Herr Müller sieht die Welt

Unser Liegerad 

Wenn schönes Wetter war im Frühling, gaben sich Ernesto und ich den Gefühlen und Gerüchen des Frühlings hin. Wie schon gesagt (siehe Übermorgen) ergaben sich Ernesto und ich gerne dem Rausch der Geschwindigkeit. Diesem frönten wir auch bei unseren Ausflügen mit dem Liegerad. Es war so schön, der Natur beim Wachsen zuzusehen und zu sehen, wie alles immer grüner und lebendiger wurde. 

Neulich wurde Ernesto beinahe von unserem Liegerad erschlagen, als er in seinem Körbchen saß und das Fahrrad umfiel. Gott sei Dank war die Fallhöhe nicht ganz so hoch und Ernesto hat sich nur dolle erschrocken. Viel gefährlicher war die anschließende Situation im Straßenverkehr, weil Ernesto nämlich auf die Straße lief. Wenn nicht ein aufmerksamer Mitbürger sich heldenhaft vor ein herannahendes Auto geschmissen hätte und so verhindert hätte, dass Ernesto überfahren worden wäre, wäre die Situation eskaliert. So jedoch war nichts passiert. Weder der Autofahrer, das Auto noch Ernesto nahmen irgendeinen Schaden, weil zu dieser Zeit Gott sei Dank so gut wie kein Verkehrsaufkommen herrschte. 

Unser Ausflug in den nahen Stadtpark war von unserer guten Laune geprägt. Was blieb uns auch anderes übrig angesichts des strahlenden Sonnenscheins. Die Temperaturen taten ihr Übriges, um unsere Laune zu erhellen. Der warme Fahrtwind umgab uns und wir genossen jede Windböe des warmen Sommerwindes. Besonders spannend war ein Volk von Wildbienen, das unter lautem Getöse umzog in einen Baum in unserer Nachbarschaft. 

Nachdem der Umzug abgeschlossen war, fuhren Ernesto und ich weiter durch den Stadtpark und sahen einer Familie beim Picknicken zu. Neben dem aufkommenden Hungergefühl waren wir doch erstaunt über das Verhalten der Familienmitglieder, weil sie ihre Pappteller aufaßen. Auf unsere Nachfrage hin bekamen wir von der Mutter der Familie die Auskunft, dass es sich bei den Papptellern um essbare Pappteller handelte, sodass von dem Picknick nur wenig Müll übrig blieb. Umwelttechnisch sicherlich vortrefflich, aber rein geschmacklich reichte mir allein die Vorstellung von Esspapier mit Ketchup- und Majoresten drauf, um das abzulehnen. 

Unsere Exkursion führte uns am örtlichen Bouleplatz vorbei, wo sich gerade ein Streit darum entspann, ob Boule-Kugeln möglichst schwer oder möglichst handlich zu sein hatten. Man konnte sich nicht einig werden und beschloss den Streit mit einem Remis. 

Wir setzten unsere Tour mit dem Liegerad fort und genossen das um uns herum pulsierende Leben. So ein Liegerad ist schon was Feines! 

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Der Balkon

Nach einigen Jahren entschied sich auch meine Hausverwaltung zur Verbesserung der Wohnqualität zum Anbau von Balkonen. Diese sollten nachträglich mit Metallgestell vor die Wohnung gesetzt werden. 

Nachdem ich einige Wochen brauchte, um mich daran zu gewöhnen, meinen Kaffee jetzt auf dem Balkon einzunehmen, zumindest wenn die Temperaturen dies zuließen, machte ich mich nun daran, zum Frühling hin meinen Küchentisch nach draußen auf den Balkon zu stellen. Das war schön, die Frühlingssonne auf der Haut zu spüren! Doof war nur, dass ich den obersten Balkon hatte und mir noch irgendeine Art des Sonnenschutzes einfallen lassen musste. Ernesto war ja mit seinem Panzer gut gegen die Sonne geschützt, aber mich erwischte die Sonne in ihrer ganzen Heftigkeit, sodass ich bald einen kleinen Sonnenschirm an den Küchentisch stellte. Das Ensemble aus Küchentisch, Ernesto und Sonnenschirm vermittelte eine gewisse Behaglichkeit. 

