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Kopfwürmer

Och menno! 

Es gibt so Tage, da will die Säge sägen, um mal einen alten Sozialpädagogen aus meiner Zivildienstzeit zu zitieren. Manchmal kann ich mit meiner Einschränkung relativ gut umgehen und damit leben und dann gibt es Tage, da werde ich vor allem für mich selber und mein Umfeld zur Belastung. Dabei will ich das ja gar nicht! Aber, wie gesagt, manchmal ist das einfach so – die Krankheit braucht manchmal ihren Raum. Und dieser Raum wird ja offensichtlich manchmal nicht im genügenden Maße von mir zugestanden. 

An solchen Tagen ist es anstrengend, weil jede Verhaltensweise von mir dahingehend überprüft wird, ob es etwas mit der Krankheit zu tun haben könnte oder keinen ernsten Hintergrund hat. Einfach vor sich hin leben ist da eben nicht. 

Andererseits sorgt es so auch dafür, dass ich jeden Tag bewusst lebe. Das heißt nicht, dass ich jeden Tag Müsli esse, sondern mir einfach klar mache, dass mein Leben – so anstrengend es auch manchmal ist – über viele positive Aspekte verfügt, die ich mir nur immer wieder klar machen muss, mehr als ein Nicht-Erkrankter. Oft können das auch Nichtigkeiten bzw. kleinste Kleinigkeiten sein. So zum Beispiel freue ich mich gerade immens über die Formulierung mit dem Müsli, die – wie ich finde – genau das sagt, was ich meine. Andere Frühstücks-Cerealien will ich gar nicht klein reden, auch Cornflakes haben ihre Berechtigung. Das herkömmlich geschmierte Butterbrot – oft auch als Pausenbrot bekannt – soll hier ebenfalls genannt werden. 

Zurück zu den zersägten Tagen: Solche Tage kennt ja jeder, die von A bis Z voll für die Tonne sind. Ich bin da schnell versucht, sie meiner Erkrankung zuzuschreiben, um dann festzustellen, dass diese natürlich oft mit meinem körperlichen Unvermögen zu tun haben. Das körperliche Unvermögen hat ja eigentlich nichts mit der geistigen Beweglichkeit zu tun. Soll heißen: Bloß weil ich körperlich kein Marathon mehr machen kann, kann ich diesen aber geistig tun. Dies darf dann nur nicht versehentlich zu einer Traumvorstellung werden. Damit die Realität nicht allzu frustrierend wird, sollte sie immer mit schönen Dingen angereichert werden. Traum und Realität sind also zwei Seiten derselben Medaille, die Rolle von Numismatikern wird hier oft unterschätzt. Wenn einem das klar ist, kommt man durch beides gut durch. 

„Och menno!“ ist manchmal also okay, wird es aber zum dauerhaften Zustand: Obacht! 

Herr Müller sieht die Welt

1. April 

Nachdem wir den Februar in diesem Jahr mit dem 29. erleben durften, in der Hoffnung, dass kein Mensch da Geburtstag hat, kam nun der 1. April. Ernesto und ich erwarteten Flachwitze zur Belustigung anderer. Völlig überraschend kamen die Witze nicht von anderen, sondern von Ernesto. Er schickte mich nämlich in den April. 

Gleich morgens ging es los. Ernesto sagte mir, dass Brötchen heute bei unserem Bäcker nur 15 Cent kosten sollten. Als ich daraufhin beim Bäcker stand mit dem passenden Kleingeld in der Hand, blickte ich in fragende Augen. Da hat mich wohl jemand veräppelt. 

Der Tag nahm seinen weiteren Verlauf als ich in der Mensa, in der ich immer mein Mittagessen einzunehmen pflegte, mit meinem Studentenausweis, der mich auf schmeichelhafte 35 Jahre herunterdatierte, stand. Nicht mehr nur, dass ich auf dem Studentenausweis jünger war, ich war jetzt auch eine Schildkröte, denn Ernesto grinste mich freundlich von dem Ausweis an. 

