Der Spiegel 

Um meine Wohnung für den Besucher größer wirken zu lassen, machte ich mir einen Trick vieler Innenarchitekten zu Nutze. Ich hängte nämlich am Ende des Ganges gegenüber der Haustür einen Spiegel auf. Dadurch wirkte der Flur länger, als er wirklich war. Ernesto drohte sich fast darin zu verlaufen, so riesig war die erzielte Wirkung. Erst als er gegen die Wand unterhalb des Spiegels stieß, merkte er, dass er einer optischen Täuschung aufgesessen war und grinste. 

Die Länge des Flures war beträchtlich und wirkte schon ohne optische Täuschung groß. Auch die Helligkeit in dem Raum wurde durch das Aufhängen des Spiegels verbessert. Viele Gäste auf meiner letzten Party waren beeindruckt von der Wirkung. Häufig genug wirkt ein so langer Raum aber auf viele Gäste auch abschreckend. Erst wenn sie die Bewohner kennenlernen und die Wohnung zur Gänze, relativiert sich ihre Befangenheit bezogen auf den langen Flur. Oft genug sind nämlich Menschen und Schildkröten verwirrt und sind einem Trugschluss aufgesessen, von dem, was sie da im Spiegel sehen. Oft genug passen nämlich die eigenen Vorstellungen nicht zu den tatsächlichen Gegebenheiten und sie laufen dann Gefahr, den Vorstellungen mehr Glauben zu schenken als der realen Begebenheit. 

Bezogen auf meinen Flur heißt das, dass man sich nicht von der bloßen Länge des Flures beziehungsweise der Täuschung in die Irre führen lassen darf. Bezogen auf die Realität heißt das, dass einem häufig was anderes vorgemacht wird als wirklich da ist. Aus der Sicht einer Schildkröte heißt das, wenn Tomate und Salat nur vorgespiegelt werden, dann läuft sie Gefahr, ins Leere zu beißen. Bezogen auf das menschliche Dasein heißt das, dass man sich nicht täuschen lassen sollte, was einem da so vorgegaukelt wird. Häufig entspricht es nicht den Tatsachen, sondern eher Wunschdenken. Oft ist es dann schwer, Wunschdenken und Realität zusammenzubringen. Eben deswegen sollten man regelmäßig auch sein Selbstbild hinterfragen. 

Ernestos und meine Realität war das Dachgeschoss unseres Mietshauses, in das zog gerade eine neue Familie ein. Diese Familie hatte zwei Kinder. Wie schnell wir sie kennenlernen sollten, war uns zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar. Die beiden Kinder hatten ebenfalls Schildkröten, nämlich genau zwei. Ernesto und ich waren schon ganz aufgeregt, sie kennenzulernen. Ob man sich wohl zu gemeinsamen Spielnachmittagen verabreden könnte oder ob die beiden Schildkröten oder die beiden Kinder eher Bücherratten waren? Fragen über Fragen… 

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