wie bekamen wir das Laub jetzt heraus und vom Dach herunter? Meine Höhenangst sprach ja dagegen, auf`s Dach zu klettern und die Verstopfung selber zu beheben. 

Also sagten wir der Hausverwaltung Bescheid, dass die Regenrinne verstopft sei. Diese sollte sich dann darum kümmern. Die beauftragte Firma schickte zwei Mitarbeiter vorbei, die die Regenrinne reinigen sollten. Die Mitarbeiter wollten mit Hilfe eines Hubwagens auf die Höhe der Regenrinne kommen und dann mit geeignetem Werkzeug diese freistochern. Soweit der Plan. 

Leider stoppte der Hubwagen in der Höhe des zweiten Stocks und ließ sich keinen Millimeter mehr weiterbewegen, sodass die Mitarbeiter in dem Hubkasten festhingen. Jegliche Versuche, diesen irgendwie zu bewegen, blieben bei dem bloßen Versuch, sodass erst nach drei Tagen die Mitarbeiter der Firma von der ortsansässigen Feuerwehr gerettet wurden. Die eingesetzte Drehleiter musste aber erst aus dem nächstgrößeren Ort herangeschafft werden. 

Überraschend kam der Einsatz von Ernestos Drohne. Diese konnte zur Versorgung der Mitarbeiter der Firma, die mit der Reinigung beauftragt war, eingesetzt werden. Ernesto war stolz wie Oskar, sich und seine Drohne so nützlich einsetzen zu können. Außerdem war er direkt vor Ort, da er ja – angeklebt an die Drohne – alles genau und live miterleben konnte. Für Ernesto kam das Erlebnis der Rettung einer Erweckung gleich, da er jetzt seine Zukunft bei der freiwilligen Feuerwehr sah. Endlich gab es für ihn und seine Drohne eine sinnvolle Zukunft. Letztendlich erkannte Ernesto außerdem die Chance, mit Hilfe der Drohne einen Markt für sich zu entdecken, der in der Reinigung von Regenrinnen lag. Er wurde so gelegentlich von der Nachbarschaft dafür beauftragt und auch die Feuerwehr verlangte gelegentlich seine Dienste. 

Regenrinnen bestimmen ja generell das Antlitz eines Hauses. Wie charakterbildend sie für eine Fassade sind, bleibt dem Besitzer bzw. dem Betrachter selber überlassen. Unsere Regenrinne gibt unserem Haus die gewisse Note. 

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Unser Liegerad 

Wenn schönes Wetter war im Frühling, gaben sich Ernesto und ich den Gefühlen und Gerüchen des Frühlings hin. Wie schon gesagt (siehe Übermorgen) ergaben sich Ernesto und ich gerne dem Rausch der Geschwindigkeit. Diesem frönten wir auch bei unseren Ausflügen mit dem Liegerad. Es war so schön, der Natur beim Wachsen zuzusehen und zu sehen, wie alles immer grüner und lebendiger wurde. 

Neulich wurde Ernesto beinahe von unserem Liegerad erschlagen, als er in seinem Körbchen saß und das Fahrrad umfiel. Gott sei Dank war die Fallhöhe nicht ganz so hoch und Ernesto hat sich nur dolle erschrocken. Viel gefährlicher war die anschließende Situation im Straßenverkehr, weil Ernesto nämlich auf die Straße lief. Wenn nicht ein aufmerksamer Mitbürger sich heldenhaft vor ein herannahendes Auto geschmissen hätte und so verhindert hätte, dass Ernesto überfahren worden wäre, wäre die Situation eskaliert. So jedoch war nichts passiert. Weder der Autofahrer, das Auto noch Ernesto nahmen irgendeinen Schaden, weil zu dieser Zeit Gott sei Dank so gut wie kein Verkehrsaufkommen herrschte. 

Unser Ausflug in den nahen Stadtpark war von unserer guten Laune geprägt. Was blieb uns auch anderes übrig angesichts des strahlenden Sonnenscheins. Die Temperaturen taten ihr Übriges, um unsere Laune zu erhellen. Der warme Fahrtwind umgab uns und wir genossen jede Windböe des warmen Sommerwindes. Besonders spannend war ein Volk von Wildbienen, das unter lautem Getöse umzog in einen Baum in unserer Nachbarschaft. 

Nachdem der Umzug abgeschlossen war, fuhren Ernesto und ich weiter durch den Stadtpark und sahen einer Familie beim Picknicken zu. Neben dem aufkommenden Hungergefühl waren wir doch erstaunt über das Verhalten der Familienmitglieder, weil sie ihre Pappteller aufaßen. Auf unsere Nachfrage hin bekamen wir von der Mutter der Familie die Auskunft, dass es sich bei den Papptellern um essbare Pappteller handelte, sodass von dem Picknick nur wenig Müll übrig blieb. Umwelttechnisch sicherlich vortrefflich, aber rein geschmacklich reichte mir allein die Vorstellung von Esspapier mit Ketchup- und Majoresten drauf, um das abzulehnen. 

