Herr Müller sieht die Welt

Klimawandel 

Der Klimawandel hatte zumindest für Ernesto etwas Gutes. Während alle Welt unter zunehmender Hitze stöhnte, genoss er sein Leben in der Sonne in dem Pool auf unserem Balkon. Für ihn hätte es durchaus noch einige Grad wärmer sein können, aber aus Rücksicht auf ältere Menschen war es okay so. Ihm selbst konnte es gar nicht warm genug sein. Also wäre als logische Schlussfolgerung daraus gewesen, dass die ganze Welt nur noch eine Klimazone sein sollte. Das stand aber weder bei der UNO noch sonst irgendwo zur Diskussion. 

Ich hatte ja schon Probleme aufgrund der Höhe unseren Balkon zu betreten, einzig die Fürsorge für Ernesto ließ mich gelegentlich mal auf den Balkon gehen. Höhenangst war eine andere Sache, die mit der Zeit unbedingt von mir bewältigt werden müsste. Für mich war die Hitze unerträglich, sodass Ernesto in seiner Begeisterung für die Hitze gebremst wurde. Er merkte, dass sie mir nicht ganz so gut tat und ich regelmäßig für Abkühlung sorgen musste. Ernestos Tipp mit den Hakle-Feucht-Tüchern war für mich nicht ganz so sinnig, zumal es extrem bescheuert aussah und unangenehm roch. Aber mit Wasser angefeuchtete Lappen und Tücher brachten auch mir Abkühlung. 

Zu Hoch-Zeiten, also im Hoch-Sommer, war unsere gesamte Wohnung in jedem Raum mit einem Ventilator ausgestattet, nur die Zimmer von Ernesto blieben davon ausgespart, er brauchte ja keine Abkühlung. Die Ventilatoren verrichteten ihr Werk auf sehr angenehme Weise, weil sie das Raumklima mit den vorgehängten nassen Lappen doch beträchtlich herunterkühlten. Auch die zunehmende Bepflanzung der Innenstädte sorgte dafür, dass versiegelte Flächen jetzt wieder von Pflanzen bewohnt wurden und dies für Kühlung sorgte. 

Im Kampf gegen die zunehmende Hitze hatte ich noch die Idee, nasse Unterhemden zu tragen. Das war aber auch nur bedingt praktikabel, also nur dann, wenn man sonst nichts mehr vorhatte. Die nassen Unterhemden sorgten dafür, dass die darüber getragenen Oberhemden oder T-Shirts mit der Zeit auch durchnässt wurden und man sah stets durchgeschwitzt aus. Was richtig gut aussah, waren nasse Hüte, aber die Redewendung „Hast du `nen nassen Hut auf?“ hielt mich davon ab, dann doch einen selbigen aufzusetzen, auch wenn es angenehm kühl war. 

Ich fürchte, den Klimawandel als solchen kann man jetzt nur noch bedingt aufhalten, wir können uns nur an das Klima anpassen, das wir verursacht haben. 

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Heizdecke 

An einem dieser kalten Wintertage, sofern wir die überhaupt noch haben, aber jedenfalls für eine Schildkröte kalt, sah Ernesto im Werbefernsehen das Angebot für eine Heizdecke und wollte unbedingt eine bestellen. Nachdem er alle Unwägbarkeiten aus dem Weg geräumt hatte (sprich es war klar, dass ich das Postpaket in Empfang nehmen würde), bestellte Ernesto sich eine Heizdecke. 

Diese war auch zunächst ganz toll, verrichtete ihren Dienst ohne Probleme. Erst als Ernesto längere Zeit auf ihr lag, zeigte sich, dass die Decke wohl etwas zu heiß war. Jedenfalls, wenn er auf der Heizdecke saß, heizte diese seinen Panzer und ihn zu sehr auf. Besser war es, wenn sie nur über ihn gelegt wurde, dann war alles gut. Saß er aber auf ihr drauf, entwickelte sie zu viel Hitze. 

