Herr Müller sieht die Welt

Krawatten 

Krawatten sind ja bekanntlich Ausdruck kultureller Förmlichkeit. Von vielen werden sie auch als Kulturstrick bezeichnet. Die Meinungen zu Krawatten sind häufig vielfältig. 

Ich glaubte es nicht, aber Ernesto wollte jetzt tatsächlich mit mir diskutieren, ob Krawatten Ausdruck kultureller Identität sind oder nicht, bloß weil er als Schildkröte selten mal Krawatten trug, weil er ständig drauftrat. Von ihm waren eher Fliegen bevorzugt. Der Anlass der Diskussion war die Jubiläumsfeier von Frau Meier aus B106, die uns zu ihren Festigkeiten einlud. Ernesto fragte mich schon seit Tagen, welcher Dresscode da angesagt wäre. Wir entschieden uns für eine förmliche Variante. Da er – wie gesagt – Krawatten nicht so gerne trug, entschied er sich für eine Fliege und ich legte aus Solidarität ebenfalls eine solche an. 

Nachdem wir die Frage der passenden Bekleidung hinlänglich geklärt hatten, widmeten wir uns wieder unserem Alltag, da wir in der Frage des Abendbrots noch uneinig waren. So merkte Ernesto an, dass wir doch mal das breite Gemüseangebot von dem Gemüsehändler Herrn Ylmaz ausprobieren konnten, um unseren Abendbrottisch reichhaltiger und abwechslungsreicher zu decken. Ernesto hatte nämlich durch seinen Job als Kundenberater bei Herrn Ylmaz bemerkt, wie vielfältig das Gemüseangebot war. Außerdem gingen wir von nun an dazu über, das Gemüse immer mit Dips zu essen. Und so erweiterte sich die Palette des von uns gern gegessenen Gemüses um ein Vielfaches. Die Tage von Tomate und Salat waren nun endgültig gezählt. Es lebe die Karotte, die Paprika, der Kohlrabi mit Kräuterquark! 

Ein häufig unterschätztes Gemüse ist der Broccoli, der in vielen Varianten (gekocht, angebraten oder überbacken) ein gesundes und abwechslungsreiches Essen darstellt – auch gerade in Kombination mit Fleischbeilage schmeckt er sehr gut. Ähnlich wie die Krawatten so ist auch der Broccoli oft in Kombination erst etwas Besonderes. Eine bloße Krawatte macht ja auch ohne Hemd und Sakko keinen Sinn, es sieht außerdem bekloppt aus. Fliegen und Krawatten sind, so fand Ernesto, sprichwörtlich der Dip, der den Outfits das gewisse Etwas gab. Bunte, quergestreifte Fliegen und Krawatten adeln den Besitzer, wobei karierte Varianten ihn eher kleiner wirken lassen. Längsgestreifte hingegen wirken verlängernd für die Größe des Trägers. Natürlich gehören immer Lackschuhe zur Fliege oder Krawatte, damit der Träger auch zur vollen Geltung kommen kann. 

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Hausschuhe 

Wir wenden uns heute ernsthaften Problemen der heimeligen Gemütlichkeit zu. Die Hausschuhindustrie hat vierbeinige Haustiere überhaupt nicht bedacht. Das ist eine bodenlose Unverschämtheit! Wie viele Hunde, Katzen oder Schildkröten gibt es da draußen! Sollen die alle ohne Hausschuhe rumlaufen? Nur an Zweibeiner ist gedacht, aber welcher Vogel trägt schon Hausschuhe? Da wäre dringend Nachholbedarf angebracht. Die Vorstellung von Vögeln mit Pantoffeln ist schon ziemlich lustig. Mal ernsthaft: Kein Mensch denkt bei Vögeln an Hausschuhe. (Die Doppeldeutigkeit des Begriffes soll hier mal nicht für Flachwitze benutzt werden.) 

Um mal wieder ernsthafte Pfade zu beschreiten, sei angemerkt, dass die Menschheit ja zwar nicht in der Lage ist, die aktuelle Klimakrise zu bewältigen und eine lebenswerte Umwelt für sich und alle Lebewesen zu schaffen, aber andererseits in der Lage ist, sich auf jede erdenkliche Art umzubringen oder auszulöschen. So viel zum Thema Krone der Schöpfung. Ganz wichtig bei dem Thema sind eben auch Hausschuhe. Wer würde schon gerne ohne Hausschuhe vor die Tür gehen? Sofern diese noch da ist. 

