Der Spiegel
Juhu! Endlich können wir als Fußgänger sicher über den Fußweg vor unserem Haus stolzieren. Die Stadt hat den Spiegel genehmigt, sogleich – also Monate später – mit dessen Anbringung begonnen. Jetzt konnte ich mich mit Funkgerät bewaffnet auf die Lauer legen und zusammen mit Herrn Müller gefährliche Radfahrer aus dem Verkehr ziehen, da wir sie ja bereits aus der Ferne entdecken konnten. Viele zeigten sich jedoch immer noch uneinsichtig, wenn ich sie in meiner gewohnt freundlichen Art daraufhin ansprach. Dabei handelte ich doch auch in ihrem Interesse. Wollten sie das nicht sehen? Kein Radfahrer hätte gerne einen Fußgänger aufgegabelt, aber die Einsicht war auch in diesem Fall wie so oft Glücksache. Lotto spielen wollte keiner der von mir angesprochenen Radfahrer. Diesen von mir gemachten Witz verstanden sie nicht. Man muss halt, so merkte ich bald, die Witze stets auf das Niveau der Adressaten anpassen, sonst muss man viel zu oft alleine lachen.
Den mahnenden Zeigefinger, den ich gegenüber den Radfahrern ob ihrer Fahrweise erheben müsste, spare ich mir jetzt mal. Aber trotzdem geht diese Fahrweise gar nicht mehr. Fußweg und Straße gehören euch nicht alleine! Das haben schon viele geglaubt und wurden eines Besseren belehrt. Fahrt endlich vernünftig, Regeln sind für alle da und nicht nur an Sonntagen!
Der Spiegel gab außerdem einen hervorragenden Blick für mich aus meinem Küchenfenster in unseren Hauseingang, sodass ich immer sehen konnte, wer vor der Tür stand und klingelte. Ungebetene Besucher konnten so von mir mit Missachtung gestraft werden, die Tür blieb zu! Auch hatte ich so einen guten Überblick über die gesamte Fluktuation in unserem Haus. Man muss halt stets auf der Hut sein, um nicht Opfer von Bösewichten zu werden. Was Bösewichte sind, muss ja jeder für sich entscheiden. Menschen, die Unlauteres mit anderen vorhaben, sind von mir damit vor allem gemeint. Die gute Nase von Waltraut, um Bösewichte erkennen zu können, hat ja nunmal leider nicht jeder.
Die guten Gerüche der Damenwelt, die von ihr in unserem Treppenhaus hinterlassen wurden, verflogen häufig viel zu schnell, als dass diese Anlass für Fantasien geben könnten. Waltrauts feine Nase brauchte man bei diesen Gerüchen wahrlich nicht.
Innerhalb des Treppenhauses half der Spiegel weniger, da musste man sich auf sein Gespür verlassen. Ich konnte mich auf mein Gespür und die Nase von Waltraut verlassen.
Ach, wären doch alle Menschen wie Waltraut!