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Herr Müller sieht die Welt

Brückentage 

Brückentage sind die schäumende Krönung von Feiertagen, die ja an sich schon Grund zur Freude genug sind. Frau Meier und ich machten vor solchen Tagen ein bis zwei Stunden früher Feierabend und gönnten uns ein Piccolöchen zur Feier der kommenden Tage. Brückentage auf dem Amt sind schon was Feines! 

Der frühe Feierabend auf dem Amt sorgte für viel Unmut bei den Kunden. Aber nach Erklärungen der Faktenlage war dann schnell Ruhe. Es war gar nicht so einfach, den Kunden glaubhaft zu erklären, warum die Kundenbetreuung an diesen Tagen telefonisch nicht mehr zu erreichen war. Praktisch gab es ja einen Schlüssel mit dessen Hilfe die Kunden warten mussten bis zum Anbruch der neuen Woche. Sie standen also vor verschlossenen Türen. 

Natürlich sind Brückentage für jeden Arbeitnehmer herzlich Willkommen, für mich waren sie Anlass, mit Ernesto ausgiebig zu frühstücken. Wenn die Sonne schien, nahmen wir unser Frühstück halb auf dem Balkon (Ernesto), halb in der Küche (ich) ein aufgrund meiner Höhenangst. Das machte die Kommunikation zwar etwas schwierig, aber mit Megaphon ging es. Erst die Beschwerden der angrenzenden Nachbarn ließ uns unser gemeinsames Frühstück doch vollständig in die Küche verlegen. Das Frühstück in der Küche war sowieso viel heimeliger an unserem Küchentisch. An solchen Tagen mochten wir beide das englische „full breakfast“ am liebsten, mit gebackenen Bohnen, Spiegelei mit Speck, gebratener Tomate und natürlich gebuttertem Toast. Das kleine Piccolöchen, das ich mir vorher mit Frau Meier auf dem Amt gegönnt hatte, bekam jetzt eine angemessene Grundlage. 

Ernesto genoss die Tage meiner frühen Heimkehr vom Amt. Die Tatsache, dass dann immer ein schönes Frühstück anstand, war für ihn umso erquicklicher, da er gebratene Tomate über alles liebte. Er genoss die Tatsache, dass ich ganz viel Zeit für ihn und unsere Unternehmungen hatte. Diese wurden schon Tage im Voraus von uns geplant. In der Stadt sollte es ein neues Café geben mit Waffeln im Angebot. Dieses wollte Ernesto am letzten Himmelfahrts-Wochenende unbedingt ausprobieren und auch ich war neugierig. Wir wurden beide nicht enttäuscht. Die angebotenen Waffeln mit Fruchtsalat, Eis und Topping waren sehr lecker und die Teller zusätzlich mit unseren Namen aus Schokoladensoße verziert. So wurde unser Ausflug ein voller Erfolg und wir zogen überglücklich von dannen. 

Die Tatsache, dass Brückentage überhaupt nichts mit Brücken zu tun haben, konnten wir gut verwinden. 

Herr Müller sieht die Welt

Türklinken 

Türklinken sollen einem ja beim Öffnen der Tür behilflich sein. Ernesto versuchte 5-15 Mal erfolglos die Türen mit Hilfe der Türklinken in unserer Wohnung zu öffnen, stellte dann aber schnell fest, dass die Türklinken in einer für ihn unpassenden Höhe angebracht waren. 

Da kam mir die Idee, dass doch elektrische Schiebetüren, betrieben vom Solarmodul an seinem Fenster, in Verbindung mit einem Bewegungsmelder die Türen für Ernesto öffnen konnten. Ich hatte bei meinen Überlegungen jedoch vergessen, dass die besagten Schiebetüren sich auch wieder automatisch schlossen, was für Ernesto eine Gefahr bedeutete. Also musste das Schließen der Türen so langsam wie möglich bzw. in Intervallen gestaltet werden. Leider konnte trotzdem nicht verhindert werden, dass Ernesto mehrfach von den Schiebetüren eingeklemmt wurde. Dies bot schon ein lustiges Bild – eine Schildkröte so hochkant zwischen zwei Schiebetüren eingeklemmt zu sehen. Gott sei Dank war er ja durch seinen Panzer vor größeren Verletzungen geschützt. 