Teleshopping war ja überhaupt Ernestos Ding. Fasziniert saß er stundenlang vor dem Fernseher und sah sich Teleshopping begeistert an. Da er jetzt auch über ein Girokonto verfügte, konnte er selbst bestellen, aber nicht grenzenlos, sondern nur bis sein Konto leer war, wie ich schonmal berichtete. Teleshopping und Schildkröten passen auch von ihrer Natur nicht zusammen. Schildkröten als Konsumenten sind zwar ein dankbarer Abnehmer, aber auf den zweiten Blick auch Meister der Retouren. 

Teleshopping ohne Grenzen war eine seiner politischen Forderungen. Er hatte zunächst keine Partei gefunden, die das in ihrem Wahlprogramm stehen hatte. Ernestos politische Forderungen fanden ihren Rückhalt zumeist bei kleineren, unbekannten Parteien. Dort war er zwar ein gern gesehener Wähler, aber die Partei war mit 0,8% auch nicht ausschlaggebend für die Wahl. Er musste schon größere Parteien von der Dringlichkeit seiner Themen überzeugen, damit diese ins Wahlprogramm aufgenommen wurden. Nach langem Hin und Her fand er endlich bei den Grünen eine politische Heimat. Denen war Ernestos ständiges Generve langsam zu bunt und so fanden seine Forderungen Eingang in ihr Parteiprogramm. Nur das Teleshopping ohne Grenzen musste ein wenig der Grünen Programmatik angepasst werden. Andere Forderungen fanden hingegen uneingeschränkte Zustimmung, zum Beispiel Öffis für alle, Salatgurken gegen den Krieg (kein Mensch weiß welcher Krieg und wo) und breitere Radwege. 

Festzuhalten bleibt: Heizdecken sind für Schildkröten mit Vorsicht zu genießen und werden am besten mit Solarstrom betrieben. 

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Blechspielzeug 

Endlich kam Ernesto auch mal in den Genuss des Fahrens mit offenem Fenster, konnte so den Ellenbogen aus dem Fenster lehnen und das Auto mit einer Hand steuern. Nach einiger Übung konnte er dies sogar fast unfallfrei. Dass sein Auto den Crazy Crashers, dem Kinderspielzeug aus den 80er Jahren glich, musste er in Kauf nehmen. Gott sei Dank handelte es sich ja nur um sein Blechspielzeugauto und nicht um sein ferngesteuertes Auto, zumal sein Ellenbogen dann dicker hätte gepolstert werden müssen. Dass sein Blechauto immer auf meinem Fahrradanhänger geparkt werden musste, war unvermeidlich und erschwerte seine Selbstständigkeit, aber zumindest war das ein guter Anfang. So konnte er gefahrenlos den Ellenbogen aus dem Fenster halten und den dicken Macker markieren, auch wenn sein Spielzeugauto nur auf meinem Fahrradanhänger geparkt war, das hielt ihn nicht davon ab, cool wirken zu wollen. 

Seine Bemühungen um ein cooles Outfit wurde von einer ausgefallenen Sonnenbrille getoppt. Und nun war es nicht gerade ein alltägliches Bild, eine Schildkröte mit Sonnenbrille im offenen Cabrio auf einem Fahrradanhänger zu sehen, sodass Ernestos Bekanntheit, die bei uns im Kiez ohnehin schon hoch war, noch gesteigert wurde. 

Jedes Mal, wenn Ernesto in seinem Auto an unserer Eisdiele vorfuhr – bzw. ich mit ihm – kreischten seine Fans und sorgten für Tumulte. Der Eisverkäufer überlegte schon, eine Eissorte speziell für Ernesto zu kreieren, aber bei der Namensgebung hatten er und wir Probleme, sollte doch die individuelle Note der Eissorte im Vordergrund stehen. Die Farbigkeit der Eissorte sah außerdem ganz schön igitt aus: blau, braun und gelb (Schlumpfeis, Schoko und Vanille) ergaben keinen schönen Farbton und so gab es halt kein Ernesto-Eis. Der Eismatscher profitierte dennoch von Ernestos Ruhm. Die Fangemeinde von Ernesto ließ sich regelmäßig in der Eisdiele nieder und erwartete das Erscheinen ihres Messias. Der Vorteil für uns war, dass wir umsonst Eis und Cappuccino bekamen, weil die Fans für mehr Umsatz sorgten. 

