Rolltreppen  Herr Müller sieht die Welt

Rolltreppen 

Tiere und Rolltreppen sind ja eigentlich keine Freunde, insbesondere Hunde mögen sie gar nicht. Für Ernesto waren Rolltreppen kein Problem, weil er in meiner Hemdtasche mitfuhr. Nach wie vor waren sie für ihn ein Faszinosum. Er liebte es, mit ihrer Hilfe Stockwerke zu überwinden und konnte damit stundenlang beschäftigt werden. Nur mir war es dann irgendwann zu viel. Gott sei Dank gab es in vielen Kaufhäusern die Möglichkeit der Einkehr in ein Restaurant, um mal Pause zu machen. 

Nachdem wir stundenlang Rolltreppe gefahren waren, kam Ernesto die Idee, dass er diese jetzt nicht mehr in der Hemdtasche bewältigen wollte, sondern auf dem Handlauf mitfuhr. Der Thrill war so für ihn viel größer und sein Motto „No risk, no fun“ kam wieder voll zum Tragen. Besorgt um seine Gesundheit war mir natürlich daran gelegen, für seine Sicherheit zu sorgen, also zu garantieren, dass er nicht runterfiel. Festkleben war aber keine Option, dann hätte er ja mit in die Untiefen der Rolltreppe fahren müssen. Also musste ich immer ein aufmerksames Auge auf ihn richten und durch mein beherztes Eingreifen dafür sorgen, dass er auf dem Handlauf blieb, wenn er drohte hinunterzufallen. Vor allem entgegen kommende Passagiere der Rolltreppe waren immer höchst angetan, sobald sie Ernesto erblickten. 

Der Sinn und Zweck von Rolltreppen wurde mir eins ums andere Mal bewusster. Die momentane Unendlichkeit des Seins wurde mir klar. Nur in ihrer räumlichen Begrenztheit schien die Rolltreppe von ihrer Natur her statisch zu sein. Durch das permanente Verschwinden der Treppen geriet die Treppe als solche an sich in den Hintergrund, viel mehr der Weg war das Ziel. Das Sein war auf den Aspekt der Treppenstufe reduziert. Da diese aber stetig verschwand, blieb nur das Erleben auf dem Handlauf. Die Unendlichkeit des Seins war in der steten Wiederholung ein und derselben Situation begründet. Die Treppenstufe als vermeintliches Hindernis wurde als Problem eingeebnet. Der Handlauf war permanent plan. 

Für Ernesto geriet der Sinn und Zweck von Rolltreppen – nämlich Stockwerke zu überwinden – bei der Fahrt in den Hintergrund. Meine philosophischen Betrachtungen konnte er nicht nachvollziehen. Letztlich war ausschlaggebend, dass der Weg als Ernestos vermeintliches Ziel bewältigt werden konnte. Mit einem Aufzug wäre das zwar auch erreicht worden, aber mit nur halb so viel Spaß wie auf der Rolltreppe. 

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