Der Abbau der Türklinken und der Einbau der Schiebetüren setzte natürlich einen kompletten Umbau der Türzargen voraus. Bald sah unsere gesamte Wohnung aus wie eine Bankfiliale. Es fehlten nur Schalter mit den freundlichen Damen dahinter. Gott sei Dank kam nicht zufällig jemand vorbei und wollte ein Konto eröffnen. Ernestos Problem mit den Türklinken in unserer Wohnung war somit nun erledigt. Allerdings bestand noch die Haustür als letzte Hürde auf dem Weg zur größtmöglichen Selbstständigkeit für Ernesto. 

Mittels einer Chipkarte wie in Hotels, war die Tür nur von Befugten zu öffnen. Die mangelnde Höhe von Ernesto musste leider jedes Mal von mir überwunden werden, sprich ich musste jedes Mal mit der passenden Karte die Tür für ihn öffnen. Der Versuch, Ernesto mit der Karte und unserem Trampolin auf die geeignete Höhe zu bringen, wurde nach kurzer Zeit wieder eingestellt, weil Ernesto zwar auf diesem Wege sämtliche Blumentöpfe im Treppenhaus kennenlernen durfte, aber die Tür leider trotzdem zu blieb, da er es im Flug nicht schaffte, die Karte in den entsprechenden Schlitz einzustecken. 

Wir mussten also feststellen, dass es leider nur die Alternative für ihn gab, mit dem Handy Bescheid zu geben, wenn er ins Haus wollte oder heraus. So leid es mir tat, aber wir fanden keine andere Lösung. 

So harmlos Türklinken für uns auch erscheinen mögen, können sie doch für manch einen eine unüberbrückbare Barriere darstellen. Auch hier kommt es auf die Perspektive an. 

Herr Müller sieht die Welt

Modelleisenbahn 

Meine Modelleisenbahn fristete im Keller ein einsames Leben. Hoch erfreut war Ernesto, als er diese zufällig entdeckte. Ein bisschen sah es aus wie bei Godzilla, als er sich zwischen den Figuren und den Häusern auf der Modelleisenbahn bewegte. Völlig gefesselt von seiner neuen Perspektive betrachtete er die Welt nun aus dieser für ihn ungewohnten Warte. Aber Godzilla war seine Sache nicht, nach einem Tag in der neuen Perspektive entschloss er sich doch, wieder die Steuerung vom Trafo aus zu übernehmen und die Modelleisenbahn aus dieser Position zu betrachten. 

Eigentlich könnte die Geschichte hier zu Ende sein. Aber nein, nein, es wäre ja nicht Ernesto, wenn es so einfach wäre. Die Dunkelheit in den Tunneln hatte es ihm angetan. Nicht dass er jetzt in der Dunkelheit Zugunglücke veranstalten wollte, aber er nutzte die Dunkelheit in den Tunneln, um sich und anderes darin zu verstecken. Zur großen Überraschung der Umstehenden kamen Züge verkleidet aus den Tunneln gefahren. Ein schlichtes Abendkleid war da nicht genug. Passend zum Alpenpanorama der Bahn wurde der Zug zum Beispiel in Lederhose mit Gamsbart verkleidet. 

Die Dunkelheit der Tunnel veranlasste Ernesto zu immer waghalsigeren Unternehmungen. Der Überraschungseffekt, wenn sie aus dem Tunnel kamen, sorgte am Bahnübergang regelmäßig für Kollisionen von die Gleise überquerenden Fahrzeugen und Zügen. Ernesto hatte große Freude an diesen Zugunglücken, diese war aber nicht von langer Dauer. Ihn holte doch recht schnell das schlechte Gewissen bzw. das Mitgefühl ein von all den Opfern der Zugunglücke. Von daher blieb seine Begeisterung noch im Rahmen. Aber trotzdem ließ er es sich nicht nehmen, hin und wieder einen Zug kollidieren zu lassen. Es sah zugegebener Maßen auch recht lustig aus, wenn ein verkleideter Zug mit einem PKW kollidierte. 