Ich denke, wir haben echt wichtigere Probleme als Hausschuhe. Wenn wir tatsächlich die Krone der Schöpfung sind, was wir bestimmt zweifelsohne sind, dann sollte uns bald mal was einfallen zum Thema Klima und lebenswerte Umwelt für alle Lebewesen. Hugh! 

Zurück zum Thema Hausschuhe: Völlig trendbewusste Menschen haben das Barfußlaufen wieder für sich entdeckt. Ob mit oder ohne Trainingsanzug: Die Wahl der Schuhe ist auch hier Zeichen von Individualität. Den Hausschuhen als Ausdruck geistiger oder körperlicher Bequemlichkeit wäre also der Trainingsanzug gegenüberzustellen als Inbegriff der Sportlichkeit. Genauso das vielfach verkannte Muskelshirt, mit dem die Träger oft durch ihre besondere Athletik auffallen. Auch die vielfach gepriesene Adilette kombiniert mit weißen Tennissocken adelt den Träger. 

Ernesto ging dazu über, selbige jetzt häufiger zu tragen in Verbindung mit einem weißen Stirnband, was ihn als vermeintlichen Tennisprofi ausweisen sollte. Es war gar nicht so einfach, zwei Paar Adiletten in Ernestos Größe aufzutreiben. Nachdem er seinen Job als Gemüselieferant aufgegeben hatte, spielten Ernesto und ich häufiger mal am Nachmittag eine Partie Tennis, zumal die Sonne jetzt zum Sommer hin am Abend immer länger am Himmel stand. 

Die nichtige Bedeutung von Hausschuhen wird dann deutlich, wenn man mal das Haus verlässt. 

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Mein Kiez 

Mein Stadtteil, neudeutsch sagt man wohl Kiez, ist der Stadtteil, in dem mir alles bekannt ist – von der Lottobude bis zum Gemüsehändler. Der Kiez ist ein freiwilliges soziales Gefüge von unterschiedlichen Menschen. Er zeichnet sich aber dadurch aus, dass stets das Motto gilt: Leben und leben lassen. Außerdem zeichnet sich ein gut funktionierender Kietz durch gegenseitige Hilfe und Rücksichtnahme aus. Beispiele für bekannte Kieze sind sicherlich Hamburg, St. Pauli oder Berlin, Prenzlauer Berg und Mitte. 

Unser Kiez wurde also immer mehr zu unserer Heimat, obwohl er keinen tollen Namen hatte: Ellerbek. Der Gemüsehändler, Herr Ylmaz, hatte Ernesto seinen ersten Job verschafft. Ernestos Job als Kundenberater verlangte von ihm gutes Einfühlungsvermögen in die Belange und Bedürfnisse der Kunden. Oftmals stieß er auf nicht nachvollziehbare Probleme. So konnte Ernesto wenig machen bei Unverträglichkeiten von Kunden bezüglich verschiedener Gemüsesorten. Auch eine bestimmte Voreingenommenheit bezüglich des Gemüsehändlers war außerhalb von Ernestos Zuständigkeitsbereich. So war zum Beispiel Frau Schulz allergisch auf Gurke, da konnte Ernesto natürlich nichts machen. Er konnte nur empfehlen, keine Gurken mehr zu essen und stattdessen zum Beispiel Zucchini zu nehmen. Dass sie diese aber nicht mochte, war ja dann außerhalb von Ernestos Möglichkeiten. 

Sehr viel aufgeschlossener waren die Kunden an der Lottobude. Auch wenn diese vornehmlich an Flachmännern und Bierpullen interessiert waren, waren sie stets ein nettes und dankbares Publikum für Ernestos Geschichten. Mit großer Begeisterung wurde – wie bereits gesagt – Ernestos Umstieg auf sein bodennäheres Beförderungsmittel gefeiert. 