Manchmal darf man bei der Götzenverehrung nicht die eigenen Bedürfnisse vergessen. Ernesto und ich konnten jedenfalls von jetzt ab Eis und Cappuccino bis zum Umfallen genießen. 

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Fitnessstudio 

Ernesto liebte Laufbänder, aber leider gab es diese nur selten mit der Geschwindigkeit „Schildkröte“. Also mussten wir selbst tätig werden, ihn ins Laufen zu kriegen. 

Da bot sich ein verstärktes und leicht vergrößertes Hamsterrad an. Ernesto konnte so laufen bis der Arzt kommt. Leider kam dann auch der Arzt und stellte bei Ernesto eine starke Erschöpfung fest. Wir mussten also kürzer treten im Hamsterrad, aber nach einiger Zeit hatten wir auch diese Hürde gemeistert. Hanteln und Gewichte waren nicht Ernestos Ding, von daher blieb nur die Anpassung des Hamsterrads zum Laufband. Manchmal half uns auch der schon erwähnte Trimm-Dich-Pfad zur Erhaltung und Steigerung von Ernestos Fitness, aber da dieser von ihm nur im Sommer genutzt werden konnte, benutzte er eben im Winter das Laufrad als sein Fitnessstudio. Alle Schildkröten in unserer Nachbarschaft, Ernie und Bert erst recht, blickten voller Neid auf Ernestos Ertüchtigungsraum. 

Hamsterräder müssen ja nicht unbedingt Ausdruck von Monotonie sein, auch wenn es oft als Synonym dafür gilt. Für Ernesto bedeutete es die größtmögliche Freiheit. Sein Bewegungsdrang, der zugegebenermaßen erst einmal von mir angefacht werden musste, konnte so gestillt werden. 

Nachdem wir das Laufband nun mit Schildkrötengeschwindigkeit betreiben konnten, ging es nun daran, andere Möglichkeiten zu finden, Ernesto eine gewisse Fitness zuteilwerden zu lassen. Hanteln schieden aus, weil die hätte man ja festhalten können müssen. Da Schildkröten aber nicht über Hände verfügten, mussten wir uns andere Fitnessgeräte einfallen lassen. Da das Problem mit den mangelnden Händen entscheidend war, blieb uns nur, sämtliche Fitnessübungen auf das Stemmen des eigenen Körpergewichts zu beschränken, mit anderen Worten er musste Kniebeugen, mal mit den hinteren, mal mit den vorderen Extremitäten bewerkstelligen. Nach einiger Zeit stellte sich dann aber das Problem, dass er seine Extremitäten vor lauter Muskelmasse nicht mehr in den Panzer ziehen konnte. 

Dieses sei als Warnung für alle Pumper gedacht: Manchmal lohnt der Einsatz von ein wenig Hirnschmalz. Dicke Muskeln alleine reichen halt nicht. 

Herr Müller sieht die Welt

Irre für Anfänger 

In der aktuellen Tageszeitung wurde mal wieder von einem durchgeschossenen Amokläufer berichtet. Ernesto zeigte sich verunsichert, sah zu mir auf und fragte mich: „Wird denn der Wahnsinn jetzt Normalität?“ Verdutzt über diese Fragestellung, begann ich, mir so meine Gedanken zu machen. 