Auch nutzte Ernesto die Dunkelheit der Tunnel als Verstecke für illegale Substanzen. Aber die Beschränktheit der Eisenbahn auf die Plattengröße begrenzte einen Handel im großen Stil. Bei den illegalen Substanzen beschränkte er sich irgendwann dann auf deren Einnahme, anstatt mit ihnen zu handeln, da die Dealerei ihm dann auch überflüssig erschien, weil die Substanzen ja im Zuge einer Offensive der Bundesregierung jetzt legal wurden. Er beschränkte sich jetzt darauf, während des Eisenbahnspiels ordentlich einen durchzuziehen, statt sie in Eisenbahntunneln zu verstecken. Ich nahm diese Einsicht wohlwollend zur Kenntnis. Man konnte auch high Eisenbahnfahren, wer wollte da schon fliegen. 

Kopfwürmer

Vollkasko – Teilkasko 

Häufig ist man ja vom Wunsch erfüllt, dass alles im Leben abgesichert sein könnte. Aber relativ schnell muss man leider feststellen, dass dem nicht so ist. Beseelt vom Wunsch nach vollumfänglicher Absicherung ist wohl jeder Mensch. Fraglich ist dann, wie man mit der Enttäuschung umgeht, dass diese eigentlich nicht möglich ist. Permanentes Verdrängen kann wohl helfen, aber nur kurzzeitig. Wie eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit dieser Thematik aussehen könnte, weiß ich auch nicht. 

Jedenfalls ist mir klar oder müsste jedem klar sein, dass eine 100%ige Absicherung gegen die Risiken des Lebens eigentlich nicht möglich ist, sondern nur der Umgang damit – also die Auseinandersetzung mit dem Leben als solches – für den Einzelnen von Belang ist. 

Der Spruch „No risk, no fun“ ist leicht gesagt, wenn die Risiken relativ überschaubar sind. Gleichzeitig setzt er aber diejenigen zurück, die Risiken oder Krankheiten haben, sie hätten keinen „fun“, weil die Risikobereitschaft dieser Leute nunmal zwangsläufig geringer ist. Zwangsläufig nimmt meiner einer das Leben bewusster wahr. Das schließt jedoch nicht aus, dass man Spaß am Leben haben kann. 

Für die Wagemutigen unter uns sei die Form der Teilkasko-Versicherung empfohlen. Alles mit einem Restrisiko zu behaften, ist jedermanns Sache nicht. Aber wer es mag… 

Dass scheinbar alle Risiken von uns versichert werden müssen, ist auf der einen Seite unserer Bequemlichkeit geschuldet, aber auch dem Wunsch nach Absolutheit und dem Wunsch nach absoluten Zuständen. 

Letztlich komme ich und kommt auch man zu dem Schluss, dass es wohl eine 100%ige Absicherung, wenn auch gewünscht, nicht geben kann. Bleibt nur die Einsicht in den Umgang mit dem Restrisiko. Das Restrisiko ist häufig in der eigenen Psyche begründet, also muss man sie mehr stärken, um sie gegen das Restrisiko zu mobilisieren. Die Immunisierung kann dann eigentlich nur durch stetig wiederkehrende Highlights im persönlichen Leben erfolgen. Worin diese Highlights bestehen, ist dann jedem selbst überlassen. Eine Voll- oder Teilkasko für das Leben kann also nur darin bestehen, sich persönlich stark genug zu machen, um den Wirren des Lebens zu trotzen. 

Man könnte das auch wie folgt zusammenfassen: Jeder ist seines Glückes Schmied, aber nicht jeder Schmied hat Glück. In diesem Sinne: Viel Glück 

Kowalski lebt

Telefonzelle 

Stunden-, ja, tagelang liefen wir durch die leeren Straßen unserer Stadt. Als plötzlich Waltraut innehielt, mich durchdringend ansah und fragte, ob mir aufgefallen sei, dass es gar keine Telefonzellen mehr gebe. Im Zuge der allgemeinen Diskussion um die Geschlechterzugehörigkeit hatte sie nämlich beschlossen, jetzt immer bei jeder Möglichkeit ihr Bein zu heben, um sich zu erleichtern. Da waren Telefonzellen natürlich gerne genommen, da nur Laternenmasten und Bäume ihr zu wenig waren. 

Nicht nur Telefonzellen sind im Zuge der Zeit verschwunden. Raider heißt jetzt Twix, da musste ich mich erstmal dran gewöhnen, aß ich doch diese Köstlichkeit gern mal zwischendurch. Auch das Kassettendeck in meinem Auto konnte nicht mehr mit neuem Inhalt gefüttert werden. 