Allerdings hatte ich fast meine Höhenangst vergessen. Da wir, wie gesagt, den obersten Balkon besaßen und die Höhe bis zum Boden doch erheblich war, setzte ich Ernesto nur schnell auf den Küchentisch und ging dann sofort wieder in unsere Wohnung. Ich setzte mich dann an die Balkontür, aber eben auf die Kücheninnenseite, um ja nicht Gefahr zu laufen, aus Versehen über die Brüstung zu gucken. 

Gut war, dass man von hier aus noch besser die ganze Straße überblicken konnte. Lustig war das Treiben von Paketboten, deren Eskapaden von hier aus toll beobachtet werden konnten. Was es bedeutet, in der zweiten Reihe zu parken, bekam eine ganz neue Definition. Ich wusste bisher gar nicht, wie breit meine Straße eigentlich ist. Immer wieder bewundernswert fand ich die Geschwindigkeit, mit der die Paketboten ihre Autos verließen und ihre Fracht beim Kunden abgaben. 

Ernesto interessierte das Treiben der Paketboten nur am Rande. Was es bedeutete, in der zweiten Reihe zu parken, war ihm relativ egal. Nur wenn ein Paket für ihn bestimmt war, war die Sache für ihn von Interesse. In den letzten Tagen erwartete er nämlich täglich ein Paket, das ihm eine Drohne bringen sollte. In seiner Vorstellung würde er dann mit Hilfe der Drohne durch die Straßen fliegen. Ich war gespannt, ob die Drohne solch eine Last tragen konnte. Auch konnte ich ja nicht erwarten, dass Ernesto sich auf der Drohne festhalten würde. Also klebte ich ihn mit Klebeband an der Drohne fest. Völlig außer Atem kam Ernesto von seinem ersten „Ausflug“ wieder und wollte unbedingt mehr. Also würden wir in Zukunft häufiger „Ausflüge“ mit Hilfe der Drohne unternehmen. 

So `nen Balkon ist schon was Schönes. 

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Mein Mietshaus 

Am Anfang war Kowalski aus dem Erdgeschoss der Besitzer des Hauses. In Folge von notwendig gewordenen Sanierungsarbeiten wurde Kowalski dann zu einem ganz normalen Mieter. Die Dämmung und die Heizung mussten neu gemacht werden. Da ihm das Ganze zu teuer erschien, verkaufte er das Haus und wurde so zum einfachen Mieter. 

Kowalski achtete peinlich genau darauf, dass jeder seine Hauswoche erledigte. Wenn man ihn am Briefkasten traf und sich im Small Talk üben wollte, war er genau der richtige, wenn man mal ein frustrierendes Erlebnis haben wollte, denn Small Talk war nun gar nicht sein Ding. Trotzdem war es gut, ihn im Haus zu wissen, weil so sichergestellt war, dass sich niemand im Haus befand, der da nicht hingehörte. 

Die Welt von Kowalski war schnell erklärt. Sie drehte sich vor allem um drei Dinge: Fußball, seinen Hund und die Angebote im Supermarkt. Herr Kowalskis Hund wurde im Laufe der Zeit einer Bratwurst immer ähnlicher. Das mag auch daran gelegen haben, dass er sowieso kurze Beine hatte, wie das bei Dackeln so üblich ist, sodass er im Laufe der Zeit kaum noch die Treppen hochkam, ohne mit dem Bauch aufzusetzen. Von daher war es gut, dass er und Kowalski im Hochparterre wohnten und nur eine Treppe zu bewältigen war. 

„Die Angebote im Supermarkt sind auch nicht mehr das, was sie mal waren“, so die Aussage von Kowalski über die Prospekte, die uns jede Woche ereilten. Trotzdem kaufte er jede Woche seine Portion frische Leberwurst und ein Graubrot, „denn da schmeckte man noch das echte Bäckerhandwerk“. 

Die sonstigen Offerten interessierten ihn nur insoweit, dass es neue Technikangebote gab. Kowalski war nämlich ein guter Kenner der Computerszene. So hatte er als erster im Haus Internetverbindungen, die kabellos waren. Die Modemverbindungen, die alle anderen Hausbewohner an den Rand des Wahnsinns brachten, interessierten ihn nur bedingt. 