Also wenn man mal in die Tagespolitik guckt, könnte man schon diesen Eindruck bekommen. Da braucht es schon viel Zuversicht und einen festen moralischen Kodex, um standhaft zu bleiben. Leicht ist man versucht, den vermeintlich leichtesten Antworten oder Erklärungen Recht zu geben. Erst bei genauerem Hinsehen stellt man fest: Oh, oh, upsala! So korrekt sind diese Antworten wohl doch nicht. 

Wenn zum Beispiel Herr Yilmaz sagt, dass Gurken aus Holland die billigsten sind, kann man nur sagen: Natürlich sind sie das! Aber um welchen Preis? Sie kosten unendlich viel Wasser und das Wasser, das sie zur Herstellung benötigen, fehlt an anderen Orten. Dass sie vermeintlich die billigsten sind für den Konsumenten, spielt angesichts der Kosten, die sie für die Allgemeinheit verursachen, keine Rolle mehr. Das kann aber so nicht sein. 

Weg von den Gurken, hin zur Politik. Auch wenn man geneigt ist, diese auch in der Politik zu verorten. Hohe Zölle a la Trump sind zwar gut für die heimische Wirtschaft auf den ersten Blick, vergessen aber, dass Amerika nicht vom Welthandel isoliert agiert, sondern eben Teil desselbigen ist. Die vermeintlich hohen Zölle schützen zwar die heimische Wirtschaft, schlagen dann aber an anderer Stelle zu Buche. Was nützt es Amerika, wenn Produkte aus anderen Ländern teurer werden? Die Konsumenten also letztlich auf anderen Wegen die hohen Zölle mitzahlen müssen und damit die Gelackmeierten sind. „America first“ ist relativ kurz gedacht. Der Irrsinn wird also obsolet angesichts Trumps Zollpolitik. 

Die Amokläufe als Zeichen der Hilflosigkeit angesichts der totalen Überforderung sollten wohl eher mal zum Innehalten anregen. Dinge mit Abstand zu betrachten hilft manchmal und hier besonders. 

Ich erklärte Ernesto also, dass der Wahnsinn natürlich nicht Normalität sei, sondern die Ausnahme bleibe, man muss nur Geduld erlernen, denn viele Dinge erledigen sich dann von selbst. 

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Busticket 

Naja, nun gut, der beste Witze-Erzähler war ich ja nicht. Trotzdem ließ ich es mir nicht nehmen, Ernesto den blöden Witz aus meiner Kindheit zu erzählen von dem Menschen, der eigentlich, immer wenn er Bus fuhr, ein Einzelticket hätte lösen müssen, aber nie eins löste und dennoch öfter Bus fuhr. Als er gefragt wurde, warum er kein Einzelticket löste, antwortete er: „Django (also er selbst) hat `ne Monatskarte“. Ernestos Reaktion war verhalten, ich fand es irre lustig. 

Unabhängig von meinem Witz fuhr Ernesto jetzt öfter mit dem Bus. Er fand das besonders cool, obwohl er zu Herrn Yilmaz nur 2 Stationen fahren musste, hätte also auch genauso gut zu Fuß gehen können. Er nutzte aber die Möglichkeit, um mit dem Bus durch die ganze Stadt zu fahren und erst auf dem Rückweg bei Herrn Yilmaz auszusteigen. Ernesto legte großen Wert auf eine angemessene Begrüßung. Wie ein Weltreisender stieg er aus dem Bus und erwartete ein großes Empfangskomitee. Da dies zumeist ausblieb, begnügte er sich mit einem einfachen „Hallo“ von Herrn Yilmaz. 

Der Busfahrer wunderte sich über Ernestos Touren im Bus gar nicht mehr, weil er sich daran gewöhnt hatte, dass Ernesto – besonders bei schönem Wetter – bei ihm mitfuhr. Die Bedeutung der Öffis für Ernesto war weitreichend, ermöglichte sie ihm doch die selbstständige Erkundung der ganzen Stadt. 