Den ganzen Tag an der Bierbude zu stehen, war Ernestos Sache nicht. Also zog er alsbald wieder von dannen. Es galt dann, den Kiez weiter zu erkunden. Vor allem Kinderspielplätze waren jetzt seine bevorzugten Aufenthaltsorte, da diese über Sandkästen und Hindernisse verfügten, über und durch die er spektakulär mit seinem Auto fahren konnte. Die Begeisterungsstürme der Umstehenden nahm er dabei mit Wohlwollen hin. Ein großes Problem stellten Bordsteine dar, deren Höhe von ihm oft unterschätzt wurde. Er stellte fest, dass auch andere Verkehrsteilnehmer über Bordsteine stolperten. Hoffentlich würden diese alsbald mal von den Verkehrsplanern berücksichtigt werden. 

Unser Kiez war und ist nicht der perfekteste, aber der schönste auf der Welt, weil es unser Kiez war. 

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Das ferngesteuerte Auto 

Die Drohne wurde von Ernesto für nicht so gut befunden, weil er doch Höhenangst hatte und irgendwo angeklebt zu sein, war doch ein doofes Gefühl. Da fühlte er sich schon auf einem ferngesteuerten Auto sicherer, zumal das von uns gewählte Modell über eine Ladefläche verfügte, auf der Ernesto sitzen konnte. Auf diese Weise konnte Ernesto nun seine nähere Umwelt entdecken. Längere Touren machten wir nach wie vor mit dem Liegerad, aber kurze Trips konnten auf diese Weise gut bewältigt werden. 

Die Nachbarschaft war von nun an nicht mehr sicher vor Ernesto. Erster Haltepunkt von Ernesto mit seinem neuen Gefährt war die Lottobude bei uns in der Straße. Unter lautem Gejohle der Anwesenden drehte Ernesto einige Runden, um sein neues Gefährt vorzuführen. Die Fernbedienung wurde durch einen Kipphebel ersetzt, mit dem er das Auto durch Bewegungen des Kopfes selber steuern konnte. Somit war auch meine Funktion an der Fernbedienung überflüssig. 

Ernestos zweiter Halt war der ansässige Gemüsehändler, der dann anmerkte, dass Ernesto ja das Gemüse für ihn ausfahren könnte. Aber der Transport langer Gemüsegurken stellte sich als relativ schwierig dar. Auch waren Treppen ein enormes Hindernis bei der Auslieferung von Gemüse mit dem Auto. Die Tatsache, dass die meisten Wohnungen in höheren Stockwerken lagen, machte es also für Ernesto unmöglich diese zu erreichen, um die Bewohner mit dem gewünschten Gemüse zu versorgen. Diese Schwierigkeiten führten dazu, dass Ernestos Karriere als Gemüseauslieferer schnell vorbei war, weil viele nicht an die Haustür kommen wollten, um ihre Bestellung in Empfang zu nehmen. 

Trotz der Hindernisse war der Gemüsehändler mit Ernestos Arbeit sehr zufrieden und stellte ihn als Kundenbetreuer ein. Als bloßer Gemüsehändler mochte sich Ernesto aber nicht sehen, da er stets mit Kunden ein Schwätzchen hielt und dieses von seinen Kunden auch sehr geschätzt wurde. Er war sozusagen der Radieschendoktor für die Nachbarschaft, weil seine Meinung stets von Interesse war und von allen hoch geschätzt wurde. 

Das Auto war Ernestos Weg in die Freiheit, weil er selber über links, rechts, vor und zurück bestimmen konnte und die Höhe auf dem Auto nicht mehr von Bedeutung war. Seine nun erworbene Selbstständigkeit als Gemüsequelle des Kiezes tat ihr übriges, um seine Laune stets hochzuhalten und ließ die Radieschen oberirdisch gedeihen. 

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Mein Joghurt 

Als ich morgens in die Küche kam und wie üblich meinen Kaffee trinken wollte, traute ich meinen Augen nicht. Der Joghurt , den ich tags zuvor in den Kühlschrank gestellt hatte, war ratzekahl aufgegessen. Meinen ersten Verdacht, dass wohl Ameisen den Joghurt gegessen haben müssten, wurde schnell widerlegt, da überall am Fußboden kleine Tapsen von Schildkrötenfüßen waren. Wären es Ameisen gewesen, wäre der ganze Ort von extremer Sauberkeit gezeichnet. So aber waren überall Tapsen von Joghurt. 