Der sehr berühmte Bruder von Waltraut, der Wackeldackel, verschwand sang- und klanglos – war er doch in vielen deutschen Kraftfahrzeugen, so auch auf meiner Hutablage, anzutreffen. Das waren einschneidende Momente des Daseins für mich, erforderten sie doch den Umgang mit einer neuen Situation. Gewohnte Pfade mussten verlassen werden, neue beschritten, was mir zugegeben sehr schwerfiel. Das beruhigende, ja fast schon psychedelische, Nicken des Dackels auf meiner Hutablage konnte jetzt nicht mehr so ohne Weiteres ersetzt werden. Der Wackeldackel hatte seine besten Tage hinter sich, es gab keinen Ersatz mehr. Unser musste also gut gepflegt werden, damit er noch eine Weile durchhielt. Die Hutablage als sein Zuhause sah ja außer Klorollen und ihm nicht viel. 

Auch der von mir für die Hausgemeinschaft eingerichtete Partykeller fristete ein einsames Dasein und wurde als Fahrradkeller missbraucht. Was für herrliche Partys wurden hier früher von der Hausgemeinschaft gefeiert! Zu nahezu jedem Geburtstag, zu allen Feiertagen und zu Karneval wurde diese Räumlichkeit aufgesucht. Heute ist sie leider stark in Vergessenheit geraten. Mein Versuch, diese schöne Räumlichkeit zu reaktivieren, wurde von der Hausgemeinschaft nur teilweise aufgenommen. Meiner Einladung kamen nur wenige Mitbewohner nach. Die Zahl der Gäste war sehr überschaubar. Die Ausreden der anderen gingen von „was anderes vorhaben“ bis „gebrochener Fuß“. Hoffentlich sind andere Renaissancen vergangener Tage erfolgreicher. Schade eigentlich, dass ein Miteinander in der Hausgemeinschaft oft nicht mehr gewollt ist… 

Ach, wären doch alle Menschen wie Waltraut! 

Herr Müller sieht die Welt

Photosynthese 

Eines Tages sprach mich Ernesto an, wie denn bitte schön Pflanzen wachsen würden. Von Tieren kannte er das ja – sie benötigten Futter und Wasser – aber wie Pflanzen wuchsen, war ihm relativ neu. Auch dass sie Sonnenlicht und Kohlenmonoxid brauchten und dabei Sauerstoff produzierten, war ihm unbekannt. Seine Schlussfolgerung, dass es also demzufolge sehr gut sei, wenn immer mehr Kohlenmonoxid in der Erdatmosphäre vorhanden sei, war leider ein Trugschluss, wie ich ihm erklärte. Dieses führte dazu, dass bestimmte atmosphärische Zyklen ihre Kraft und Bedeutung verloren, erklärte ich ihm weiter. Er verstand nix. Erwartungsschwanger sah er mich an, aber besser konnte ich es ihm auch nicht erklären. 

Also beschloss Ernesto, einen Brief an die UNO zu schreiben, in dem er Klarheit forderte. Klimaschutzabkommen wurden alle Jubeljahre neu gemacht, aber kein Mensch und keine Schildkröte verstanden mehr warum. Genau das wollte er aber wieder verstehen. Sich vor eine Botschaft zu setzen, war ihm dann doch zu zugig. Ihm waren geschlossene Räume behaglicher. „Photosynthese sollte wieder für alle Pflanzen uneingeschränkt möglich sein“, so weiter seine Forderung in seinem Schreiben an die UNO. Die Gefahren von Photosynthese waren ja relativ überschaubar und so musste die UNO ihm doch zustimmen, zumal seine Forderung doch sehr basal war. Zumindest fand er dies. Ich bereitete mich darauf vor, Ernesto gegebenenfalls bei nicht passender oder gar keiner Antwort wieder aufzubauen. 

Täglich wartete Ernesto nun auf Antwort von der UNO. Als nach Tagen und Wochen nichts kam, musste er doch von mir aufgebaut werden. So gingen wir in sein Lieblingsrestaurant. Als wir beim Essen den Kellnern von Ernestos Schreiben erzählten und berichteten, dass keinerlei Antwort kam, sagten sie zu unserem Erstaunen, dass António Guterres (Generalsekretär der UNO) gerade an unserem Nachbartisch gesessen habe und sie ihm das nächste Mal von Ernestos Anliegen berichten würden. Sie waren sehr zuversichtlich, dass sich zukünftig einiges ändern würde. 