Nachdem ich aus dem Dilemma aus der Mensa Gott sei Dank unbeschadet herauskam, da dort verständnisvolle Mitarbeiter arbeiteten, wartete in unserem Stammcafé eine weitere Überraschung. Zur Feier des Tages durften heute die Gäste die Kellner bedienen. Zunächst hielt ich dies auch für einen Aprilscherz, stellte dann aber fest, dass es ernst gemeint war. Dieser Perspektivwechsel tat allen gut, da man so mal die Sichtweise eines anderen kennen lernte. Als Dank für die Teilnahme am Experiment bekamen alle Gäste einen Cappuccino auf`s Haus. 

Unbekümmert kam ich zu Hause an und dachte mir nichts Böses, als plötzlich ein Schwall Wasser auf mich herniederging, als ich in die Küche trat. Ernesto hatte oberhalb der Küchentür einen Eimer mit Wasser platziert, der sich nun über mich ergoss. Ernesto lachte sich scheckig! 

Nachdem ich meine Haare getrocknet hatte, fragte ich mich, wie ich mich rächen könnte, aber auf die Schnelle fiel mir nichts ein. Außerdem war es bereits kurz vor unserem Abendbrot, also nahm ich mir vor, meine Rache auf das nächste Jahr zu vertagen, zumal er auf der Hut gewesen wäre, da er mit Racheattacken von mir rechnete. 

Na, warte, im nächsten Jahr bist du fällig! 

Herr Müller sieht die Welt

Güterverkehr 

Nachdem ich mehrere Wochen den Verkehr auf unseren Straßen beobachtet hatte, kam ich zum Schluss, dass viel zu viele Waren über die Straße befördert wurden. Der Reifenabrieb war nicht unerheblich und die Beschwerden über Mikroplastik nahmen ja zu. Aber auch die Belastung durch Abgase soll hier nicht verborgen bleiben. Kurzum Güterverkehr musste von der Straße wieder mehr auf die Schiene gebracht werden. 

Paketboten fuhren allerdings nur selten mit der Tram. Wie sollten also die Pakete zu den Kunden kommen? Lastenräder sind von der Post schon entdeckt, daher mainstream. Musste also etwas Neues her für die Auslieferung der Pakete. 

Jetzt kam Ernesto zugute, dass seine Drohne vor sich hin schlief. Die Auslieferung von Paketen mithilfe der Drohne wurde nun auch von Paketriesen wie Amazon entdeckt. Auch Ernesto half unserem Paketboten gelegentlich bei der Auslieferung ihrer Paketsendungen. Drohnen hatten den großen Vorteil, dass sie direkt zum Kunden geliefert werden konnten, vorausgesetzt dieser konnte gut fangen. Die Kunden mussten somit zu einer vereinbarten Zeit auf dem Balkon oder draußen vor der Tür warten, sofern sie ein Paket erwarteten. Daher hatten Paketsendungen auch stets eine soziale Komponente, weil sich die Menschen draußen trafen, um ihre Pakete in Empfang zu nehmen bzw. sie zu fangen. Von der sportlichen Komponente reden wir jetzt mal nicht, aber natürlich tat diese Art der Postzustellung auch etwas für die Gesundheit der Empfänger. Die soziale Komponente konnte so in vielen Fällen noch vertieft werden, es entstanden auch manchmal Beziehungen durch Paketempfang, sozusagen das Paarship von Amazon. 

Ernesto und ich bekamen so Kontakt zu anderen Menschen mit Schildkröten, die ebenfalls Sportartikel für Schildkröten bestellten. Auch sie konnten ein Lied davon singen, wie schwierig es war, diese in passender Größe zu erhalten. 

Was mich betraf: Die Auslieferung der Pakete via Drohne erhöhte meine Chancen, in unmittelbarer Nachbarschaft ein weibliches Wesen kennenzulernen und siehe da: Am gestrigen Abend lernte ich Frau Hasemuckel von schräg gegenüber kennen. Sie arbeitete wie ich auf dem Amt und war somit die Umgangsformen des Amts gewohnt. Für ein näheres Kennenlernen verabredeten wir uns für die nächste Woche. Dort sollte ebenfalls ein Austausch von Amtsintimitäten stattfinden. 

Um die Feinstaubbelastung so gering wie möglich zu halten, fuhren wir zu unserem ersten Rendezvous mit der Straßenbahn. Die Schiene als Möglichkeit der Beförderung von Gütern war wieder einmal von uns in den Mittelpunkt gerückt worden. So gehört sich das! 