Ernesto hatte also meinen Joghurt aufgegessen. Mir war klar, dass er dies natürlich zunächst leugnen würde. Ich musste mir nun genau überlegen, wie ich ihn als Täter überführen konnte, einfache Indizien genügten nicht. 

Mein Versuch, weitere Hinweise für Ernestos Täterschaft zu finden, ließen mich zunächst zögern. Dann aber kam mir die geniale Idee für eine Falle. Ich stellte einen weiteren offenen Joghurt von mir ebenfalls in den Kühlschrank und wartete zwei, drei Tage ab. Dabei half mir meine, enorm im Wert gestiegene, Klopapier-Sammlung (Corona sei Dank), weil ich dann um den Joghurt mehrere Blätter Klopapier legte und hoffte, darauf Ernestos Fußabdrücke finden zu können und ihm diese als Beweis vorlegen zu können. 

Soweit mein theoretischer Plan. In der Praxis überführte sich Ernesto quasi selbst, da er nämlich 2 Tage später zugab, den Joghurt aufgegessen zu haben. Ich musste mich also nicht mehr auf die Lauer legen, um ihn zu überführen. Schade eigentlich. 

Wie oft Theorie und Praxis auseinanderklaffen, weiß ein jeder, der mal ein Auto repariert hat oder im Katasteramt gearbeitet hat. Theoretisch müssten die Dinge funktionieren, sei es beim Auto oder auf dem Amt. In der Praxis stellt sich oft heraus, dass die Dinge dann komplizierter oder glücksbehafteter sind, als einem lieb ist. Der Vergleich von Autoreparaturen und der Arbeit auf`m Amt ist sicherlich mit einiger Skepsis zu betrachten, jedoch stellt sich bei genauerem Hinsehen die Parallele heraus. In der Theorie müssten bestimmte zu errechnende Faktoren eine bestimmte Grundstücksgröße ergeben. In der Praxis zeigt sich aber, dass die Grundstücke dann kleiner sind als gedacht. Bezogen auf das Auto ließe sich sagen, dass das Auto nach der Reparatur theoretisch laufen sollte, tut dies in der Praxis aber nicht immer. 

Mein theoretischer Plan, Ernesto zu überführen, ging in der Praxis also nicht auf, da er selbst ein Geständnis ablegte. 

Die Quintessenz heißt also: Klopapier kann durchaus auch zweckentfremdet nützlich sein, nur schade, dass meine Klopapier-Sammlung jetzt umsonst dezimiert wurde. Drauf geschissen. 

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Putz 

Ernesto und ich saßen gerade gemütlich beim Frühstück auf unserem Balkon, als ein Stück Putz auf den Teller von Ernesto fiel. Wir fragten uns, wo der denn bitte herkam, da wir in der obersten Etage der Balkone waren und über uns nur Himmel. 

Als wir dann nach oben guckten, sahen wir den Grund dafür: Eine Schwalbe transportierte zum Bau ihres Nestes Putz durch die Luft und hatte offensichtlich ein Stück verloren. Warum die Schwalbe ausgerechnet Putz zum Bau ihres Nestes benutzte, war uns überhaupt nicht klar, konnten sie diesen doch nicht anrühren. Die Vorstellung von Schwalben und Betonmischern ging mir nicht in den Kopf. Ernesto merkte nur an, dass das bestimmt sehr hart und ungemütlich sein müsste und lehnte diese Vorstellung ab. Schließlich haben Schwalbenjungen ja auch ein Recht auf ein gemütliches Heim. Aber andererseits konnten wir uns auch nicht vorstellen, dass Schwalben Matratzen durch die Luft befördern. Man stelle sich vor, diese wären Ernesto auf den Kopf gefallen. Dann müssten wir täglich Bauhelme tragen, weil ständig die Gefahr bestünde, von Matratzen erschlagen zu werden. 