Erfüllt von dem Ausblick auf Erfüllung seiner Wünsche begaben wir uns auf den Heimweg. António Guterres hat sich leider nie gemeldet, aber so wurde auch Ernesto die häufig unterschätzte Bedeutung von Photosynthese klar und er beschloss, wieder häufiger Tomate, Gurke und Salat zu essen. Nie hätte er gedacht, dass Tomate, Gurke und Salat für das Weltklima von so entscheidender Bedeutung sind. 

Herr Müller sieht die Welt

Oben 

Neulich wollte Ernesto im Supermarkt – ohne darüber nachzudenken – in das oberste Regal greifen. Dabei lernte Ernesto gleich das Gegenteil von „oben“ kennen, indem er nach „unten“ fiel. Oben ist das genaue Gegenteil von unten, was uns durch die Schwerkraft vorgegeben ist, denn Dinge fallen immer nach unten. Dieser räumliche, binäre Code lässt uns glauben, dass wir nur in zwei Dimensionen lebten. Aber nein, nein, es sind tatsächlich mehr. Es sind tatsächlich vier oder so, auf jeden Fall mehr. 

Oben lässt sich ja leicht mit dem Besten assoziieren, andererseits schwimmt Scheiße ja aber auch immer oben. Was nun davon gerade von Bedeutung ist, sollte jeder für sich selbst entscheiden. Dies sei hier nur mal angemerkt. 

Eine Orientierung nach oben ist vermeintlich erstmal die beste Wahl. Erst im Laufe der Zeit merkt man, dass die wahre Größe im Mittelmaß liegt, denn die Mitte wird oft unterschätzt. 

Das Mittelmaß war für Ernesto von besonderer Bedeutung und besonderem Interesse. Seine Leistungen waren in vielen Dingen auch nur mittelmäßig, zum Beispiel konnte er ja nur bedingt schnell rennen. Auch schweres Heben war nicht unbedingt seins. Deswegen ging Ernesto gerne zur Rennbahn, weil er es faszinierend fand, wie dort die Pferde so schnell laufen konnten, ohne doch ein vermeintliches Ziel zu haben. Für ihn wäre das Laufen in hoher Geschwindigkeit über so weite Strecken schon eine enorme Leistung. Pferde waren nunmal viel größer. Wäre eine Schildkröte dieselbe Strecke genauso schnell wie die Trabrennpferde gelaufen, könnte man problemlos von einem Wunder sprechen. Da dies aber nicht der Fall war, blieb Ernesto nichts anderes übrig als Geld auf die Pferde zu setzen, anstatt selbst mitzulaufen. Außerdem war es kaum vorstellbar, dass es jemals Trabrennhelme für Schildkröten geben würde. Oben war für Ernesto demnach in vielen Dingen schwer zu erreichen. 

Die Relativität von dem, das oben ist, wird hier hoffentlich jedem deutlich. Ein Streben nach oben oder dem Besten macht ja nur begrenzt Sinn, da mit dem Streben nach dem Besten auch immer die Einsicht verbunden sein sollte, was auch immer für das Individuum das Beste ist. Das bloße Streben nach dem vermeintlich Besten oder gar dem materiellen Wert macht eigentlich keinen Sinn, weil es immer jemanden gibt, der mehr hat, mehr ist, mehr kann. Das Individuum ist also der Maßstab für alles Handeln. 

In Bezug auf Ernesto: Ernesto war zufrieden mit dem, was er hatte und konnte. Ein „Höher, Schneller, Weiter“ war für ihn nicht von Bedeutung. Da sollten wir uns alle eine „Scheibe von abschneiden“. 

Herr Müller sieht die Welt

Hochbett 

Tage-, wochen- und monatelang lag Ernesto mir in den Ohren: Er wollte jetzt unbedingt ein Hochbett haben, weil das sei nun der heißeste Scheiß, den man unbedingt haben müsse. 