Ernesto lernte das Angebot der Öffis so zu schätzen, auch wenn bei hohen Temperaturen und vielen Mitfahrern ein unangenehmer Schweißgeruch mitfuhr. Aber den lernte Ernesto gegebenenfalls zu ignorieren. Er ließ sich sogar zu der Aussage hinreißen: „Öffis fahren ist wie wenn `ste fliegst“. Was er damit meinte, ist mir nach wie vor unklar. Ich glaube, er war einfach begeistert davon Bus zu fahren. Ein so großes Auto hatten ja nun die wenigsten und auch wenn es nicht sein eigenes war, so war doch der Auftritt mit so einem Riesengefährt jedes Mal ein imposanter. Hinzu kam noch, dass Ernesto jedes Mal, wenn er Bus fuhr, hinter der Windschutzscheibe beim Busfahrer mitfahren durfte. Dort wartete ein Kissen extra für ihn. So verbanden sich großartiger Komfort mit einer herrlichen Rundum-Sicht. 

Nachdem ich mit meinem blöden Witz bei Ernesto nicht landen konnte, fand er zumindest die Idee mit der Monatskarte gut. Ernesto konnte jetzt also voller Stolz auch sagen: „Ernesto hat `ne Monatskarte!“. 

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Zollstock 

So ein Zollstock ist ja eigentlich denkbar ungünstig für eine Schildkröte, war er doch viel zu unhandlich. Ernesto hatte nun die Idee, die Vernietungen der einzelnen Glieder des Zollstockes zu entfernen und mit den einzelnen Teilstücken des Zollstockes Dinge auszumessen. Das sah komisch aus, so eine Schildkröte mit den Einzelteilen des Zollstockes auf dem Rücken, aber egal. Zur Vermessung von Dingen legte Ernesto die Einzelteile des Zollstockes hintereinander und erhielt so das Maß der Dinge. Bei Sturm oder Erdbeben konnte das natürlich nicht stattfinden, weil dann die Teilstücke ungenau messen würden. Da aber Erdbeben in unseren Breiten relativ selten waren und Stürme nicht so stark ausfielen, dass sie Messarbeiten gefährden konnten, konnte das erwünschte Ziel von ihm erreicht werden. 

Dass er mit den Teilstücken des Zollstockes auf dem Panzer geschnallt aussah wie ein Leiterwagen der Feuerwehr um die Jahrhundertwende, wusste er nicht. 

Bald stellte Ernesto fest, dass es doch eine einfachere und praktikablere Lösung zur Vermessung geben müsse. Er wähnte sich schon einer neuen Erfindung gegenüber und war dann relativ frustriert, als ich ihm leider sagen musste, dass Maßbänder zur Längenbestimmung schon erfunden waren. Trotzdem war das Bild von Ernesto mit Teilstücken des Zollstockes auf seinem Panzer ein unvergessliches. 

Der Einfachheit halber und weil es auch einfacher für Schildkröten zu bedienen und zu tragen war, ging Ernesto so zum Maßband über. Die Flexibilität von Maßbändern ist für Schildkröten schwer nachvollziehbar, zumal Flexibilität nicht zu ihren Grundstärken gehört. Flexibilität gehört ja nicht nur bei Schildkröten nicht zu den Grundstärken, sondern auch viele Menschen könnten von ihr eine Schippe mehr vertragen, aber das nur nebenbei. 

Woher Ernestos Drang zur Vermessung seiner Umwelt kam, konnte ich nur erahnen. Vielleicht hatte es mit seiner Herkunft zu tun, die ja in Südamerika lag und daher weit von Kiel entfernt war. Die Distanz zwischen Südamerika und Kiel war doch beträchtlich. Aber wie gesagt, das war nur meine Vermutung. 

So wurden von Ernesto alle Gegenstände in unserer Wohnung und die Wohnung selbst ausgemessen und die Maße genaustens notiert. 