Herr Müller sieht die Welt

Karamellbonbon 

Nachdem unsere einzelnen Mahlzeiten zur Genüge geschildert wurden, wenden wir uns jetzt den kleinen Zwischenmahlzeiten oder Süßigkeiten zu. 

Im Gegensatz zu mir aß Ernesto Karamellbonbons nicht im Stück, sondern biss immer nur ein kleines Stück von ihnen ab. Das konnte sich bis zu einer Woche hinziehen. Zunehmen war ja durch den Panzer begrenzt. Ich war als Aufpasser gefordert, damit Ernesto nicht über alle Maßen Karamellbonbons zu sich nahm und damit unbegrenzt zunahm und sein Körper nicht mehr in den Panzer passte. 

„Eine himmelschreiende Ungerechtigkeit!“, so fand Ernesto. Mein Vorschlag, sich an die UNO oder PeTA zu wenden, wurde von ihm verworfen, da ihm der Anlass doch zu nichtig erschien. Trotzdem fand er es extrem ungerecht, dass es ihm verwehrt war, ungehemmt Süßigkeiten zu essen. 

Apropos hemmungslos: Ungezügelter Genuss und Maßlosigkeit sind ja eher Eigenschaften, die Menschen zugeschrieben werden, aber auch Schildkröten können im Rahmen von Karamellbonbons diese Verhaltensweisen zeigen. Gerade am Beispiel von Ernesto wird eine gewisse Zügelhaftigkeit deutlich, soll heißen: ungezügelter Genuss von Süßigkeiten ist eher schädlich und zwar für alle Lebewesen. Die Selbstkasteiung macht nicht nur bei Mönchen Sinn. Da ging sie zwar besonders weit, aber es wird deutlich, dass eine Maßlosigkeit eigentlich keinem gut tut. Nun stelle man sich Schildkröten mit den Geißelungspeitschen der Mönche vor, ein lustiges Bild. Der Genuss musste also ohne Geißelung im Zaum gehalten werden und auf ein gesundes Maß reduziert werden. Hier war Ernestos Einsicht gefordert. 

Karamellbonbons dürfen von ihm somit nur mit zwei Happen am Tag genossen werden, da sonst die Gewichtszunahme unvorstellbar gewesen wäre. Unvorstellbar soll heißen, ich hatte keine Ahnung, wie hoch sie sein würde, aber eine Zunahme musste auf jeden Fall verhindert werden. 

Um eine weitere Gewichtszunahme einzugrenzen, meldete sich Ernesto in unserem Kiez ansässigen Fitnessstudio an. Man stelle sich eine Schildkröte auf dem Laufband vor! Auch Gewichte waren gerne genommen, führten aber schnell dazu, dass Ernesto dicke Arme bekam und das war nun so gar nicht sein Wunsch. Mit dicken Armen konnte er sich nicht mehr zum Schutz in den Panzer zurückziehen. 

Anhand der Probleme, die Ernesto mit dem Training hatte, merkten wir schnell, dass die Ninja-Turtles wohl doch nur eine Erfindung der Medien sein konnten, aber umso besser waren die Ninja-Turtles vor dem Fernseher mit Karamellbonbon zu genießen. 

Herr Müller sieht die Welt

Marken 

Marken sind die Gewürze der Marktwirtschaft. Kapitalismus hat so was Marxistisches, finde ich, deswegen nenne ich sie mal „Gewürze in der Suppe“ statt „Salz in der Suppe“. Oftmals ist den Inhabern gar nicht klar, was sie da so zu Markte tragen. Mir ist natürlich klar, dass Kapitalismus und Marxismus nichts miteinander zu tun haben sollen und wollen. Dennoch haben beide so etwas Vereinnahmendes für den Konsumenten. Nur die Auswahl ist für Kapitalisten größer als für Marxisten. Könnte man sich mal fragen, ob die Auswahl so immens groß sein muss wie im Kapitalismus, aber nun ja… Das soll ja keine Kapitalismus-Kritik werden, war nur so eine Idee. 