Ich tat wie mir geheißen und versuchte, für Ernesto ein Hochbett zu bauen. Schnell stellte ich dabei fest, dass Schildkröten ja keine Leiter hochgehen können, was sie aber müssten, um ins Bett zu kommen. Also überlegte ich mir, dass doch ein Lift, angetrieben durch Solarzellen, die draußen am Fenster angebracht werden, das Problem lösen könnte. So konnte Ernesto ganz entspannt ins Bett „marschieren“. Ein bisschen verleitete es Ernesto dazu, Harakiri zu machen, weil er auf der bettabgewandten Seite aus dem Fahrstuhl sprang, um auf den Matratzen und Kissen weich zu landen, welche er vorher daruntergelegt hatte. Die Benutzung des Fahrstuhls schien ihm große Freude zu bereiten. Oft drückte er die Notklingel, weil er häufiger stecken blieb. 

Seine Idee, die Nachbarschildkröten zur gemeinsamen Fahrstuhlfahrt einzuladen, fand großen Anklang bei ihm und Ernie und Bert. Auch das Springen aus dem Fahrstuhl war von Ernie und Bert hochgeschätzt. Und so vergnügten sich die Schildkröten mit dem neuen Hochbett. Der Sprung aus dem Lift war für alle 3 eine große Überwindung, weil ihnen der natürliche Schutz, von dem sie sonst ja permanent umgeben waren, gar nicht mehr helfen konnte (ihr Panzer). So kam der Sprung einem Extremsport gleich, der jedes Mal wieder große Überwindung kostete. Ich für meinen Teil machte mir eine Menge Sorgen, aber nachdem ich sah, wieviel Spaß sie hatten bei dem Sturz aus dem Fahrstuhl, ließ ich sie gewähren. Ich beschloss für mich, Extremsportarten wären meine Sache nicht. Zum einen bin ich zu alt dafür und zum anderen musste ich auch niemandem mehr noch irgendetwas beweisen, meine Jugend schon mal gar nicht. 

Also blieb ich bei meinem Hobby: Briefmarken sammeln. Da konnte höchstens eine Windböe bei geöffnetem Fenster meine Arbeit von Stunden dahinraffen. Das war mir Risiko genug. Während Ernesto und Ernie und Bert sich an immer waghalsigeren Sprüngen versuchten, vom einfachen Salto bis zur eingedrehten Schraube, war ich nur froh, wenn alle 3 danach wieder heile am Küchentisch saßen. Die Idee, die Sprünge mit Haltungsnoten zu bewerten, kam von den Dreien und so bewerteten sie sich und ihre Sprünge. Ein Versicherungsmakler hätte seine helle Freude gehabt. 

Schlafen im Hochbett birgt immer ein gewissen Risiko. 

Kowalski lebt

Bohrmaschine 

Waltraut brauchte unbedingt ein Regal zur Unterbringung ihrer angesammelten Habseligkeiten. Um selbiges anbringen zu können, musste ich dann wohl oder übel mit der Bohrmaschine hantieren, da Waltraut nicht bohren konnte. Gesagt, getan, griff ich zur Bohrmaschine, stellte aber schnell fest, dass nicht jeder Elektriker die Leitungen senkrecht verlegte, sondern diese auch schräg in den Putz gelegt wurden. Wie zum Beweis bohrte ich eine Leitung an. Da erinnerte ich mich Gott sei Dank an einen Trick, den mir schon mein Großvater gezeigt hatte: Gekautes Kaugummi in das Bohrloch stopfen, um die Isolation der Leitung wiederherzustellen. Nun konnte die Anbringung des Regals weiter vonstattengehen. Nicht bloß einfache Bücher fanden auf dem Regal von Waltraut Platz, sondern auch jegliche Art von „Stehrumchen“, man könnte auch sagen „Staubfänger“, aber so boshaft war hier ja keiner. 

Das Regal musste also einiges aushalten und stabil in der Wand befestigt sein. Die Bohrlöcher mussten durch starke Dübel fixiert werden, um dies zu gewährleisten. Die Frage nach der Belastbarkeit von Waltrauts Regal war hier eine entscheidende. Es musste also der Nutzerin sowohl für eine vertikale Belastung als auch für eine horizontale genug Sicherheit bieten. Die horizontale Belastung konnte schnell getestet werden, indem wir viele Bücher nebeneinander aufstellten. Das Regal hielt! Schwieriger war das Testen der vertikalen Belastungsfähigkeit. Waltraut schlug vor, die vertikale Zugfähigkeit durch Umlenkrollen auszutesten. Nur damit Sie sich das vorstellen können: Über Umlenkrollen zogen Gewichte nach unten. Ich kann nur sagen: Das Regal bot auch in diesem Fall die nötige Sicherheit. Stolz über unser Tagwerk, belohnten Waltraut und ich uns mit reichlich Abendessen. 