Manchmal surfte er auf Dackelseiten im Internet und er fand seinen Hund immer am schönsten und bemerkte gar nicht, dass dieser einer Wurst immer ähnlicher wurde. Vielleicht hing das damit zusammen, dass Kowalski nur selten mit ihm vor die Tür ging. Eigentlich nur dann, wenn der Hund mal musste, sodass der Hund von Kowalski immer froh war, mal wieder vor die Tür treten zu können. Jede Hausecke und jeder Hydrant wurde dann mehrfach von ihm inspiziert und beschnuppert. Nach spätestens 10 Minuten hatte Kowalski die Faxen dicke und zog ihn wieder ins Haus. Gott sei Dank war das ja nun gut isoliert und beheizt. 

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Haare

Hat sich eigentlich mal jemand gefragt, was Schildkröten machen würden, wenn sie Haare hätten? Haben sie ja Gott sei Dank nicht. Genau deswegen haben sie auch keinen Daumen, mit dessen Hilfe sie eine Schere bedienen könnten. Aber lustig wäre das schon: eine Schildkröte mit Mob auf`m Kopp. Stattdessen haben sie eben einen Panzer, um Schlimmeres zu verhindern. Was Schlimmeres wäre, muss an dieser Stelle noch ein wenig offenbleiben. 

Lange Haare wirken ja oft auch wie ein Panzer, Frisuren insgesamt können wirken wie eine Bepanzerung. Deswegen sollte man sich oft nicht vom ersten Eindruck täuschen lassen. So können zum Beispiel punkige Frisuren mit blauen oder grünen Haaren oder auch Glatzen auf den ersten Blick abschreckend wirken. Viele Menschen machen sich hier das erste Erscheinungsbild zu Nutze, um bewusst abzuschrecken. Oft lohnt sich jedoch ein zweiter Blick bzw. eine Kontaktaufnahme, in solchen Fällen umso mehr. Das eigentliche Ziel der Veränderung eines Haarschnitts dient jedoch der Verschönerung des Menschen. 

Die Überlegung, Ernestos Panzer blau oder grün zu streichen, haben wir relativ schnell wieder verworfen, weil Ernesto die Farbe schlecht vertragen hat. Die Latexfarbe hatte seine Hautatmung deaktiviert. Außerdem fand er, dass die Bemalung seines Panzers einer Färbung von Haaren nicht gleichkäme. Dreadlocks hingen ihm zu schwer am Panzer, aber sah schon schick aus. Allerdings gehen Schildkröten ja auch eher selten zum Friseur. Vielleicht sollte die Kundschaft von Tierfriseuren auch Kleintiere beinhalten. Auch ein Schnurrbart steht Schildkröten im Allgemeinen schlecht. Außerdem sind Barbierstühle für Schildkröten zu niedrig, sodass sie sich nicht im Spiegel sehen können. 

Nachdem wir nun sowohl lange Haare, Färbungen als auch Schnurrbärte ausgeschlossen hatten zu Ernestos Verschönerung, kam mir die blendende Idee, dass wir doch seinen Panzer piercen lassen könnten. Das hatte bestimmt noch kein Piercer gemacht und diese sind ja stets um neue Kundschaft bemüht. Also ließen wir den Rand von Ernestos Panzer mit Ringen verzieren. Doof war dann nur, dass Ernesto sich ständig irgendwo verhedderte. So räumte er zum Beispiel unsere gerade gedeckte Kaffeetafel ab, weil er sich mit den Piercings in der Tischdecke verheddert hatte. 

Der Spruch: Wer schön sein will, muss leiden, gilt für Schildkröten nur bedingt, weil sie es nicht sind, die leiden, sondern ihre Umwelt. Damit war das Thema Verschönerung für Ernesto erledigt. 

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Mein Bodenbelag

Ähnlich wie die Wahl der Tapete lässt auch der gewählte Fußbodenbelag Rückschlüsse auf den Bewohner zu. Teppichboden ist zwar sehr verbreitet, doch wahre Individualisten des Bodenbelags greifen dann doch eher zu Linoleum-, Laminat- oder Holzfußböden. Ein schnöder Teppichboden kommt für sie nicht in Frage, wobei auch er seine Reize durchaus hat, wenn man auf schnelle Reinigung nicht so sehr wert legt. 