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Wasserwaage 

Ohne Vorwarnung sah Ernesto mich vorgestern an und sagte, er wolle unser Leben jetzt mal ins Lot bringen. Das könne ja schließlich nicht so weitergehen. Was er genau damit meinte, ist mir nach wie vor ein Rätsel, aber auf jeden Fall hatten Libellen es ihm jetzt angetan. Was genau Libellen sind und damit zu tun hätten, erklärte er mir im Anschluss. Libellen, so sagte er mir, seien die Dinger, mit deren Hilfe Wasserwaagen ins Lot gebracht werden, also das Luftbläschen, das zwischen den Strichen sein muss und somit anzeigt, ob die Wasserwaage genau waagerecht ausgerichtet ist. 

Sämtliche Türstürze und Regale wurden daraufhin von ihm auf ihr „in-Waage-sein“ überprüft. Aber wenn dem nicht der Fall war, blieb ihm auch nicht viel anderes übrig, als dies auf einem Zettel zu notieren und mich darüber in Kenntnis zu setzen. Selber Hand anlegen, um es auszurichten, war nicht so sehr seins. 

Apropos „nicht in Waage sein“ und „nichts dagegen ausrichten können“: Ernesto liebte Cowboy- und Indianer-Filme, aber er fand, dass das Verhältnis der Bewaffnung von Cowboys und Indianern völlig im Ungleichgewicht sei. Verfügten doch die Cowboys meist über Colts und Gewehre, die Indianer aber nur über Pfeil und Bogen. Dies sei eine himmelschreiende Ungerechtigkeit, so fand er. 

Bei unseren Cowboy- und Indianer-Spielen in der Wohnung musste das unbedingt Berücksichtigung finden. Neben den Türen, die durch Decken ersetzt wurden, um der ganzen Wohnung ein Tippi-Flair zu geben, konnte ich ihn gerade noch davon abbringen, ein offenes Feuer in unserer Wohnung zu entzünden. Mahlzeiten konnten nur auf dem Herd erwärmt werden. Die ungleiche Gewichtung von Indianern und Cowboys sollte dadurch ausgeglichen werden, dass mal Ernesto und mal ich Indianer waren. In der Rückschau betrachtet hat sich das Ungleichgewicht der Bewaffnung zu Gunsten der Cowboys ausgewirkt. Ob das ein Vorteil für Amerika war, sei mal dahingestellt. 

Einige Ungleichgewichte, so lernten Ernesto und ich, muss man wohl einfach hinnehmen. Gegen sie anzukämpfen, frustriert relativ schnell. Dennoch lohnt ein stetes Abwägen der Situation, um Ungleichgewichte zu erkennen und gegebenenfalls zu beheben, sofern man dazu die Möglichkeit hat. 

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Hakle feucht 

An einem dieser überhitzten Sommertage, die uns in letzter Zeit häufiger begegnen, hatte Ernesto die Idee, sich mit einem Hakle feucht um den Kopf gewickelt Abkühlung zu verschaffen. Dabei stellte er aber schnell fest, dass diese sehr unangenehm nach Seife rochen. 

Seine Idee war deshalb, dass sie nach Moschus riechen müssten, um die Kundschaft solcher Tücher auf den männlichen Teil der Bevölkerung auszuweiten. Ich schlug ihm also vor, dieses bei der Firma von Hakle feucht als Geruchsvorschlag einzureichen. Mehr als nein sagen konnten sie ja schließlich nicht. Dass der Vorschlag von einer Schildkröte kam, konnten sie ja nicht ahnen. 

Natürlich war die Antwort der Firma „Nein“ und Ernesto war zunächst frustriert über das Ergebnis, dabei fand er seine Idee doch so gut. Hakle feucht-Tücher um den Kopf gewickelt sind zwar jedermanns Sache nicht, aber in der größten Not, also bei großer Hitze, eine angenehme Abkühlung. 

Die Idee, Feuchttücher um sämtliche Extremitäten zu wickeln, überdachte Ernesto bald, weil er bei unserem letzten Ausflug in den Garten diesen zur Hälfte mit in unsere Wohnung brachte. Sämtlicher Sand und Erdboden fand sich in den Tüchern und wurde dann bei uns oben in der Wohnung verteilt. 