Im Gegensatz zu meinen Mitmietern hielt ich mich ganz genau an die Zeiten, in denen gebohrt werden durfte. Sinnfreies Bohren war schon durch das Vorhaben ausgeschlossen. Wie nervenzehrend sinnfreies Bohren sein kann, kennt wohl jeder, der mal erlebt hat, wie es ist, wenn der Nachbar seine Liebe zur Bohrmaschine entdeckt. Der Trick, den mir Bekannte mal verrieten, nämlich bei den Nachbarn zu klingeln, um sich höflich ihre Bohrmaschine auszuleihen – wenn diese zu den unmöglichsten Zeiten bohrten – half nur bedingt bzw. irgendwann gar nicht mehr, weil mein Nervenkostüm doch zu sehr gereizt war und ich nicht mehr ausgeglichen wirken konnte. Auch Waltraut konnte dem Krach von Bohrern in der Wand nichts abgewinnen, schon gar nicht zu unchristlichen Zeiten. 

Ach wären doch alle Menschen wie Waltraut! 

Herr Müller sieht die Welt

Die Sandburg 

Nach den Erfahrungen am Steinhuder Meer fuhren wir dann – wie schon gesagt – an die Ostsee. Die Auswahl der ortsansässigen Beach Bars war hier tatsächlich größer als am Steinhuder Meer. Unser Ostsee-Urlaub bot eine Vielzahl von Möglichkeiten, sich zu beschäftigen. Nachdem wir unser Können im Minigolfen unter Beweis gestellt hatten, wollten wir jetzt unsere Fähigkeiten und Fertigkeiten im Bauen von Sandburgen verbessern. 

Unsere Sandburg sollte ohne weiteres Equipment wie Gitter und Gatter auskommen. Falltüren und Zugbrücken sollten in unserer Sandburg noch nicht vorkommen. Sie sollte mehr der basale Typ der Sandburg werden. Wir brauchten erstmal die Grundform und übergossen diese dann zum besseren Aushärten mit Meereswasser. Weil unsere Stile ja bekanntlich sehr verschieden waren, beschlossen wir, zunächst eine Grundform herzustellen und diese dann gegebenenfalls weiter auszubauen. Es würde also zwei Sandburgen geben, eine im Stile von Ernesto und eine im Stile von mir. 

Wir trennten die beiden Burgen durch einen tiefen Graben voneinander. Da uns eine Mauer oder ein Wall doch zu sehr an die innerdeutsche Staatsgrenze erinnerte, schien uns ein tiefer Graben doch passender als Trennungszeichen der beiden Burgen. 

Wie schon die Einrichtung der Zimmer von Ernesto in unserer Wohnung zu befürchten ließ, verlor sich Ernesto allzu sehr in der Verspieltheit der Dinge. Die gerade Kante war dann eher meine Sache. Klare Strukturen und Formen kennzeichneten meine Burg. Schließlich konnte ich Ernesto am Ende noch dazu überreden, beide Burgen mit einer Brücke zu verbinden, um dem Betrachter wenigstens ein kleines Signal der Verbundenheit zu senden. 

Das Kleinklein von Ernesto zeigte sich bereits in der Ausformung der Burgzinnen. Diese waren bei Ernestos Burg kleinen Statuetten ähnlich, somit auch eher zeitaufwändig in ihrer Herstellung. Der von Ernesto gewünschte Effekt stellte sich dennoch bei ihm nicht ein, sodass Ernesto dazu überging, diese doch in herkömmlicher Art und Weise zu gestalten. Die herkömmliche Art der Burgzinnen war dann auch die von Ernesto präferierte Art der Gestaltung. 

Abschließend schossen wir noch eine Reihe von Selfies mit unseren Burgen, um dann dabei zuzusehen, wie die Burgen vom ansteigenden Wasser eingenommen wurden. Wenn auch die Gezeiten an der Ostsee eher schwach waren, so reichte es dennoch für das Dahinraffen unserer harten Arbeit. 

Es zeigte sich wieder einmal die Vergänglichkeit alles Irdischen.