Da wären wir auch schon bei des Pudels Kern: Die Reinigung von Teppichböden kann entweder sehr aufwändig sein oder nur sehr oberflächlich erfolgen. Somit bleibt jemandem, der um ein bisschen Hygiene bemüht ist, also nur der schon angesprochene Linoleum-, Holz- oder Laminatboden. Laminatböden haben sich nahezu inflationär verbreitet und sind daher nicht mehr ganz so individuell, aber dennoch sind sie wie gesagt gut und schnell zu reinigen. Zum Beispiel eignen sich glatte Böden für einen momentan sehr angesagten Saugroboter, wenn man kein Problem hat, dass jemand „Fremdes“ die Wohnung staubsaugt. 

Saugroboter eignen sich vor allem für Schildkröten als Mitfahrgelegenheit. So liebt es Ernesto, auf unseren Saugroboter zu steigen und mit ihm durch die Wohnung zu cruisen. Dass dann so manche Bodenvase daran glauben darf, spielt keine Rolle mehr. Insgesamt lässt sich sagen, dass Saugroboter also eine prima Mitfahrgelegenheit für kleinere Haustiere sind, sofern sie keine Angst vor dem selbstfahrenden Ungetüm haben. 

Außerdem ist man als Hauptbewohner der Wohnung immer wieder überrascht, wenn man nach Hause kommt, wie schön alles blitzt und blinkt. Der Saugroboter hat dann fast die Funktion eines Partners (siehe Valentinstag), der in Abwesenheit die Wohnung auf Vordermann gebracht hat. Aber eben nur fast! Das stellt man spätestens fest an Geburts- und Feiertagen. Das lange Gesicht bei ausbleibenden Geschenken oder Blumensträußen macht doch deutlich, dass Roboter eben „nur“ zur Reinigung der Wohnung dienen. Der Versuch, diese in meinem Sinne zu erziehen, wurde von mir relativ schnell wieder eingestellt. Saugroboter sind eben doch nur technische Geräte und kein Partnerersatz. 

Es wird also deutlich, dass der ausgewählte Fußbodenbelag Zeichen von Individualität und Extravaganz ist. Glatte Fußböden sind für mich also zum einen Bequemlichkeit, aber auch Ausdruck meiner individuellen Lebensweise verbunden mit der Bespaßung für Ernesto. 

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Meine Raufasertapete 

Raufasertapeten lassen viel Spielraum zur Interpretation. Mustertapeten sind wie Malbücher oder malen nach Zahlen, sehr stark vorgegeben, in dem was gedacht und gemalt werden soll. Von daher sind Raufasertapeten Quelle der Inspiration, weil sie Raum zum Denken geben. Man muss natürlich mit so viel Freiheit umgehen können. Wenn man sich aber darauf einlässt, dann entstehen wahre geistige Meisterwerke. Die Raufasertapete wird dann quasi zur Leinwand des geistigen Picassos. Nun gut, nun möchte nicht jeder die Mona Lisa im Wohnzimmer hängen haben, aber das wäre ja dann auch wieder eine Mustertapete. Von daher sollte man sich ja auch von Tapeten mit vorgegebenen Mustern und Motiven verabschieden. Die Raufasertapete wird dann zur Alternative dahingehend, dass das Ergebnis offen ist. 

Ich stellte bei genauer Betrachtung meiner Raufasertapete fest, dass diese eine Vielzahl von Erhebungen und Vertiefungen aufweist. Dieser permanente Wechsel von hoch zu tief stellte für mich einen klaren Kontrast dar. Kontraste begegnen einem ja auch häufiger. Sie sollten einen aber nicht davon abhalten, stets sein Menschenbild aufrecht zu erhalten, also auch dazu veranlassen, Kontraste zuzulassen. Der offensichtlichste Kontrast beim Menschen ist nunmal ihre Hautfarbe. Diese sollte aber niemals Gegenstand einer Diskriminierung sein, da sie eben nicht frei gewählt werden kann, genau wie die Haarfarbe. Die Lächerlichkeit von Rassismus wird hoffentlich so manchem Leser anhand meiner Texte an dieser Stelle bewusst. Kein Mensch hat es nötig, sich über seine Hautfarbe zu definieren. Die Wurzeln eines Menschen spielen immer eine große Rolle, dürfen aber nie Grund oder Anlass sein, sich über andere Menschen zu erheben. 