Aber jetzt fragten wir uns schon, wo denn der ganze Putz herkam, den die Schwalbe transportierte. Bei genauerer Betrachtung unserer Hausfassade stellten wir fest, dass diese Löcher aufwies und dass der Putz zu bröckeln begann. Da es sich nur um sehr kleine Stellen handelte, sah man diese erst bei genauerem Hinsehen. Offensichtlich wurden die ehemaligen Löcher zur Befestigung des Baugerüsts zur Anbringung der Balkone nicht ordnungsgemäß wieder zugemacht, sodass die Schwalbe rund um die Löcher den Putz entfernen und abtransportieren konnte. Durch die Tatsache, dass ich nur von in der Küche sitzend die Hausfassade anschauen konnte wegen meiner Höhenangst, verließ ich mich nur auf Ernestos Berichte über das Ausmaß des Schadens. 

Die Redewendung „auf den Putz hauen“ bekam plötzlich einen ganz neuen Kontext. Wenn man die Schwalben mal so beim Nestbau beobachtete, pickten sie eher als dass sie hauten, aber das Sprichwort heißt ja nicht „auf den Putz picken“, auch wenn das hier mehr Sinn machen würde. 

Ernesto und ich konnten also unser Frühstück jetzt beruhigt fortsetzen, ohne Angst haben zu müssen, von großen Putzteilen oder Matratzen getroffen zu werden. Kleine Putzstücke konnten uns zwar immer noch treffen, aber die waren weniger gefährlich. 

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Die neuen Mieter 

Nach Jahren des Leerstandes zog nun also besagte Familie ein. Wie gesagt hatte diese Familie zwei Kinder mit je einer Schildkröte namens Ernie und Bert. Aber im Unterschied zu uns waren diese Kinder und Schildkröten eher Leseratten, wie es sich herausstellte. Zu lesen lag uns ja nun völlig fern. Dazu unterhielten sich Ernesto und ich auch viel zu gern statt unsere Realität in Büchern abgedruckt zu finden. 

Dennoch verabredeten wir uns für den folgenden Freitag zu einem Spielnachmittag. Die beiden Jungs kamen mit ihren Schildkröten und ihren Eltern gegen Nachmittag zu uns. Nachdem wir gemeinsam Kaffee getrunken hatten, schlug Ernesto vor, ein Versteckspiel in unserer Wohnung zu spielen. Er erzählte so ganz nebenbei zur Belustigung der Umsitzenden, dass er sich in unserer Wohnung schonmal verlaufen hatte und dass er gegen die Wand im Flur gelaufen war, da er sich von dem Spiegel hatte täuschen lassen. Auch der Versuch, sich mithilfe von Piercings zu verschönern, stieß auf lautstarkes Gelächter. Das Eis war gebrochen und wir konnten mit dem Spiel beginnen. 

Ernie und Bert waren zunächst mit Verstecken dran. Das gab unseren Gästen auch die Gelegenheit, unsere Wohnung besser kennenzulernen. Ernie versteckte sich hinter dem Vorhang im Flur und wurde von uns relativ schnell entdeckt, weil doofer Weise seine Füße hinter dem Vorhang hervorlugten und ihn verrieten. Schwieriger war dann schon Bert versteckt. Er hatte sich in der Küche auf einen der Küchenstühle gesetzt, die unter den Tisch geschoben waren. Man konnte ihn also erst auf den zweiten Blick entdecken. Mit lautem Gejohle feierten die Schildkröten und Kinder ihre Entdeckung. 

Nun waren Ernesto und ich an der Reihe, uns zu verstecken. Ernestos anfängliche Idee, sich auf der Drohne zu verstecken, wurde schnell von ihm verworfen, weil er einsah, dass es mir unmöglich war, diese ruhig an einer Stelle in der Luft zu halten. Also mussten doch klassische Verstecke, unter dem Klodeckel und in der Duschwanne, herhalten. 

Alles in allem war es für alle ein lustiger und schöner Nachmittag und wir beschlossen, häufiger mal solche Nachmittage miteinander zu verbringen. Gott sei Dank wurde Ernesto noch kurz vor dem Gehen der Jungs unter dem Klodeckel gefunden, sodass einem neuen Abenteuer nichts im Weg stand. 

Ernesto war überglücklich, endlich Freunde der gleichen Art gefunden zu haben. 