Marken sind ja oft das Zeichen der Zugehörigkeit zu einer Gruppe. Dessen sollte man sich als Träger einer Marke oder als Konsument stets bewusst sein. Die einfache Warenwelt ist also nicht mehr nur fröhlich zu konsumieren, sondern man muss sich der Tatsache stets bewusst sein, dass man mit der Marke auch immer eine Haltung wiedergibt. 

Ernesto hatte es da leichter – er hatte nur einen Panzer und der war angewachsen und nicht zu tauschen. Die kurze Überlegung, die neumodischen Brandings doch dort zu platzieren, wurde dann schnell von uns verworfen, weil es uns doch zu brutal erschien. Der Versuch mit Piercings, neumodisch zu erscheinen, hatte Ernesto und mir schon gereicht. Marken spielten bei Ernesto nur bei der Auswahl der Schuhe und der Kopfbedeckung eine Rolle. Somit war die untergeordnete Bedeutung von Markenartikeln für Schildkröten offensichtlich. Eigentlich hatten sie es besser als wir Menschen, da sie nicht großartig wählen mussten, welche Marken sie nun tragen sollten oder könnten. Keine Wahl zu haben ist manchmal die beste Wahl. 

Die Auswahl als Zeichen der Marktwirtschaft sollte also nicht mit der Individualisierung verwechselt werden, weil Marken nicht unbedingt Zeichen der Individualisierung sind. Marken lauern nur darauf, Mainstream zu werden und dann wird die Individualisierung wieder hinfällig. Die Bedeutung von Marken wird oft überschätzt, weil ihnen eine Rolle zugewiesen wird, die sie gar nicht haben. Der Konsument sollte sich seiner Macht durchaus bewusst sein. 

Ernesto hatte damit die größtmögliche Freiheit, weil er seinen Panzer nicht frei wählen konnte. Auch wenn das schizophren erscheint, war für ihn eben genau die Tatsache keine Wahl zu haben, die größtmögliche Freiheit. Somit war Ernestos Suppe ausreichend gewürzt. Wie sagt der Volksmund so schön: Viele Köche verderben den Brei. Quod erat demonstrandum. 

Kopfwürmer

Kopfsteinpflaster 

Kopfsteinpflaster ist sehr hübsch anzuschauen, aber oftmals leider relativ uneben und daher für Rollstuhlfahrer doof. Jetzt kann man ja nicht erwarten, dass alle mittelalterlichen Plätze für Rollifahrer umgebaut werden, aber eine durchgehende Rollifahrer-Spur wäre echt nett. Außerdem sind große Märkte, zum Beispiel der Weihnachtsmarkt, immer eine Arschparade für Rollifahrer, von daher weiß ich von deren Bedeutung für das Wohlbefinden gar nicht so. 

Der Begriff rollstuhlgerecht sei hier in Bezug auf Ferienhäuser auch nochmal genauer überprüft. Oftmals trifft dies – obwohl so ausgewiesen – bei näherer Betrachtung gar nicht zu. So müsste ich in einer Vielzahl der Fälle, um auf`s Klo zu gehen, aufstehen können. Da dieses in näherer Zukunft nicht der Fall zu sein scheint, selbst unter Berücksichtigung eventueller Wunder, wäre es wünschenswert, dass solche Portale ausgewiesene Barrierefreiheiten der Unterkünfte zunächst einmal selbst ausprobieren oder zumindest die Bilder überprüfen. 

Die hiesige Zugänglichkeit vieler öffentlicher Gebäude, zum Beispiel von den meisten Schulen ist noch nicht rolligerecht. Und wenn man erstmal einen Lageplan braucht, um Zugang zu bekommen, trägt dies nicht gerade zur Inklusion bei. 

Skandinavische Länder machen es vor, wie es gehen kann. Dort ist es Pflicht, dass für alle öffentlichen Gebäude inklusive Einkaufsläden etc. ein Zugang für Rollifahrer möglich ist. Warum ist es hier so schwierig? 

