Alter 

„Alter, haste das gesehen?“ platzte es aus Ernesto heraus, als er ein Fahrrad gesehen hatte, das an einer Hauswand gelehnt war. Dieses verfügte nämlich über einen Riemenantrieb statt einer Kette. Viele Kraftfahrzeug-Besitzer werden das kennen, da Autos Steuerketten oder Keilriemen haben. Verblüfft über Ernestos Ausdrucksweise, zeigte ich mich dennoch offen für das angesprochene Thema. Die meisten Fahrräder werden ja über Ketten angetrieben, so auch unser Liegerad, von daher war der Antrieb über einen Riemen schon sehr außergewöhnlich. 

Wie schon geschildert, ist Zeit für Schildkröten eher relativ als minutiös. Daher ist auch ihr Alter eher durch Zeiträume geprägt als an Jahren oder Monaten festgemacht. Ernesto war also gemessen in Zeiträumen vielleicht jünger, als er tatsächlich war. Die Frage, wer von uns beiden der Ältere war, war also nicht so leicht festzustellen. Aber da es auch keine Rolle spielte, war es mir relativ schnurz. 

Interessanter fand ich da den Gedanken, dass man sich oft von den ersten Erwartungen täuschen lässt und erst auf den zweiten Blick erkennt, was dahintersteckt, sei es beim Antrieb des Fahrrads (Zahnriemen oder Kette) oder beim ersten Eindruck von Lebewesen. Häufig genug lässt man sich vom ersten Eindruck blenden. Auch der zweite Blick sollte einer genauen Überprüfung seinerseits, also des Betrachters, standhalten. Das erfordert natürlich vom Betrachter und vom Betrachteten zweierlei Dinge: zum einen, dass man erkennt, was man da betrachtet und zum anderen als Beobachteter, dass man weiß, dass man beobachtet wird und nicht versucht zu täuschen, also mehr zu scheinen als zu sein. 

Häufig genug lassen sich viele Menschen von dem Spruch: „You never get a second chance to make a first impression“ leiten, jedoch soll das nicht davon abhalten, immer mal wieder sein Bild zu hinterfragen. Wenn man dann feststellt, dass Selbstbild und Fremdbild (sofern man das zulässt) sehr stark divergieren, sollte man sich gelegentlich mal fragen, warum und nötigenfalls anpassen. Wenn man nur dazu neigt, Menschen der Einfachheit halber in Schubladen zu stecken, dann sollte einem dieses durchaus bewusst sein. Vorurteile können ja auch durchaus nützlich sein, müssen aber stets hinterfragt werden, weil ihre vorsortierende Wirkung schnell dazu führen kann, dass Meinungen nicht mehr überprüft werden und als gegeben hingenommen werden. 

Also deshalb Vorsicht bei jugendlich wirkenden Schildkröten! 

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