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Der Spiegel 

Um meine Wohnung für den Besucher größer wirken zu lassen, machte ich mir einen Trick vieler Innenarchitekten zu Nutze. Ich hängte nämlich am Ende des Ganges gegenüber der Haustür einen Spiegel auf. Dadurch wirkte der Flur länger, als er wirklich war. Ernesto drohte sich fast darin zu verlaufen, so riesig war die erzielte Wirkung. Erst als er gegen die Wand unterhalb des Spiegels stieß, merkte er, dass er einer optischen Täuschung aufgesessen war und grinste. 

Die Länge des Flures war beträchtlich und wirkte schon ohne optische Täuschung groß. Auch die Helligkeit in dem Raum wurde durch das Aufhängen des Spiegels verbessert. Viele Gäste auf meiner letzten Party waren beeindruckt von der Wirkung. Häufig genug wirkt ein so langer Raum aber auf viele Gäste auch abschreckend. Erst wenn sie die Bewohner kennenlernen und die Wohnung zur Gänze, relativiert sich ihre Befangenheit bezogen auf den langen Flur. Oft genug sind nämlich Menschen und Schildkröten verwirrt und sind einem Trugschluss aufgesessen, von dem, was sie da im Spiegel sehen. Oft genug passen nämlich die eigenen Vorstellungen nicht zu den tatsächlichen Gegebenheiten und sie laufen dann Gefahr, den Vorstellungen mehr Glauben zu schenken als der realen Begebenheit. 

Bezogen auf meinen Flur heißt das, dass man sich nicht von der bloßen Länge des Flures beziehungsweise der Täuschung in die Irre führen lassen darf. Bezogen auf die Realität heißt das, dass einem häufig was anderes vorgemacht wird als wirklich da ist. Aus der Sicht einer Schildkröte heißt das, wenn Tomate und Salat nur vorgespiegelt werden, dann läuft sie Gefahr, ins Leere zu beißen. Bezogen auf das menschliche Dasein heißt das, dass man sich nicht täuschen lassen sollte, was einem da so vorgegaukelt wird. Häufig entspricht es nicht den Tatsachen, sondern eher Wunschdenken. Oft ist es dann schwer, Wunschdenken und Realität zusammenzubringen. Eben deswegen sollten man regelmäßig auch sein Selbstbild hinterfragen. 

Ernestos und meine Realität war das Dachgeschoss unseres Mietshauses, in das zog gerade eine neue Familie ein. Diese Familie hatte zwei Kinder. Wie schnell wir sie kennenlernen sollten, war uns zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar. Die beiden Kinder hatten ebenfalls Schildkröten, nämlich genau zwei. Ernesto und ich waren schon ganz aufgeregt, sie kennenzulernen. Ob man sich wohl zu gemeinsamen Spielnachmittagen verabreden könnte oder ob die beiden Schildkröten oder die beiden Kinder eher Bücherratten waren? Fragen über Fragen… 

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Das Kaninchen und die Schlange 

Wie jedes Wochenende nahmen Ernesto und ich unser Frühstück gemeinsam ein und unterhielten uns über die Geschehnisse der Woche. Dabei stellten wir fest, dass einem so mancher Konflikt das Dasein als Mensch schwer macht. Da hat man nicht mehr das Gefühl, zu dieser Spezies zu gehören. Die Art des Umgangs mit Konflikten – hat man das Gefühl – gehören dann eher ins Tierreich. Oft genug kommt man sich vor wie das Kaninchen vor der Schlange – unfähig zu handeln – wir vergessen viel zu oft die eigenen Möglichkeiten. 

Das wäre schon doof, als Mensch nur auf seine Instinkte zurückgeworfen zu werden. Das Handeln nur aus den Urinstinkten heraus wäre relativ kurzlebig, weil der Sozialdarwinismus bei uns Menschen kaum was verloren hat, auch wenn viele das nicht glauben mögen. 

Menschen können nämlich im Gegensatz zu Tieren sehr wohl ihre Handlungen bedenken, leider tun sie das aber zu wenig. Es lohnt sich also bei Problemen wie der Klimakatastrophe, seinen menschlichen Verstand zu benutzen. 