Apropos Arschparade: Man könnte ja geneigt sein, die zuständigen Politiker in einer selbigen zu sehen, aber so viel Polemik wäre meine Sache nicht. Dennoch wird`s mal dringend Zeit, dass sich hier so einiges ändert. Schon alleine, dass man sich immer als Bittsteller vorkommt, ist doof. Rollifahrende Mitbürger sind doch keine Ausnahmen, nur trauen sie sich jetzt so langsam mehr vor die Tür und werden nicht mehr in Heimen weggeschlossen. 

Wenn schon die Inklusion ausgerufen wird, dann müsst ihr schon damit leben, dass die Betroffenen ihre eigenen Vorstellungen von den notwendigen Bedürfnissen haben. Man ist dennoch geneigt, sich zu folgendem Spruch hinreißen zu lassen: 

Unter den Blinden ist der Einäugige König. Wer was ist, sollte jeder für sich selbst entscheiden. 

Herr Müller sieht die Welt

Ernesto 

In letzter Zeit machte ich mir ein paar Gedanken über Ernesto. Ihm fehlte, glaube ich, jemand von seiner Art an seiner Seite. Ernie und Bert konnten nur bedingt Ersatz für einen direkten Partner sein, weil Ernesto sich doch oft fühlte wie das 3. oder 5. Rad am Wagen und auch die Beziehung zu Ernie nach dem ersten Verliebtsein nicht von Dauer war. Nachdem ich Ernesto neulich zu Ernie und Bert zum Spielen gebracht hatte, setzte ich mich an den Küchentisch und überlegte. 

Dabei fiel mir auf, dass Ernestos Laune immer dann besser wurde, wenn er das 4. Rad am Wagen war, also wenn er sich sinnvoll beschäftigt fühlte. Das war zum Beispiel der Fall als Berater beim Gemüsehändler Herrn Yilmaz. Da er diesen Job aber nicht mehr ausübte, mussten wir gemeinsam überlegen, wie die Leere in seinem Zeitplan ausgefüllt werden konnte. Sein Youtube-Kanal war nur eine vorübergehende Beschäftigung und die Rückmeldungen eher spärlich. Als Fisch-Dompteur war seine Karriere eher kurz, zumal er sich schwer tat mit der Reinigung des Aquariums. Als Chefkoch war er stets auf meine Hilfe angewiesen, auch wenn ihm das Zusammenstellen unserer Mahlzeiten Spaß bereitete. Seine Begeisterung für das ferngesteuerte Auto führte bald dazu, dass er sich als Testpilot für das Fahren von ferngesteuerten Autos zur Verfügung stellte. Zwar mussten diese zunächst auf Selbststeuerung umgerüstet werden, aber bald schon verfügte er über einen großen Fuhrpark dieser Autos, die er selbst lenken konnte. 

Dennoch war sein Alltag von einer großen Leere bestimmt und wir waren noch immer auf der Suche nach Jemandem, mit dem Ernesto seine Zeit sinnvoll verbringen konnte. Herrn Kowalskis Waltraut war zwar von einer anderen Art, hatte aber ähnlich kurze Beine wie Ernesto und genauso Probleme beim Treppensteigen. Die Gehgeschwindigkeit war bei beiden also relativ ähnlich, sodass sie häufiger mal Ausflüge zusammen machten. Doch auf Dauer war Waltraut ihm zu monoton, da Ernesto mir berichtete, dass Waltraut überhaupt nichts von sich erzählte. Häufig genug verstand er auch gar nicht, was Waltraut von ihm wollte. Hinzu kam, dass Ernesto sich oftmals nicht in Waltrauts Problematik hineinfühlen konnte. Wir überlegten, ob ein Dolmetscher von Hund zu Schildkröte in diesem Fall Sinn machen würde. Leider fanden wir niemanden Adäquates. Auch unsere Überlegung, es mal über Parship zu probieren, wurde nach einer Erprobungsphase von Ernesto wieder verworfen, weil die von ihm ausgewählten Schildkröten nur das Eine wollten. 

Also musste sich Ernesto weiterhin gedulden. Die Auswahl an passenden Partnern war ja nunmal leider so groß nicht. 