Unsere Exkursion führte uns am örtlichen Bouleplatz vorbei, wo sich gerade ein Streit darum entspann, ob Boule-Kugeln möglichst schwer oder möglichst handlich zu sein hatten. Man konnte sich nicht einig werden und beschloss den Streit mit einem Remis. 

Wir setzten unsere Tour mit dem Liegerad fort und genossen das um uns herum pulsierende Leben. So ein Liegerad ist schon was Feines! 

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Der Balkon

Nach einigen Jahren entschied sich auch meine Hausverwaltung zur Verbesserung der Wohnqualität zum Anbau von Balkonen. Diese sollten nachträglich mit Metallgestell vor die Wohnung gesetzt werden. 

Nachdem ich einige Wochen brauchte, um mich daran zu gewöhnen, meinen Kaffee jetzt auf dem Balkon einzunehmen, zumindest wenn die Temperaturen dies zuließen, machte ich mich nun daran, zum Frühling hin meinen Küchentisch nach draußen auf den Balkon zu stellen. Das war schön, die Frühlingssonne auf der Haut zu spüren! Doof war nur, dass ich den obersten Balkon hatte und mir noch irgendeine Art des Sonnenschutzes einfallen lassen musste. Ernesto war ja mit seinem Panzer gut gegen die Sonne geschützt, aber mich erwischte die Sonne in ihrer ganzen Heftigkeit, sodass ich bald einen kleinen Sonnenschirm an den Küchentisch stellte. Das Ensemble aus Küchentisch, Ernesto und Sonnenschirm vermittelte eine gewisse Behaglichkeit. 

Allerdings hatte ich fast meine Höhenangst vergessen. Da wir, wie gesagt, den obersten Balkon besaßen und die Höhe bis zum Boden doch erheblich war, setzte ich Ernesto nur schnell auf den Küchentisch und ging dann sofort wieder in unsere Wohnung. Ich setzte mich dann an die Balkontür, aber eben auf die Kücheninnenseite, um ja nicht Gefahr zu laufen, aus Versehen über die Brüstung zu gucken. 

Gut war, dass man von hier aus noch besser die ganze Straße überblicken konnte. Lustig war das Treiben von Paketboten, deren Eskapaden von hier aus toll beobachtet werden konnten. Was es bedeutet, in der zweiten Reihe zu parken, bekam eine ganz neue Definition. Ich wusste bisher gar nicht, wie breit meine Straße eigentlich ist. Immer wieder bewundernswert fand ich die Geschwindigkeit, mit der die Paketboten ihre Autos verließen und ihre Fracht beim Kunden abgaben. 

Ernesto interessierte das Treiben der Paketboten nur am Rande. Was es bedeutete, in der zweiten Reihe zu parken, war ihm relativ egal. Nur wenn ein Paket für ihn bestimmt war, war die Sache für ihn von Interesse. In den letzten Tagen erwartete er nämlich täglich ein Paket, das ihm eine Drohne bringen sollte. In seiner Vorstellung würde er dann mit Hilfe der Drohne durch die Straßen fliegen. Ich war gespannt, ob die Drohne solch eine Last tragen konnte. Auch konnte ich ja nicht erwarten, dass Ernesto sich auf der Drohne festhalten würde. Also klebte ich ihn mit Klebeband an der Drohne fest. Völlig außer Atem kam Ernesto von seinem ersten „Ausflug“ wieder und wollte unbedingt mehr. Also würden wir in Zukunft häufiger „Ausflüge“ mit Hilfe der Drohne unternehmen. 

So `nen Balkon ist schon was Schönes. 

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Mein Mietshaus 

Am Anfang war Kowalski aus dem Erdgeschoss der Besitzer des Hauses. In Folge von notwendig gewordenen Sanierungsarbeiten wurde Kowalski dann zu einem ganz normalen Mieter. Die Dämmung und die Heizung mussten neu gemacht werden. Da ihm das Ganze zu teuer erschien, verkaufte er das Haus und wurde so zum einfachen Mieter. 

Kowalski achtete peinlich genau darauf, dass jeder seine Hauswoche erledigte. Wenn man ihn am Briefkasten traf und sich im Small Talk üben wollte, war er genau der richtige, wenn man mal ein frustrierendes Erlebnis haben wollte, denn Small Talk war nun gar nicht sein Ding. Trotzdem war es gut, ihn im Haus zu wissen, weil so sichergestellt war, dass sich niemand im Haus befand, der da nicht hingehörte. 