Eine andere Interpretation wäre, dass die Höhen und Tiefen der Raufasertapete auch Rückschlüsse zum Leben zulassen, da auch dieses durch Höhen und Tiefen gekennzeichnet ist, also der Raufasertapete sehr nahekommt. 

Zurück zur allgemeinen Aussage von Tapeten: Für freie Geister ist die Raufasertapete die geeignete, da sie viel Spielraum zur Interpretation lässt. Gebundenere oder bescheidenere Geister greifen gerne zur Mustertapete und finden da ja auch völlig zurecht ihr Glück. 

Ich bin froh, mich für eine Raufasertapete entschieden zu haben. 

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Banalität des Alltags 

Der Alltag kann relativ öde und banal daherkommen, muss er aber nicht. Wenn man sich einmal damit abgefunden hat, dass es Tage gibt, die nicht sonderlich herausragend sind. Man könnte meinen, dass es ein ganz normaler Tag war, aber seine besondere Bedeutung wird einem erst im Nachhinein klar, wenn man merkt, dass im Jahr eine Vielzahl von Tagen ihr Dasein fristen, also ganz normaler Alltag sind. Es kommt also darauf an, dass man vermeintlich ganz normale Tage zu ganz besonderen Tagen macht. Die vielen Tage, die zunächst bedeutungslos scheinen, erhalten durch ihre Häufigkeit eine enorme Macht und sind daher nicht zu unterschätzen. Aber dann stellt sich die Frage der Bedeutung von normalen Tagen. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie zunächst getarnt daherkommen. Ihre Besonderheit wird erst in der genauen Betrachtung dieser Tage offensichtlich. 

Heute war so ein Tag. 

Wie immer aßen Ernesto und ich Frühstück. Plötzlich hörten wir einen lauten Knall. Die Erinnerung an den lauten Knall des Bankautomaten (die aufmerksamen Leser werden sich erinnern) ließ uns zusammenzucken. Wir konnten uns aber schnell beruhigen, da nur ein Auto eine Fehlzündung hatte. Wir widmeten uns also weiter unserem Frühstück und hatten genug damit zu tun. Wir hatten Entscheidungen zu treffen: Es ging nämlich darum, ob ein gutes Ei 3 oder 5 Minuten zu kochen sei. Ernesto war für 5. Meinen Einwand, dass es dann schon ein hart gekochtes Ei sei, ließ er nicht gelten. Für ihn waren eh nur Spiegeleier die geeigneten Eier für`s Frühstück, also weder 3 noch 5 Minuten Eier. Die Frage nach 3 oder 5 Minuten war also eher die Frage nach Spiegelei oder Rührei. Dabei stellten wir fest, dass ein Spiegelei doch eher zeitlos ist, da es zu jeder Tages- und Nachtzeit schmeckt. Rührei hingegen schmeckt nur am Morgen und besteht aus mehreren Eiern. Auch die Art der Beilagen unterscheidet sich gravierend. Spiegelei hat keine weiteren Zutaten, schmeckt aber sehr gut mit verschiedenen Beilagen, zum Beispiel Baked Beans. Rührei hingegen kann mit vielen weiteren Zutaten hergestellt werden. 

Die Ei-Frage ist also, obwohl sie so banal daherkommt, von entscheidender Bedeutung und obliegt dem Einzelnen in der Bewertung. Für Ernesto ist Spiegelei das Maß aller Dinge, für mich eher Rührei. Die Banalität des Alltags kommt hier zu ihrer vollen Bedeutung und wird hier voll offensichtlich. 