Kowalski lebt

Hitparade 

Nachdem ich jahrelang auf NDR 1 samstags die Hitparade hörte, machte plötzlich ohne Vorankündigung ein neuer Moderator selbige. Nicht dass ich gefragt werden müsste, aber es war schon recht ungewohnt. Man könnte fast sagen, es kam einer bodenlosen Unverschämtheit gleich, aber beschweren nützt ja nichts, weil ich ja bestimmt nicht der einzige Hörer von NDR 1 war. Dass ein neuer Moderator kam, war wie ich hörte der Erkrankung des alten Moderators geschuldet. Von daher war es mit Vorankündigung relativ schwer. Dennoch war der neue Moderator eindeutig für eine jüngere Zielgruppe bestimmt, da die von ihm gespielte Musik eher für jüngere Leute war. Das ging natürlich gerade auf diesem Sender überhaupt nicht! Die jetzt gespielte Musik war so gar nicht mehr meins. 

Ich überlegte, eine Umfrage in der Fußgängerzone zu starten. Damit, so dachte ich, könnte ich den Sender unter Zugzwang setzen. Viele der von mir befragten Menschen kannten NDR 1 gar nicht und konnten mit meinem Problem gar nichts anfangen. Offenbar hörte die Jugend inzwischen andere Sender. Schließlich fand ich dann doch noch Zuhörer von NDR 1, die genau wie ich über den Wechsel des Moderatoren bzw. der Musik verwundert waren und meine Petition unterschrieben. 

Dass sich der Sender dann für meine Umfrage überhaupt nicht interessierte, hatte ich nicht auf dem Zettel. Eine veränderte Hörerschaft war offenbar einkalkuliert. Die Reaktion des Senders um meine Petition war beruhigend bis ausweichend. Sie schlugen mir vor, andere Sender zu hören oder die digitalen Medien zu nutzen. Von Schottiefei – oder so ähnlich – hatte ich aber leider so gar keine Ahnung. Also blieb mir nur, CDs von dem jeweiligen Interpreten zu hören. Dabei war es nett, dass mein CD-Player über eine Funktion verfügte, bei der die Lieder automatisch in beliebiger Reihenfolge abgespielt wurden. So war es fast wie bei der Hitparade im Radio. Nur die Nachrichten kamen – von mir selbst aus der aktuellen Tageszeitung vorgelesen – mir doch sehr vertraut vor, sodass ich nach einer Weile die Nachrichten als Programmpunkt wieder fallen ließ. 

Ich stellte fest, dass ein Radiosender schon ersetzt werden konnte durch diese Funktion beim Hören der CDs. Die Veränderung der Medienlandschaft wird immer deutlicher und es ist schade, dass meinereins kaum noch Zugang zu den heutigen Medien hat und damit allein gelassen wird. 

Die Reaktion auf meine Petition verdeutlichte abermals, dass Hörer als anonyme Masse galten und nicht als Menschen als solches mit all ihren Wünschen und Bedürfnissen. 

Ach wären doch alle Menschen wie Waltraut! 

Herr Müller sieht die Welt

Lachmöwen 

Lachmöwen sind die Anarchisten der Lüfte. Sämtliche Regeln werden von ihnen lauthals belacht. Irgendwie fühlt man sich von ihnen immer ertappt und wenn man nebenbei noch etwas isst, hat man eh verloren. Stets wird alles nur von ihnen ausgelacht, das verunsichert auf Dauer ganz schön. 

In unserem letzten Urlaub an der Ostsee machten wir diese Erfahrung, dass man bloß nichts zu essen in den Händen halten durfte, denn sonst gab es sofort Lachmöwen-Angriffe. Der Film „Die Vögel“ von Alfred Hitchcock verdeutlicht nur ansatzweise, wie man aussieht nach einem solchen Vogelangriff, wenn man sich gerade ein Fischbrötchen gekauft hat. 

Auch Ernesto und ich wurden hinterrücks von einem Möwenschwarm überfallen, als wir uns gerade ein Fischbrötchen gekauft hatten. Hier wurde wieder mal deutlich, wie sehr die Lachmöwen durch ihren Angriff zeigten, dass sie nichts ernst nahmen. Nicht einmal eine Schildkröte mit Fischbrötchen im Maul konnte sie stoppen. Den Anblick von Menschen mit Fischbrötchen waren sie ja gewohnt, Schildkröten waren da beim Verzehr von Fischbrötchen seltener anzutreffen. 