Zur Vermeidung von unerwünschten Mitbringseln achtete Ernesto jetzt darauf, die Tücher vor Verlassen des Gartens abzulegen, zumal ich ihm beim Betreten der Wohnung stets an die Sauberkeit seiner Schuhe und Kleidungsstücke erinnerte. Deshalb ging Ernesto dazu über, sich in der Wohnung Abkühlung mit Hilfe einer Sprühflasche zu verschaffen, mit deren Hilfe er Wasser auf seinen Kopf und seine Extremitäten außerhalb des Panzers sprühte. Überhaupt war die Abkühlung mit der Sprühflasche praktikabler, zumal dies auch nicht so aufdringlich roch. Der einzige Nachteil war, dass die Sprühflasche nicht von ihm getragen werden konnte. Aber auch ich kam mir dann umso cooler vor mit an der Hosentasche eingehängter Sprühflasche, die bei Ausflügen von nun an gerade im Sommer immer dabei sein musste. Außerdem konnte ich so im Vorbeigehen Blumen mit Wasser benetzen bei größter Hitze. 

Abkühlungen können also auch ganz geruchsarm sein und trotzdem ihre Wirkung haben. Wie bei allem gilt: gewusst wie. 

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Handmade 

Nachdem Ernesto mal wieder nächtelang vor unserem Kabelfernsehen verbracht hatte und auf einen dieser Verkaufssender in unserem über 100 Kabelprogrammen hängen blieb, sagte er mir zu meiner Überraschung: Sie hätten von „handmade“-Produkten geredet und er konnte sich überhaupt keinen Reim darauf machen, was das bedeute. Also erklärte ich ihm, dass es sich dabei schlicht und ergreifend um handgemachte Produkte handelt und „made“ einfach das past participle oder die simple past- Form vom Infinitiv, also der Grundform „to make“ war. Er bräuchte also keine Angst zu haben, dass es sich dabei um Maden handeln würde. 

Fremdsprachen waren offensichtlich nicht Ernestos Steckenpferd. Er hatte ja schon nach dem Verlassen des Eies die menschliche Sprache erlernt, zumindest rudimentär so, dass ich ihn verstehen konnte. 

Beruhigt über die Information, dass „made“ von „to make“ kommt, suchte Ernesto jetzt gezielt nach handgemachten Produkten. Er stellte dabei fest, dass dies gar nicht so einfach war, weil die meisten angebotenen Produkte in Serie produziert und nur selten noch in Handarbeit hergestellt wurden. Serie heißt in dem Fall: am Fließband. Eine individuelle Fertigung und Verarbeitung des Produkts war eigentlich nicht mehr möglich, es sei denn es fiel mal vom Band. Da aber Ausschussware kein Zeichen für Handarbeit war, blieb nur der ausdrückliche Hinweis auf Handgemachtes. 

Ernesto lief daraufhin erst einmal zum Bäcker und besorgte eine Tüte voller Backwaren, die waren – so wurde ihm gesagt – alle handgemacht. Beruhigt über diese Information schlug Ernesto mir jetzt vor, dass wir ein Abendbrot mit handgemachten Lebensmitteln essen könnten. Das war gar nicht so einfach. Gurke und Tomate wuchsen ja von alleine, also blieb nur das Medium, auf das wir Gurke und Tomate legten. Wurst wurde meistens ebenfalls in Handarbeit hergestellt, zumindest von unserem Schlachter des Vertrauens. Kleine Molkereien sorgten dafür, dass auch Käse handgefertigt war, wenn auch nur in kleinen Stückzahlen. 

Wir stellten, gerade bei Käse- und Wurstwaren, einen lohnenswerten geschmacklichen Zugewinn für diese Produkte fest. Man kann sich jetzt zu der Aussage hinreißen lassen: Handmade kann wohl ein Qualitätsmerkmal sein.