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Amt ohne Schimmel

Nach über 14 Jahren wurde mir mitgeteilt, dass ich Ernesto von morgen an nicht mehr zur Arbeit mitbringen dürfe. Aus hygienischen Gründen, wie es hieß. Nun gut. Was Hygiene mit dem Amt zu tun hat, muss mir bei Gelegenheit mal jemand erklären. Wenn ich so meine Kollegen manchmal essen sehe, da fällt mir auch nichts mehr ein. Aber nun denn, so sei es. 

Von heute an muss Ernesto seine Tage also immer zu Hause fristen, während ich im Büro sitze. Keine lustigen Besuche mehr von Frau Meier aus B105, sondern nur kahle Wände in unserer Dachgeschosswohnung. Ich überlegte, wie ich weiter verfahren sollte. Sollte ich für Ernesto einen Spielgefährten oder -in besorgen oder eine Aufsicht? Ich hatte meine Entscheidung noch nicht gefällt, da nahm Ernesto sie mir mehr oder weniger ab, als er mir vorschlug, dass wir doch per Skype permanent verbunden sein könnten. Er würde dann zu Hause am Laptop sitzen und ich könnte mich via Rechner aus dem Büro hinzuschalten. Dabei ergab sich so manche skurrile Begebenheit, weil Ernesto dazu neigte, in Situationen, in denen er sich unbeobachtet fühlte, Dinge zu tun, die man eben macht, wenn man sich unbeobachtet meint, zum Beispiel in der Nase bohren. Immer wenn ich ihn darauf ansprach, stritt er dies ab und fühlte sich ertappt, von daher ließ ich es alsbald. 

Einmal musste ich gerade Bürger beraten bezüglich ihres Grundstücks. Gleichzeitig hatte Ernesto aber ein Problem mit unserer Waschmaschine und wollte prompt per Skype darüber reden. Es war gar nicht so einfach, den Bürgern begreiflich zu machen, dass jetzt erstmal meine Schildkröte Ernesto darüber ein Gespräch bräuchte und sie warten müssten. 

Richtig gefährlich war neulich eine Situation, in der ein Geldautomat in unserer Nachbarstraße gesprengt wurde und Ernesto voller Panik bei mir anrief ob des lauten Knalles, den er gehört hatte. Die Polizei sperrte daraufhin mehrere Straßen einschließlich unserer und jegliche Durchfahrt war verhindert. Gott sei Dank kam ich kurz danach gegen Feierabend nach Hause. Ich fand einen völlig verstörten Ernesto vor, der erstmal mit Salat und Tomate beruhigt werden musste. Wir sahen uns dann mehrere Folgen von Ernestos Lieblings-Comedy-Serie an und gegen Abend hatte er sich dann beruhigt. 

P.S.: Ernesto ist überall. 

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Heute

Heute ist das Gestern von morgen. 

Völlig ergriffen von so viel Eloquenz lehnte ich mich zurück und Ernesto tippte sich an den Kopf ob meiner Ergriffenheit. Zeit ist für Schildkröten eher relativ, für Menschen eher minutiös. Das Vergehen von Zeit spielt für Menschen eine größere Rolle als für Schildkröten. Letztere denken eher in Zeiträumen und Menschen planen ihren Tag in Minuten und Stunden. Das genau macht den Menschen ihr Leben häufig schwer. 

Gestern war der Blick in die Vergangenheit, morgen ist der Blick in die Zukunft. Da ich weder als ewig Gestriger noch als Spökenkieker gelten mochte, beschäftigte mich die Gegenwart eben stärker als das, was war oder das, was kommen sollte. Ernesto war im Gegensatz zu Kassiopeia (aus Michael Endes Momo) nicht mit zusätzlichen Gadgets ausgerüstet. Das einzig Gemeinsame von Kassiopeia und Ernesto war lediglich die Tatsache, dass beide Schildkröten waren. 

Ernesto war eher im Hier und Jetzt verortet. Das machte ihn umso liebenswerter. Dies äußerte sich beispielsweise in seiner Vorliebe für Butterkekse. Diese aß er lieber heute als morgen. Die von gestern waren alt und labbrig, die von morgen kannte er noch nicht. Da morgen die unbekannte Größe war, konnten er und ich uns nur mit dem Heute beschäftigen, zumal Butterkekse ja heute knusprig waren. Ob sie morgen noch knusprig sein würden, wussten wir ja nicht, da keiner von uns wusste, was morgen passieren wird. Im Bewusstsein, dass sie heute sehr genießbar waren, machten wir uns daran und überlegten, was heute von uns noch zu erledigen sein würde. 