Eine Möwe gab die Sturmspitze und griff als erste an. Die anderen bildeten sozusagen die Nachhut und hielten sich mehr im Hintergrund. Ernesto versuchte, sie zu vertreiben, indem er mit den Füßen ruderte. Aber angesichts seiner kurzen Extremitäten war das ein hoffnungsloses Unterfangen. Daraufhin gab er seinen Kampf um das Fischbrötchen auf und zog sich in seinen Panzer zurück. Manchmal muss man halt erkennen, wann es keinen Sinn mehr macht zu kämpfen. In meinem Fall konnte ich mich zwar besser den Möwenangriffen erwehren, dennoch gab ich nach kurzer Zeit – wie Ernesto – auf. Ich hätte mich auch am liebsten in einen Panzer zurückgezogen, bin dann aber doch in das nächst liegende Café geflüchtet. 

Lachmöwen und Schildkröten, das hat sich hier deutlich gezeigt, werden wohl nie Freunde werden. Dafür sind sie in ihrer Art viel zu verschieden. Mir persönlich sind Schildkröten viel lieber als Lachmöwen, weil sie in ihrer Art viel stiller und ausgeglichener sind. Außerdem kacken sie während des Fluges wahllos auf alles, was unter ihnen liegt. Wenn sie wenigstens zielen könnten, wohin sie kacken, fänd ich das ja noch witzig, aber so… . 

Unser Urlaub an der Ostsee war trotzdem sehr erholsam und schön. Fischbrötchen gab es allerdings nach dieser Erfahrung nur noch in Innenräumen mit geschlossenen Türen und Fenstern. 

Herr Müller sieht die Welt

Ernestos Youtube-Kanal 

Ernesto überlegte lang und länger, wie er sein Anliegen, die Fische zu dressieren, dem Zuschauer näherbringen konnte. Ein Youtube-Kanal schien ihm doch eher geeignet als ein Fernsehsender. Insbesondere seine Erfolge bei der Dressur des Fischschwarms sollten gezeigt werden. Die Frage, ob sich Fischschwärme mit oder gegen den Uhrzeigersinn drehten, konnte noch nicht befriedigend gezeigt werden. Also zeigte er den Weg der Dressur in mannigfaltigen, kurzen Videos. Dass ihm dabei der Laserpointer mehrfach ins Wasser fiel, war für den Betrachter zwar amüsant, aber für Ernesto eher nicht so. 

Einzelne Fische mussten für ihn bei der Dressur auf Kurs gebracht werden, da ihnen klar gemacht werden musste, dass ihre Wirkung nur als funktionierendes Gesamtbild als Schwarm ein Erfolg werden könnte. Ihre Wirkung als einzelner Fisch war eher gering. Die Gefahren, die in dieser Erkenntnis lagen, mussten den Fischen aber auch Ernesto bewusst gemacht werden. Natürlich zählte der Einzelne genau wie die Gruppe. Dennoch war ihre Wirkung nur als Gruppe zu erzielen. Die Ambivalenz des angestrebten Zieles musste ihnen deutlich werden. 

Um wieder auf harmloseren Pfaden zu wandeln: Es gab nur wenige Youtube-Kanäle, die über Fischdressur berichteten, genau genommen gar keine. Die Chance war also groß, dass Ernesto bei entsprechender Herangehensweise an die Thematik großen Erfolg damit haben würde. 

Nunja… auf den Erfolg wartet er bis heute, aber die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt. Mal schauen, wie viele Fische den Kanal besuchten. Mein Tipp war ja eher: NULL. Wenn, dann eher die Halter von Fischen, so glaubte ich. Die wenigen positiven Rückmeldungen, die Ernesto dann nach einer Weile auf Youtube doch noch bekam, freuten zunächst ihn und mich. Erst als die Rückmeldungen anfingen, nervig zu werden, hatten weder Ernesto noch ich wirklich Spaß daran. Schlaumeiereien, wie Fische zu dressieren seien, nervten. Und blöde Kommentare über einzelne Fische brauchte keiner und Ernesto schon gar nicht. 

Somit gab Ernesto nach einiger Zeit seinen Youtube-Kanal wieder auf. Fischdressur war dann Jedermanns Sache doch nicht.