
Schnecken
Völlig außer Atem vor Aufregung erzählte Ernesto mir eines Tages begeistert davon, dass er nicht das langsamste Tier im Tierreich sei. Er habe jetzt Schnecken entdeckt und die seien viiieeel langsamer als Schildkröten. Außerdem berichtete er, dass sie immer so eine Schleimspur hinterlassen würden, die fand Ernesto ziemlich eklig. Sein Versuch, mal eine Schnecke zu einem Wettrennen herauszufordern, blieb bisher unbeantwortet, aber vielleicht findet sich ja noch ein Gegner.
Den Witz mit der Schnecke auf der Schildkröte, die sich zum Ausruf „Hui!“ hinreißen lässt, fand Ernest gar nicht witzig, wo wir bei der Relativität von Geschwindigkeit wären. Was für Schnecken normale Geschwindigkeit ist, ist für Schildkröten wirklich langsam. Also fragt sich dann, wie schnell die Geschwindigkeit von Menschen für Schildkröten und Schnecken wirken musste.
Das Sprichwort In der Ruhe liegt die Kraft konnte Ernesto nur bedingt unterschreiben, da er schon ein eher langsamer Zeitgenosse war. Das Sprichwort macht ja nur dann Sinn, wenn man die Wahl hat, ob etwas schnell oder langsam geht. Und das mit dem Schleim: Darauf konnte er getrost verzichten. Das wurde ja auch im Sprichwort nicht erwähnt.
Trotzdem ließ es mich als Angehörigen der schnelleren Spezies mal darüber nachdenken, dass Schnelligkeit nicht das Gebot der Stunde sein kann und auch gar nicht sein sollte. Was mir gar nicht bewusst war: Mit Schnelligkeit schließt man von der Beteiligung einige Menschen aus. Zum einen wird Schnelligkeit häufig als Hektik interpretiert, zum anderen können eben viele Menschen nicht mehr so schnell reagieren wie gefordert. Das heißt aber nicht, dass sie nicht mental teilnehmen oder den Gedanken nicht nachvollziehen können. Ernesto war ja der Ansicht, es sei besser, Dinge mit Bedacht anzugehen. Das hieß nicht, sie langsamer zu erledigen, sondern stets über das zu Tuende nachzudenken, um dann zu einer wohl durchdachten Tat zu schreiten.
Mir fiel zu dem Wettrennen zwischen Schildkröte und Schnecke noch die berühmte Parabel vom Wettrennen zwischen Hase und Igel ein. Um Ernesto ein ähnliches Schicksal zu ersparen wie dem Hasen in der Parabel, schlug ich ihm vor, sich niemals auf ein Rennen mit einer Schnecke einzulassen, da diese in unseren Breiten im Zweifelsfall über mehr Artgenossen verfügte als Schildkröten. Natürlich hörte Ernesto nicht auf mich und nahm ein Rennen mit einer Schnecke an. Mit Stirnband bewaffnet erwartete er den Tag des großen Rennens. Meine Aufgabe war es, ihn während des Rennens mit ausreichend Flüssigkeit zu versorgen. Als Rennstrecke war unser Hinterhof ausgewählt worden. Entgegen meiner Befürchtung gewann Ernesto das Rennen, wenn auch nur knapp. Zur Belohnung gab es von mir dann diesmal ein Siegeressen.
Auch wenn Ernesto gewann, Schnelligkeit ist dennoch oft nicht das anzustrebende Ziel, sondern die Qualität und die Absicht der Handlung sind entscheidend.