Es stand mal wieder ein Großreinemachen an. Ernesto stürzte sich voller Begeisterung auf die Schwämme und sah sie als Spielkameraden an. Mein Kommentar, dass diese aber für die Reinigung des Bades vorgesehen waren, ließ ihn schnell zurückschrecken. Ich ging also daran und verteilte Reinigungsmittel auf die Spülschwämme, die dann von Ernesto über den Badezimmerboden geschoben wurden. Besonderen Wert legte Ernesto auf die Reinigung der Fugen. Die Reinigung des WCs überließ er freundlicherweise mir, zumal die Bedienung der Klobürste für ihn schwer zu erledigen war. Besonders großen Spaß machte ihm die Reinigung der Badewanne, weil er sich dann immer mitsamt des Schwammes in die Badewanne rutschen ließ. Nachdem unser Bad wieder blitzte und blinkte, machten Ernesto und ich erstmal eine Kaffeepause am Küchentisch. Bei Butterkeksen und Kaffee vergaßen wir alles um uns herum und erwarteten unsere nächsten Abenteuer. 

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Vorgestern

Vorgestern ist im Prinzip das gleiche wie übermorgen, nur anders herum. Die Schnittmenge aus beiden Tagen wäre heute. Wie der Name schon sagt, ist vorgestern der Tag vor gestern. Gestern war auch ein Tag. Eigentlich ein sehr schöner Tag, weil gestern der Tag war, an dem ich Geburtstag hatte. Nun ist ja nicht jedes Gestern dadurch gekennzeichnet, dass ich da immer Geburtstag hätte, aber dennoch war es ein außerordentlich schöner Tag. 

Ernesto hat mich zu Beginn des Tages geweckt mit einem Ständchen zum Geburtstag. Anschließend frühstückten wir gemeinsam und kamen darauf zu sprechen, dass vorgestern das Liegerad vom Papa von Max umgefallen war. Dabei wäre beinahe unser Fahrrad mit umgefallen, mit dem wir immer unsere Ausflüge machen. Das ist nämlich ein ganz besonderes Fahrrad, da es einen Fahrradkorb mit Decke für Ernesto bereithält. Manchmal fahren wir durch den Stadtpark und ich zeige Ernesto die Bäume im Sommer. Ernesto ist dann immer ganz ergriffen von den vielen blühenden Pflanzen um ihn herum. 

Gestern musste also vorgestern geplant werden. Ich kam fast ganz durcheinander mit gestern und vorgestern, fing mich dann aber wieder recht schnell. Gut, dass mich Ernesto vorgestern an gestern erinnert hat. Als Vorbereitung für meinen Geburtstag stellten wir die Stühle auf den Tisch, weil die Küche dann als Tanzfläche zur Verfügung stehen sollte. Für die Party musste außerdem eingekauft werden, aber immerhin waren die Stühle schon oben. Wir brauchten noch dringend Klopapier. Leider war das in der Corona Pandemie schlecht zu kriegen – vielen Dank nochmal, liebe Mitbürger. Aber zurück zur Party. Die Einkäufe waren schließlich gemacht, die Party konnte gestern also beginnen. 

Die Party wäre beinahe völlig eskaliert, als eine Horde Jugendlicher laut grölend durch die Straße zog. Meine zwei Gäste beugten sich aus dem Fenster und riefen zu den Jugendlichen herunter, ob sie wissen, wie spät es sei. Die Jugendlichen drehten sich herum und riefen laut „Ja“ und gingen weiter. Völlig verdattert schlossen meine zwei Partygäste das Fenster wieder und wollten zur Tagesordnung übergehen. Leider hatte keiner meiner beiden Gäste noch die Tagesordnung, also mussten sie improvisieren. Wir alle waren nicht besonders geübt in Partyspielen und Stimmung hochhalten. So verging ein dennoch schöner Tag und wir erwarteten morgen.