Die Welt von Kowalski war schnell erklärt. Sie drehte sich vor allem um drei Dinge: Fußball, seinen Hund und die Angebote im Supermarkt. Herr Kowalskis Hund wurde im Laufe der Zeit einer Bratwurst immer ähnlicher. Das mag auch daran gelegen haben, dass er sowieso kurze Beine hatte, wie das bei Dackeln so üblich ist, sodass er im Laufe der Zeit kaum noch die Treppen hochkam, ohne mit dem Bauch aufzusetzen. Von daher war es gut, dass er und Kowalski im Hochparterre wohnten und nur eine Treppe zu bewältigen war. 

„Die Angebote im Supermarkt sind auch nicht mehr das, was sie mal waren“, so die Aussage von Kowalski über die Prospekte, die uns jede Woche ereilten. Trotzdem kaufte er jede Woche seine Portion frische Leberwurst und ein Graubrot, „denn da schmeckte man noch das echte Bäckerhandwerk“. 

Die sonstigen Offerten interessierten ihn nur insoweit, dass es neue Technikangebote gab. Kowalski war nämlich ein guter Kenner der Computerszene. So hatte er als erster im Haus Internetverbindungen, die kabellos waren. Die Modemverbindungen, die alle anderen Hausbewohner an den Rand des Wahnsinns brachten, interessierten ihn nur bedingt. 

Manchmal surfte er auf Dackelseiten im Internet und er fand seinen Hund immer am schönsten und bemerkte gar nicht, dass dieser einer Wurst immer ähnlicher wurde. Vielleicht hing das damit zusammen, dass Kowalski nur selten mit ihm vor die Tür ging. Eigentlich nur dann, wenn der Hund mal musste, sodass der Hund von Kowalski immer froh war, mal wieder vor die Tür treten zu können. Jede Hausecke und jeder Hydrant wurde dann mehrfach von ihm inspiziert und beschnuppert. Nach spätestens 10 Minuten hatte Kowalski die Faxen dicke und zog ihn wieder ins Haus. Gott sei Dank war das ja nun gut isoliert und beheizt. 

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Haare

Hat sich eigentlich mal jemand gefragt, was Schildkröten machen würden, wenn sie Haare hätten? Haben sie ja Gott sei Dank nicht. Genau deswegen haben sie auch keinen Daumen, mit dessen Hilfe sie eine Schere bedienen könnten. Aber lustig wäre das schon: eine Schildkröte mit Mob auf`m Kopp. Stattdessen haben sie eben einen Panzer, um Schlimmeres zu verhindern. Was Schlimmeres wäre, muss an dieser Stelle noch ein wenig offenbleiben. 

Lange Haare wirken ja oft auch wie ein Panzer, Frisuren insgesamt können wirken wie eine Bepanzerung. Deswegen sollte man sich oft nicht vom ersten Eindruck täuschen lassen. So können zum Beispiel punkige Frisuren mit blauen oder grünen Haaren oder auch Glatzen auf den ersten Blick abschreckend wirken. Viele Menschen machen sich hier das erste Erscheinungsbild zu Nutze, um bewusst abzuschrecken. Oft lohnt sich jedoch ein zweiter Blick bzw. eine Kontaktaufnahme, in solchen Fällen umso mehr. Das eigentliche Ziel der Veränderung eines Haarschnitts dient jedoch der Verschönerung des Menschen. 

Die Überlegung, Ernestos Panzer blau oder grün zu streichen, haben wir relativ schnell wieder verworfen, weil Ernesto die Farbe schlecht vertragen hat. Die Latexfarbe hatte seine Hautatmung deaktiviert. Außerdem fand er, dass die Bemalung seines Panzers einer Färbung von Haaren nicht gleichkäme. Dreadlocks hingen ihm zu schwer am Panzer, aber sah schon schick aus. Allerdings gehen Schildkröten ja auch eher selten zum Friseur. Vielleicht sollte die Kundschaft von Tierfriseuren auch Kleintiere beinhalten. Auch ein Schnurrbart steht Schildkröten im Allgemeinen schlecht. Außerdem sind Barbierstühle für Schildkröten zu niedrig, sodass sie sich nicht im Spiegel sehen können. 

Nachdem wir nun sowohl lange Haare, Färbungen als auch Schnurrbärte ausgeschlossen hatten zu Ernestos Verschönerung, kam mir die blendende Idee, dass wir doch seinen Panzer piercen lassen könnten. Das hatte bestimmt noch kein Piercer gemacht und diese sind ja stets um neue Kundschaft bemüht. Also ließen wir den Rand von Ernestos Panzer mit Ringen verzieren. Doof war dann nur, dass Ernesto sich ständig irgendwo verhedderte. So räumte er zum Beispiel unsere gerade gedeckte Kaffeetafel ab, weil er sich mit den Piercings in der Tischdecke verheddert hatte. 

Der Spruch: Wer schön sein will, muss leiden, gilt für Schildkröten nur bedingt, weil sie es nicht sind, die leiden, sondern ihre Umwelt. Damit war das Thema Verschönerung für Ernesto erledigt.