Bezogen auf die aktuellen Konflikte in der Welt bleibt einem nur zu sagen, dass man sie natürlich nicht alle lösen kann, aber dass man in seinem Rahmen alles dafür tun kann, sie zu minimieren. Das hieß zum Beispiel bezogen auf die eigene Person, dass man um umweltbewusstes Verhalten bemüht sein sollte und auch mal auf eine Autofahrt oder auf Fleisch verzichtet. 

Apropos Klimakatastrophe, das Duschwasser heute Morgen war viel zu heiß und Ernesto musste über mein Gejammer grinsen. Das nennt man wohl Luxusproblem. Dennoch kann ich mir eine schöne, warme Dusche – trotz Klimakrise – nicht verkneifen. Erfindungen, wie ich neulich im Werbefernsehen sah, erfreuten mein Gemüt, da ich weiterhin so warm duschen konnte. Die Erfindung erhitzt mithilfe des alten Duschwassers das neue Wasser wieder, sodass dann mit weniger Energie geduscht werden kann. 

Nachdem ich mich abgetrocknet hatte und in meine Lieblingsjogginghose geschlüpft war, fiel mir auf, dass es schon nachmittags war, wir also das Mittagessen versäumt hatten. Das musste dringend nachgeholt werden. Tomate und Salat sollte es sein, da es klimaneutral war und wir es beide mochten. 

Mein Leben als Kaninchen darf nicht von der Angst vor der Schlange bestimmt werden und Schlangen gibt es heutzutage mehr als genug. 

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Die Regenrinne 

Des Nachts wunderte ich mich in letzter Zeit immer über ein lautes Tropfen in der Nähe meines Fensters. Die Wasserhähne waren alle dicht, diese konnten es also nicht sein. Nachdem wir sie somit ausgeschlossen hatten, genügte ein genauerer Blick in die Regenrinne, die mit Laub verstopft war. Die Frage, wie das Laub hier hochkam, war obsolet. Die große Frage war jetzt: Wie bekamen wir das Laub jetzt heraus und vom Dach herunter? Meine Höhenangst sprach ja dagegen, auf`s Dach zu klettern und die Verstopfung selber zu beheben. 

Also sagten wir der Hausverwaltung Bescheid, dass die Regenrinne verstopft sei. Diese sollte sich dann darum kümmern. Die beauftragte Firma schickte zwei Mitarbeiter vorbei, die die Regenrinne reinigen sollten. Die Mitarbeiter wollten mit Hilfe eines Hubwagens auf die Höhe der Regenrinne kommen und dann mit geeignetem Werkzeug diese freistochern. Soweit der Plan. 

Leider stoppte der Hubwagen in der Höhe des zweiten Stocks und ließ sich keinen Millimeter mehr weiterbewegen, sodass die Mitarbeiter in dem Hubkasten festhingen. Jegliche Versuche, diesen irgendwie zu bewegen, blieben bei dem bloßen Versuch, sodass erst nach drei Tagen die Mitarbeiter der Firma von der ortsansässigen Feuerwehr gerettet wurden. Die eingesetzte Drehleiter musste aber erst aus dem nächstgrößeren Ort herangeschafft werden. 

Überraschend kam der Einsatz von Ernestos Drohne. Diese konnte zur Versorgung der Mitarbeiter der Firma, die mit der Reinigung beauftragt war, eingesetzt werden. Ernesto war stolz wie Oskar, sich und seine Drohne so nützlich einsetzen zu können. Außerdem war er direkt vor Ort, da er ja – angeklebt an die Drohne – alles genau und live miterleben konnte. Für Ernesto kam das Erlebnis der Rettung einer Erweckung gleich, da er jetzt seine Zukunft bei der freiwilligen Feuerwehr sah. Endlich gab es für ihn und seine Drohne eine sinnvolle Zukunft. Letztendlich erkannte Ernesto außerdem die Chance, mit Hilfe der Drohne einen Markt für sich zu entdecken, der in der Reinigung von Regenrinnen lag. Er wurde so gelegentlich von der Nachbarschaft dafür beauftragt und auch die Feuerwehr verlangte gelegentlich seine Dienste. 

Regenrinnen bestimmen ja generell das Antlitz eines Hauses. Wie charakterbildend sie für eine Fassade sind, bleibt dem Besitzer bzw. dem Betrachter selber überlassen. Unsere Regenrinne gibt unserem Haus die gewisse Note.